Ein opulentes Werk hat das Herausgeberteam um Bernd Roeck abgeliefert. Fast möchte man beim ersten Blättern verzückt von den vielen, hochwertigen Abbildungen und den mehrfach ausklappbaren Bildseiten meinen, es handle sich um ein zu schwer gewordenes coffee table book. Doch weit gefehlt. Schon im Vorwort wird die Vielschichtigkeit frühneuzeitlicher und moderner Städtebilder betont. Keine eindeutigen oder vereindeutigenden Lesarten werden hier vorgeführt, vielmehr soll das Kompendium ein vergleichendes Sehen der Städte, ihrer Entwicklung und ihrer sich wandelnden Darstellungen durch die Zeiten ermöglichen, weitere Forschungen befördern und zu „Gedankenreisen“ (S. 7) anregen.
Die unterschiedlichen Ziele spiegeln sich in der Gliederung des Bandes: Die neun Aufsätze zu Beginn führen inhaltlich sowie theoretisch-methodisch in die Thematik ein. Sie erfordern ein gut ausgestattetes Bildgedächtnis sowie die zumindest rudimentäre Kenntnis frühneuzeitlicher Kunst- und (post-)moderner Bildtheorien. Es folgen 68 „Stadtikonographien“ von Aarau bis Zürich, die den weitaus größten Teil des Buches einnehmen. Ein knapp vierzigseitiger Anhang liefert Namen- und Ortsverzeichnisse, bibliographische Hinweise sowie biographische Angaben zu den Autor/innen, Bildnachweise und die Donatorenliste.
Bernd Roeck (S. 17–36) erläutert die stadtgeschichtlichen wie ästhetisch-theoretischen Bedingungen für die Entwicklung der Stadtdarstellung zur eigenständigen Bildgattung seit dem 15. Jahrhundert.1 Er konstatiert einen „Boom der Stadtvedute“ (S. 19) seit dem 16. und 17. Jahrhundert, in dem immer neue Perspektiven und Techniken angewandt werden. Bilder sind dabei nicht nur Repräsentationen der Städte, sondern zugleich „Faktoren der Produktion innerstädtischer Räume und Raumgefüge“ und damit Teil des frühneuzeitlichen Diskurses über Staatlichkeit S. (20). Zugleich werden in den Darstellungen jeweils auch Materialität und Medialität des Bildes bzw. seine Bildhaftigkeit reflektiert. Ein weiterer Punkt in Roecks tour d'horizon ist der Vergleich mit außereuropäischen Kulturen und die Frage nach Kulturtransfers, wobei er die Außergewöhnlichkeit der europäischen Städtelandschaft und ihrer Darstellungen betont. Zuletzt thematisiert Roeck die Stadtbilder als Kunstwerke, in denen die Mimesis hinter den Akt der künstlerischen Erfindung zurücktritt. Sie fordern den Betrachter und seine Imagination auf eine neue Weise.
Regula Schmid (S. 37–49) und Bruno Weber (S. 51–68) bieten einen Überblick über die schweizerischen Städtebilder des 15. –18. Jahrhunderts, ausgehend von ihren Überlieferungszusammenhängen in Historiographie und topographischen Sammelwerken. Schmid rückt die Frage nach den Funktionen der Stadtdarstellungen innerhalb der städtischen Chronikhandschriften (15./16. Jahrhundert) in den Mittelpunkt und untersucht die einseitige Beeinflussung der Stadtdarstellungen in den Manuskripten durch jene in historiographischen Druckwerken.2 Weber stellt die 1642 erschienene Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae Matthäus Merians sowie David Herrlibergers Neue und vollständige Topographie der Eydgenoßschaft von 1754–77 vor. Ging es Merian darum, rückschauend zu dokumentieren und zu bewahren, so versuchte Herrliberger „für kommende Generationen die gegenwärtige Zeit zu bezeugen“ (S. 57). Die unterschiedliche Zielsetzung führt entsprechend zu verschiedenen Gewichtungen bei der Darstellung, wie Weber vergleichend an einigen Beispielen aufzeigt.
Lutz Philipp Günther ergänzt den historischen Überblick über schweizerische Stadtbildbestände mit Beispielen aus der Gegenwart. Er fragt nach „Stadtdarstellungen des 20./21. Jahrhunderts in Schweizer Städte-Websites“ (S. 133–142) und untersucht Strategien des Stadtmarketings sowie der Identitätsstiftung und die Bezüge zu den traditionellen Ikonographien.
Von Interessen der neueren Kulturgeschichte geleitet sind die Beiträge von Lucas Burkart (S. 69–83) und Martina Stercken (S. 85–95). Burkart fragt nach den „Diskursen […], die den Materialien angelagert waren“ (S. 69). Er informiert dafür zunächst über die ambivalenten, das Verhältnis von Material und Form betreffenden Theorien des Mittelalters und der Renaissance. Dass „das ‚wahre‘ Bild der Stadt auch immer aus den für ihre Darstellung verwendeten Materialien“ (S. 73) besteht – ohne dass die Kontexte in der Interpretation vernachlässigt werden dürfen –, zeigt Burkart an Beispielen aus dem 6.–18. Jahrhundert. Er plädiert für eine Rekonstruktion der „Semantik der Materialien“ (S. 81), die die Medialität des Materials in den Fokus rückt. Mit einem weiteren Aspekt von Medialität, dem Schrift-Bild-Verhältnis, beschäftigt sich Stercken. Im Mittelalter ist dies zunächst die Kombination von Stadtabbreviaturen und Schriftzügen, die Stadtnamen, Stadtheilige etc. bezeichnen können. Seit dem 15. Jahrhundert sind „Experimente“ (S. 86ff.) mit dem Einsatz von Schrift für Stadtdarstellungen zu beobachten: Systematisch werden der Nutzen und die Wirkung von Ein-, Um- und Überschreibungen, der Verschränkung von Text- und Bildraum, von Vignetten und Textfeldern, von Schriftbändern, Titeln und Unterschriften sowie von Legenden erprobt, damit Deutungsangebote und Zusatzinformationen transportiert werden können. Wichtig für die Stadtbilder wird vor allem ihre Kombination mit Texttafeln, in die Städtelob, Widmungen und historiographische Texte inseriert werden. Durch Schrift im Bild werden der realistisch oder idealistisch abgebildeten Stadt zusätzliche zeitliche Schichten und andere Perspektiven eingeschrieben.
