D. de Boer u.a. (Hrsg.): Devotio Moderna

Cover
Titel
Die Devotio Moderna. Sozialer und kultureller Transfer (1350–1580), Band 1: Frömmigkeit, Unterricht und Moral. Einheit und Vielfalt der Devotio Moderna an den Schnittstellen von Kirche und Gesellschaft, vor allem in der deutsch-niederländischen Grenzregion


Herausgeber
Boer, Dick E. H. de; Kwiatkowski, Iris
Erschienen
Münster 2013: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
207 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Unter einem eingängigen Haupt- und einem ausgesprochen unhandlichen Untertitel versammelt der anzuzeigende Band Ergebnisse eines von den Universitäten Groningen, Bochum und Duisburg-Essen sowie dem Provinzialarchiv Gelderland gemeinsam über mehrere Jahre durchgeführten Forschungsprojekts, die in den Jahren 2009 und 2010 auf zwei Tagungen in Arnheim und Bochum diskutiert worden sind. Wie aus dem sehr knappen Vorwort zu erfahren ist, stand im Mittelpunkt des Interesses zunächst die Rolle, die das Gedankengut der Devotio Moderna bei der Herausbildung sozialer, ethischer und moralischer Normen und Werte spielte. Ein zweiter, zeitgleich erschienener Sammelband befasst sich ergänzend mit der räumlichen und geistigen Ausstrahlung der Devotio Moderna.1

Mitherausgeber Dick de Boer – mit dem Rezensenten übrigens nur zufällig durch den gleichen Nachnamen verbunden – eröffnet den leider ohne ein Register daherkommenden Band mit einem auf Niederländisch verfassten Überblick über Entwicklungen in der jüngeren Forschung zur Devotio Moderna. Als zentrale Themenfelder erweisen sich neben der regionalen Verbreitung das Verhältnis zu anderen religiösen Reformbewegungen sowie zum nordeuropäischen Humanismus, die kommunikative und institutionelle Rolle von Predigt, Kollation und religiöser Dichtung für die Bewegung, die Bedeutung einzelner Klöster sowie schließlich die eingehendere Untersuchung solcher Akteure, deren Leben und Werk bisher eher beiläufig behandelt worden ist. Durch dieses von de Boer präzise entworfene Forschungspanorama werden nicht nur die folgenden Beiträge des Bandes in größere Forschungstendenzen eingeordnet; zugleich werden künftigen Arbeiten Bezugspunkte geboten, von denen aus es sich lohnen dürfte weiterzudenken.

Dem Selbstverständnis der Devotio Moderna widmet sich Nikolaus Staubach. Er geht aus von der Beobachtung, dass diese Bewegung sich zwar ebenfalls dem verbreiteten spätmittelalterlichen Ideal einer Reform verschrieb, anders als bei länger bestehenden Orden jedoch nicht von vornherein klar war, welcher Zustand als vorbildlich für die Reformbemühungen zu gelten habe. Die Devoten orientierten sich an verschiedenen imaginierten Idealzuständen: Neben der frühen Kirche war dies beispielsweise die Missionstätigkeit Willibrods, des Gründers des Utrechter Bistums, dem etwa Geert Grote durch eine Neuevangelisation nachzueifern gedachte. Orientierte man sich hingegen am von Windesheim ausgehenden Klosterverband, wurde die Frömmigkeit der Devoten in den Kontext einer Reform des Kanonikerordens eingeordnet. Zur Herausforderung für die Bewegung und ihr zunächst unterschiedslos auf alle Christen gerichtetes Reformprogramm wurde Staubach zufolge zunächst dessen Institutionalisierung in stabilen Gemeinschaften und in noch höherem Maße die Errichtung von Windesheim und seinem Klosterverband, da dadurch die Scheidungen zwischen Laien und Klerikern sowie zwischen Semireligiosen und Regularkanonikern in die Lebenswirklichkeit der Devoten mit aller Macht zurückkehrte. Im zweiten Teil seines Aufsatzes zeigt Staubach, wie sich Peter Dieburg, der das Leben der Semireligiosen rühmte, Dirc van Herxen, der Semireligiose und Religiose gegen die verbreitete antiklerikale Kritik verteidigte, und Johannes Pupper von Goch, der die vita communis des gewöhnlichen Christenmenschen gegen das Standesbewusstsein der Ordensleute ausspielte, an den überkommenen Weisen, die Welt einzuteilen, mit unterschiedlichen Intentionen theologisch abarbeiteten. Die Spannung zwischen dem Streben nach einer universalen Erneuerung des religiösen Lebens und der Suche nach spezifischen Lebensformen für die religiösen Virtuosen hätte die Devotio Moderna jedoch nicht aufzulösen vermocht.

