K. Coates Ulrichsen: The First World War in the Middle East

Cover
Titel
The First World War in the Middle East.


Autor(en)
Coates Ulrichsen, Kristian
Erschienen
London 2014: Hurst & Co.
Anzahl Seiten
XIII, 263 S.
Preis
€ 33,72
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Loth, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

In der Geschichte des Ersten Weltkriegs figuriert der Nahe und Mittlere Osten nur als ein Nebenkriegsschauplatz. Entschieden wurde der Krieg in den endlosen Material- und Menschenschlachten im Nordosten Frankreichs und in Flandern, und darauf konzentriert sich hierzulande auch die kollektive Erinnerung. Dabei gerät aus dem Blick, dass der Erste Weltkrieg auch für den Nahen und Mittleren Osten gewaltige Konsequenzen hatte: Er beschleunigte den Untergang des Osmanischen Reiches und ließ eine konflikthaltige Staatenwelt entstehen, die in ihren Problemstrukturen bis heute Bestand hat. Das Kriegsgeschehen nahm auch in dieser Region beträchtliche Dimensionen an. So hatten die Osmanen hier über 420.000 gefallene Soldaten zu beklagen, die Briten und die Russen je etwa 260.000 und die Franzosen um die 50.000. Die Verluste durch Seuchen, Hungersnöte und Vertreibungen waren sogar erheblich höher als auf dem europäischen Kriegsschauplatz. Sevket Pamuk schätzt den Bevölkerungsverlust allein in dem Gebiet der heutigen Türkei unter Einschluss der Balkankriege und der Unabhängigkeitskämpfe bis 1922 auf über 20 Prozent.1

Es ist daher sehr zu begrüßen, dass Kristian Coates Ulrichsen, Research Fellow an der texanischen Rice University, zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs eine Gesamtdarstellung des Kriegsgeschehens im Nahen und Mittleren Osten vorgelegt hat. Sie beginnt mit einer Schilderung der komplexen politischen Verhältnisse in der Region in den Jahren vor Kriegsbeginn, behandelt dann die Auseinandersetzungen zwischen Osmanen und Russen in Ostanatolien und im Kaukasus sowie die britischen Feldzüge nach Gallipoli, Palästina und Mesopotamien und bezieht zu Recht auch die militärischen und politischen Auseinandersetzungen um die Nachkriegsordnung bis zum Vertrag von Lausanne 1923 in die Darstellung mit ein. Dabei wird deutlich, dass die Erfordernisse moderner Kriegsführung zu einem verstärkten Zugriff auf die ländlichen Bevölkerungen und vielfach auch zum Zusammenbruch der Subsistenzwirtschaft führten. Dies wiederum hatte die Entstehung oder Verstärkung von nationalistischen Bewegungen zur Folge, die mit den konkurrierenden imperialen Ambitionen der Türken wie der Russen, Briten und Franzosen kollidierten.

Problematisch an dieser Darstellung ist, dass sie im Wesentlichen aus britischer Sicht geschrieben ist. Die drei Kampagnen der Briten – die Operationen in Gallipoli unter Einbeziehung eines Armeekorps von Australiern und Neuseeländern, die Feldzüge nach Palästina und Mesopotamien unter wesentlicher Beteiligung indischer Truppen – werden nicht nur in ihren Verläufen präzise geschildert. Coates Ulrichsen bietet auch eine anschauliche Darstellung der Auseinandersetzungen innerhalb der britischen Führung über Sinn, Zweck und Ressourcenbedarf der verschiedenen Unternehmungen. Hier stützt er sich auf seine 2010 publizierte Dissertation2, und hier werden auch bezeichnende Quellenzitate geboten, manche sogar mehr als einmal.