Sylvain Malfroy (S. 97–132) diskutiert zunächst Fragen des Umgangs mit den in der Schweiz zur Verfügung stehenden Bildmassen sowie theoretische Überlegungen zum Motiv „Stadt“ in der Photographie und dem Status von Photographien als Quellen.3 Auf dieser klassifikatorischen Basis analysiert er an Beispielen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert die verschiedenen Techniken und Ziele schweizerischer Stadtphotographie, die zwischen der Darstellung der „réalité matérielle“ und der „réalité idéelle“ (S. 97) oszillieren.
François Walter (S. 143–149) empfiehlt die sorgfältige Reflexion der Maßstäbe, wolle man die „chorographie élémentaire de l'espace helvétique“ (S. 143) angemessen erfassen. Anders als das übrige Europa ist die Schweiz bis ins 19. Jahrhundert ein „archipel urbain“ (S. 143). Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts steigen die Einwohnerzahlen der Städte stark an, wobei die großen Städte schneller wachsen als die kleinen.4 Die Silhouette aller Städte wird von ihren mittelalterlichen Umfassungen bestimmt. Lediglich nach Feuersbrünsten greifen umfängliche Stadtplanungen. Erst nach 1830 lösen sich die alten Stadtgrenzen langsam auf. Je mehr sich die Städte im 19. Jahrhundert jedoch ausdehnen, desto mehr konzentrieren sich die Darstellungen auf das Emblematische.
Am Ende des Aufsatzteils bietet Bernd Roeck (S. 151–172) eine Zusammenfassung seines eigenen Artikels und der sieben auf einzelne Probleme und Quellen fokussierten Texte. Zugleich leitet er mit zahlreichen Bezugnahmen zu den Einzelbeiträgen über.
Die Stadtportraits (S. 175–617) können hier aus Platzgründen nicht einzeln gewürdigt werden. Sie sind nicht so disparat, wie bei mehreren Dutzend Autor/innen und höchst unterschiedlicher Forschungs- und Quellenlage zu erwarten wäre: In Bezug auf Bildausstattung, Inhalte und Umfang ergeben sie ein kohärentes Bild, wofür den Redakteur/innen Julia Burckhardt Bild, Élodie Le Comte und Thomas Manetsch zu danken ist. Die Artikel umfassen in der Regel fünf bis acht Seiten und folgen einem Schema, das Informationen zur Stadtgeschichte und oft auch zur Lage, allenfalls einen Überblick über erhaltene und verlorene Darstellungen sowie die Besprechung ausgesuchter Bilder in chronologischer Folge umfasst, wobei Stadtgeschichtliches und Kunstgeschichtliches meist intelligent verknüpft wird.
Nicht sehr übersichtlich ist die Sprachpolitik des Bandes, der dreisprachige Titel führt in die Irre. Zwar wird das Vorwort dreisprachig abgedruckt, die premessa Cesare de Setas, die das schweizerische Projekt institutionell5 und die Stadtbildthematik (kunst-)historisch in den europäischen Kontext einordnet, aber nur italienisch; von den neun einführenden Texten sind sieben auf Deutsch und zwei auf Französisch verfasst – leider gibt es keine Kurzzusammenfassungen in den jeweils anderen Landessprachen. Hilfreich, doch leider im hinteren Einband versteckt ist eine Karte, die die alphabetische Ordnung der Beiträge auflöst und damit Beziehungen und Vergleichsmöglichkeiten „in der Fläche“ eröffnet.
Mit den „Schweizer Städtebildern“ haben interessierte Laien, Studierende und Forschende eine reiche Materialsammlung zur Hand, die – wie intendiert – zum Blättern, Vergleichen und Weiterfragen anregt. Zugleich ist das Buch ein schwerwiegendes Plädoyer für Großprojekte, die in einem europäischen oder globalen Kontext gedacht, aber auf regionaler oder nationaler Ebene durchgeführt werden.
Anmerkungen:
1 Vgl. Wolfgang Behringer / Bernd Roeck (Hrsg.), Das Bild der Stadt in der Neuzeit. 1400–1800, München 1999; Bernd Roeck (Hrsg.), Stadtbilder der Neuzeit, Ostfildern 2006.
2 Vgl. Regula Schmid Keeling, Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter, Zürich 2009.
3 In einer Grafik (100) fasst Malfroy seine durchaus variablen Grenzziehungen anschaulich zusammen.
4 Walter konzentriert sich auf das Ancien Régime, für die Stadtlandschaft des Mittelalters verweist er auf Martina Stercken, Städte der Herrschaft. Kleinstadtgenese im habsburgischen Herrschaftsraum des 13. und 14. Jahrhunderts, Köln 2006.
5 Unter der Leitung von Cesare di Seta läuft seit 1982 das Projekt Atlas de la ville européenne, ausgehend von der Maison des sciences de l'homme (Paris).