In einem materialreichen, im positiven Sinne kleinteiligen Aufsatz spürt Rita Schlusemann der Verbreitung von der Devotio Moderna zuzurechnenden volkssprachlichen Schriften im Sprachraum zwischen der Ijssel und Ostwestfalen nach. Als Beispiele wählt sie neben den Kollationen des Johannes Brinckerinck unter anderem die von Geert Groote selbst zusammengestellte Liste empfohlener Bücher Conclusa et propositio non vota, De libris teutonicalibus, eine von Gerard Zerbold von Zutphen angelegte Zusammenstellung solcher Bücher, die für Laien ungeeignet waren, sowie die im Untersuchungsgebiet im lateinischen Original wie in niederländischen und mittelniederdeutschen Übersetzungen verbreiteten Collationes des Johannes Cassianus. Die dichten Rezeptionsnetze und die zahlreichen Übersetzungen von der Gelehrten- in die Volkssprache sowie von einer Volkssprache in die andere zeigen eindrucksvoll, wie eng die sprachlichen und kommunikativen Beziehungen auch über die niederländisch-deutschen Sprachgrenzen hinweg waren, so dass – ungeachtet moderner nationalstaatlicher Grenzen und der lange von ihnen abhängigen Forschungstraditionen – von einem verdichteten, von den Texten und Vorstellungen der Devoten geprägten Kommunikationsraum auszugehen ist.

Nicht zuletzt mit Blick auf die universitäre Lehre sehr verdienstlich ist es, dass Iris Kwiatkowski ihrer Auswertung des kleinen Traktats De modo agendi processiones sanctorumque veneratione, den Dionysius der Kartäuser auf Bitten eines städtischen Amtsträgers namens Amandus verfasst hat, eine Übersetzung des Textes beigegeben hat. Dionysius Ryckel war einer der produktivsten Theologen des Spätmittelalters, der bei seinen Zeitgenossen im Unterschied zur modernen Forschung großes Ansehen genoss. Neben seinen außerordentlich umfangreichen, an der Scholastik des 13. Jahrhunderts orientierten Kommentaren zu den Kirchenvätern, den Büchern der Bibel und den Sentenzen verfasste Dionysius zahlreiche kleinere Schriften mit Ratschlägen und Mahnungen zum religiösen Leben. So nahm er sich auch der Zweifel des Amtmannes Amandus an, den die am Rande von Reliquienprozessionen zu beobachtenden Ausschweifungen beunruhigten. Dionysius begnügte sich nicht mit den üblichen moralischen Ermahnungen gegen Trinkerei, Unzucht und hemmungsloses Geschäftemachen, sondern nahm die Gelegenheit zum Anlass, um unter Verweis auf Thomas von Aquin das rechte Maß in der Reliquienverehrung zu bestimmen: Weder dürfe man ihnen die Verehrung verweigern, noch dürfe man abergläubisch ihnen im Gottesdienst übersteigertes Gewicht beimessen. Wie schon andere Forscher vor ihr zeigt sich Kwiatkowski zwar beeindruckt von der Belesenheit des Kartäusers, tadelt jedoch die mangelnde intellektuelle Durchdringung des versammelten Materials. Immerhin verrieten seine Textauswahl und die argumentative Funktionalisierung der Autoritäten Überzeugungen vom geistlichen Leben und der religiösen Praxis, die denjenigen der Devotio Moderna nahestünden. Der Traktat selbst bestätigt den Befund, dass Dionysius – wie auch in seinen anderen Texten – zuallererst ein Meister darin war, situativ passende Autoritäten aus Bibel, Patristik und Hochscholastik auszuwählen und zu arrangieren; dabei versteht er es jedoch, seine Gelehrsamkeit auf aktuelle Fragen des religiösen Lebens anzuwenden und wird damit ein kommunikativer Mittler zwischen scholastischer Gelehrsamkeit und spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegungen.