Vergleichbare Einblicke in die Gedankenwelt der anderen Akteure, ob Osmanen, Russen, Franzosen oder arabische Scheichs und Kalifen, sucht man dagegen vergebens. Auf sie bezogen werden nur Grundzüge des Geschehens wiedergegeben, die der jeweils einschlägigen Literatur entnommen sind. Deutsche Akteure, ihre gelegentlichen Versuche, muslimische Stämme gegen britische, russische oder französische Fremdherrschaft zu mobilisieren, und ihre Auseinandersetzungen mit den osmanischen Verbündeten treten überhaupt nicht in Erscheinung. Genauso wenig werden die Kurden erwähnt, die bei der Mobilisierung muslimischer Bevölkerungsgruppen gegen die britische und französische Besatzungsmacht durch Mustafa Kemal doch eine bedeutende Rolle spielten. Dass sie bei den Verhandlungen über die Nachkriegsordnung in keiner Weise repräsentiert waren, kommt als wesentlicher Grund für deren Instabilität nicht vor.

Das Kapitel über die Kampagnen im Kaukasus beginnt mit einem Rückblick auf die Auseinandersetzungen zwischen osmanischem und zaristischem Imperium im 19. Jahrhundert. Es folgen prägnante Schilderungen des Scheiterns der osmanischen Offensive in der verlustreichen Winterschlacht von Sarikamis an der Wende 1914/15, des Genozids an den Armeniern und des russischen Vordringens nach Anatolien im ersten Halbjahr 1916. Die Ermüdungserscheinungen auf beiden Seiten und die türkischen Expansionspläne im Kaukasus nach dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg werden dagegen nur sehr knapp erwähnt. Umso ausführlicher ist von der britischen Furcht vor einem deutschen Angriff auf Afghanistan (und der daraus resultierenden Bedrohung der britischen Position in Indien) die Rede, die sich nach dem Separatfrieden von Brest-Litowsk ausbreitete.

Immerhin ermöglicht die Fokussierung auf die britische Politik eine recht präzise Analyse des britischen Anteils an der Formierung des „neuen“ Mittleren Ostens. Dabei wird insbesondere auch die außerordentliche Fahrlässigkeit deutlich, mit der die britischen Akteure den Problemen dieser Region begegneten. Bei der Landung einer Brigade der indischen Armee an der Nordspitze des Persischen Golfs im November 1914 und der anschließenden Eroberung von Basra ging es zunächst nur um die Wahrung des britischen Prestiges und die Sicherung der Loyalität der lokalen Scheichs, die die für die Verbindung nach Indien wichtige Kontrolle der Golfregion sicherte. Der – erst im zweiten Anlauf erfolgreiche – Vormarsch nach Bagdad war dann dem Bedürfnis nach „leichten Siegen“ angesichts der Erstarrung der Front in Europa geschuldet. Das weitere Ausgreifen nach Mosul avancierte erst in den letzten Kriegswochen zum militärischen Ziel, jetzt mit dem Motiv, sich die dort vermuteten Ölvorkommen zu sichern. Die so gewonnene Einflusssphäre wollte man dann nicht mehr aufgeben; daher die Entscheidung, den von den Franzosen aus Damaskus vertriebenen Emir Faisal bin Hussein 1921 als König des Irak zu etablieren.

Es bleiben allerdings Zweifel, ob der Chef der Zivilverwaltung in Mesopotamien, Sir Arnold Wilson das Ausmaß des Widerstands gegen einen verstärkten britischen Zugriff auf die Region wirklich so stark unterschätzte wie Coates Ulrichsen meint. Wilsons Kommentar, Gegner einer britischen Administration unter den Scheichs und Notabeln seien „far less in touch with the country as a whole as we are“ (S. 194), klingt doch stark interessegeleitet.

Anmerkungen:
1 Sevket Pamuk, The Ottoman Economy in World War I, in: Stephen Broadberry / Mark Harrison (Hrsg.), The Economics of World War I, Cambridge 2009, S. 120.
2 Kristian Coates Ulrichsen, The Logistics and Politics of the British Campaigns in the Middle East, 1914–22, Basingstoke 2010.

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