Mit der Persuasio de cappata religione non ineunda ante puberes annos des Arnold Heymerick untersucht Dieter Scheler einen Brieftraktat, mit dem der Xantener Domdekan im Jahre 1477 seinen Neffen Johannes Sluter davon abbringen wollte, überstürzt bei den Dominikanerobservanten einzutreten. Es ist außerordentlich begrüßenswert, dass Scheler die Gelegenheit genutzt hat, um eine Edition des bislang nur in Auszügen zugänglichen Traktats anhand einer Handschrift des Xantener Stiftsarchivs im Anhang seines Beitrags zu edieren. Zunächst überraschend ist die Entscheidung, die Interpunktion nicht zu modernisieren, sondern Arnolds charakteristische Leseinterpunktion beizubehalten. Tatsächlich bewährt sich dieses Vorgehen, wenn man, wie von Scheler angeraten, den Text halblaut liest (und sich nicht um die irritierten Blicke der übrigen Bibliotheksbenutzer schert). Arnold Heymerick war kein Freund der Bettelorden. Plastisch hält er dem Leser deren hartes Leben vor Augen. Betteln findet er unmännlich. Vor allem aber garantiere ein derartiges Leben keinesfalls den Eingang in die ewige Seligkeit. Ohne die passende innere Haltung sei das Leben der Bettelmönche nichts als Aberglauben. Kronzeuge für diese These ist interessanterweise Cicero, den Arnold ebenso wie Seneca mit Vorliebe zitiert. Als positives Gegenbild werden dem Neffen neben den Kartäusern besonders die Windesheimer Regularkanoniker und die Fraterherren anempfohlen, doch auch ein Leben als Weltgeistlicher, der sich an die breit ausgeführten philosophischen Lebensmaximen hält, erscheint dem Xantener Dekan lobenswert. Dass Arnold den vorbildlichen, Bescheidenheit und wahre, nicht veräußerlichte Frömmigkeit verbindenden Lebenswandel der Windesheimer und der Fraterherren überschwänglich lobt, ist dabei, wie Scheler hervorhebt, auf den ersten Blick insofern überraschend, als er selbst eher als Vertreter jener alten Frömmigkeit zu gelten hat, die die Devotio Moderna beständig kritisierte. Nicht nur häufte er zahlreiche Pfründen an, auch neigte er etwa bei feierlichen Prozessionen mit dem Schrein des Heiligen Viktor zu großer Prachtentfaltung, die durchaus zu jenen Formen veräußerlichter Frömmigkeit gezählt werden konnte, die er selbst in seinem Traktat kritisierte. Arnold ist insofern ein Beleg für die enorme Wirkung der Devotio Moderna, die großflächig Bewunderung hervorrief, jedoch nicht all ihre Bewunderer dazu brachte, ihren Lebenswandel ihren Idealen gemäß zu reformieren.

Bertjaap van der Ploeg widmet sich in seinem auf Niederländisch verfassten Aufsatz einem (weitgehend) Übersehenen der Geistesgeschichte: Gosewijn van Halen, der vor allem deshalb in der Forschung gelegentlich Erwähnung findet, weil er in seiner Jugend famulus des Theologen Wessel Gansfort war und dreimal von Erasmus anerkennend in seinem Briefwechsel erwähnt wird. Doch Gosewijn, der später als Rektor des Bruderhauses in Groningen tätig war, hat mehr zu bieten: Durch seine Kontakte zu Humanisten und sein Interesse an den Lehren der Devotio Moderna bewegte er sich an einer kommunikativen Schnittstelle von zwei Bewegungen, die in einem spannungsreichen, doch zugleich fruchtbaren Verhältnis zueinander standen. Bereits früh lernte er Rudolf Agricola kennen, über dessen Leben er brieflich Philipp Melanchthon berichten sollte. Auch Wessel Gansfort machte Gosewijn zum Gegenstand einer längeren Lebensbeschreibung in Briefform. Erhalten sind schließlich drei Briefe Gosewijns an seinen früheren Schüler, den Reformator Albert Hardenberg. Die Bedeutung Gosewijns als Rektor des Groninger Bruderhauses als Vorbild für ein durch Frömmigkeit und Gelehrsamkeit ausgezeichnetes Leben schließlich erhellt daraus, dass er lobend in den 1521 veröffentlichten Lamentationes Petri erwähnt wird. Der anonyme Verfasser geht sogar so weit, ihn mit Gregor dem Großen zu vergleichen. Auch wenn dies sicherlich übertrieben war – van der Ploegs Aufsatz zeigt, dass sich die Beschäftigung mit einem frommen Gelehrten im Schatten von Größen wie Agricola, Erasmus und Melanchthon durchaus lohnen kann, um die kommunikative Verbreitung von Vorstellungen und Weltzugriffen zu untersuchen, für die jene Fixpunkte der Geistesgeschichte gerühmt werden.

Im Vergleich zu den übrigen eng am Material operierenden, präzise argumentierenden Beiträgen wirkt der den Band beschließende Aufsatz von Victor Wanka wie aus der Zeit gefallen. Wanka stellt sich die Frage, ob die Fraterherren „Marginalexistenzen“ angesichts des Epochenumbruchs Renaissance gewesen seien. Ohne sich weiter mit dem Studium von Quellen aufzuhalten, wird die Modernität der Renaissance mit ihrer vermeintlichen Entdeckung des Menschen, ihrer Hinwendung zur Natur und ihrer Hochschätzung künstlerischer Praxis behauptet, die zunächst mit der Weltabgewandtheit der Devoten kontrastiert habe. Zum integralen Bestandteil der Epoche der Renaissance sei die Devotio Moderna jedoch geworden, weil sie ihre zuerst geübte Weltabgewandtheit sukzessive aufgegeben und sich so den Bedürfnissen des städtischen Renaissancemenschen geöffnet habe. Durch die Verbindung von Tradition und Innovation, eine Hochschätzung der (religiösen) Praxis und die Verbindung menschlicher Würde mit (gottgegebener) Freiheit sei es der Devotio Moderna schließlich gelungen, den Menschen „richtungsweisende Orientierung [zu] bieten“ und sich „als maßgebliches Element des Renaissancezeitalters [zu] legitimieren“ (S. 198). So richtig einzelne Hinweise etwa auf die besondere Rolle der Stadt für die Ausbreitung der Reformbewegung im 15. und 16. Jahrhundert sind, so wenig überzeugt doch das mit breitem Pinsel gemalte Tableau, da es mit einem sich explizit auf Jakob Burckhardt berufenden emphatischen Renaissancebegriff operiert, der in den letzten Jahrzehnten von der Forschung vollständig dekonstruiert worden ist. Der von Wanka postulierte Antagonismus zwischen weltzugewandt-säkularer Renaissance und weltabgewandt-frommer Devotio Moderna existierte als historisches Problem außerhalb der Vorstellungswelt der Forscher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schlichtweg nicht – und bedurfte und bedarf daher auch keiner Lösung. Dass die Devotio Moderna besser zu erforschen ist, wenn derartige Meistererzählungen endgültig verabschiedet werden, vermögen dagegen die übrigen Beiträge des Bandes überzeugend unter Beweis zu stellen.

Anmerkung:
1 Iris Kwiatkowski / Jörg Engelbrecht (Hrsg.), Die Devotio Moderna. Sozialer und kultureller Transfer (1350–1580), Bd. 2: Die räumliche und geistige Ausstrahlung der Devotio Moderna. Zur Dynamik ihres Gedankengutes, Münster 2013.