F. Mauelshagen: Wunderkammer auf Papier

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Titel
Wunderkammer auf Papier. Die „Wickiana“ zwischen Reformation und Volksglaube


Autor(en)
Mauelshagen, Franz
Reihe
Frühneuzeit-Forschungen 15
Erschienen
Anzahl Seiten
460 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silvia Flubacher, Universität Basel

Der Zürcher Pfarrer Johann Jacob Wick (1522–1588) stellte zwischen 1560 und 1587 eine umfangreiche Sammlung von Nachrichten und Flugblättern zusammen, die die „Wunderzeichen Gottes“ dokumentieren sollten. Allein der Umfang dieses Werks – die sogenannte „Wickiana“ umfasst 24 Foliobände von je ungefähr 600 Seiten – illustriert deren besondere Bedeutung. Sie ist auch der Forschung bisher keineswegs entgangen. Dennoch bietet Mauelshagens detailreiche, auf seiner Dissertation beruhende Studie neue Einblicke in dieses frühneuzeitliche Wunderwerk, wobei er sie grob in die Bereiche Theologie, Politik, Kommunikations- und Rezeptionsgeschichte unterteilt.

Im ersten Teil untersucht Mauelshagen die Wickiana im Kontext reformierter Wunderzeichendeutung. Die Wunderzeichendeutung übernahm im seelsorgerischen Amt des Predigers Erinnerungs- und Mahnfunktion. Aussergewöhnliche Erscheinungen oder außerordentliche Ereignisse wurden als göttliche Zeichen gedeutet, die entweder retrospektiv auf vergangene Sünden, aktuell auf den Zorn Gottes oder prospektiv auf eine bevorstehende Strafe verweisen konnten. Der Chronist bot eine mögliche Interpretation der Ereignisfolge von Sünde, Zeichen und Strafe, während der Prediger von der Kanzel aus durch Ermahnungen größeres Unheil zu verhindern suchte. Die Wunderchronik diente dem Prediger dabei als Exempelsammlung. Wenn auch die konkreten Ursachen und Auswirkungen eines Wunderzeichens meist offen blieben, so stellte die Sammlung verschiedene Deutungsmöglichkeiten bereit und ermöglichte einen Vergleich und damit eine typisierende Klassifizierung der Wunderzeichen.

Die politische Dimension der Wunderzeichendeutung illustriert Mauelshagen im nächsten Kapitel am Beispiel zweier Ereignisse des Jahres 1572: eine ungewöhnliche Sonnenerscheinung sowie der durch einen Blitzschlag verursachte Brand des Zürcher Münsterturms. Insbesondere der Münsterturmbrand versetzte die Zürcher Prediger in eine unangenehme Lage: Der Blitzschlag im Münsterturm traf im übertragenen Sinne ihre eigene, obrigkeitliche Spitze. Dementsprechend stand in der Interpretation dieses Zeichens weniger die Strafe als die göttliche Gnade, die die Zürcher bei der Bewältigung des Brandes erfuhren, im Vordergrund. Dass jedoch der Münsterturmbrand durch die Zürcher Bevölkerung durchaus auch als eine an die Elite gerichtete Strafe interpretiert werden konnte, zeigt Mauelshagen anhand zweier Schmachreden, welche von der Obrigkeit entsprechend öffentlich sanktioniert wurden. Die Deutung der Sonnenerscheinung und des Münsterbrands in der Wickiana zeigt, dass die Wunderzeichendeutung im Umfeld des Chorherrenstifts im Sinne der Zürcher Obrigkeit und somit eher defensiv ausgerichtet war – im Gegensatz etwa zu Luthers und Melanchtons berühmte Deutungen des Papstesels und des Mönchkalbs. Der Prediger hatte sich in Zürich sowohl theologisch als auch politisch zu verantworten.

Die enge Verbindung der Wickiana zum Zürcher Chorherrenstift wird durch Mauelshagens Untersuchung von Wicks Netzwerk im dritten, kommunikationsgeschichtlichen Teil weiter herausgearbeitet. Die Chronik profitierte insbesondere von der weit verzweigten Korrespondenz Heinrich Bullingers (1504–1575), dessen Briefe in Wicks Sammlung Eingang fanden. Aus einem anachronistischen Verständnis der Autorschaft erkläre sich das Missverständnis der Forschung, welche in Wick lediglich einen Sammler und keinen eigenständigen Autoren sah. Demgegenüber arbeitet Mauelshagen Wicks Methoden der Auswahl und Anordnung seiner Quellen heraus. Techniken des Aufschubs – wie das Freilassen von Raum auf einer Seite für spätere Einträge oder das Überkleben älterer Beiträge – deuten auf eine bewusste Strukturierung einzelner Sequenzen hin. Damit gibt Mauelshagen Wick seine im Laufe der Rezeptionsgeschichte verlorene Autorität als Urheber und Gestalter seiner Bücher zurück. Während dieser in der älteren Forschung gerne als leichtgläubig bezeichnet wurde, deutet Mauelshagen Wicks Suche nach glaubhaften Zeugen als Zeichen der Skepsis. Die Vielfalt der Informationsquellen und Inhalte seiner Sammlung sind nicht auf fehlendes Urteilsvermögen zurückzuführen, sondern entsprachen der Speicherfunktion und dem Entstehungs- und Gebrauchskontext der Wickiana im Umfeld des Zürcher Chorherrenstifts. Schließlich stand die Bezeichnung als „Chronik“ in keinem Widerspruch zur (später pejorativ verwendeten) Bezeichnung des „Sammelsuriums“. Geschichte war im Wesentlichen als Sammlung von Ereignissen angelegt (darunter fallen auch Naturereignisse). Die naturhistorische Rezeption der Flugblätter durch Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) im frühen 18. Jahrhundert kann letztlich als eine Folge der empirischen Ausrichtung der in der Wickiana bereits vorhandenen historischen Sammlung betrachtet werden.

Der vierte und umfangreichste Teil widmet sich der Aneignungsgeschichte der Wickiana. Nach der Überführung der Bücher in die Bibliothek des Grossmünsterstifts gliederte der damalige Bibliothekar Johann Jacob Fries (1546–1611) deren Inhalte in thematische Gemeinplätze auf: Er ordnete seine Abschriften nach Ländern und nach ihren das Reich Gottes sowie das weltliche Reich behandelten Inhalten und verband damit Religions- und Politikgeschichte. Durch Bullingers Tigurinerchronik inspiriert stand bei Johannes Haller (1573–1621) das einzelne Ereignis im Vordergrund, während die Wunderzeichendeutung zunehmend in den Hintergrund rückte. Damit ebnete er den vergleichenden Charakter der einzelnen Berichte ein. Nach Haller wurde die Wickiana fast ausschließlich indirekt rezipiert; einzelne Berichte fanden zwar weiterhin Eingang in verschiedene Chroniken, jedoch findet Wick selbst als Sammler und Gestalter der Wunderchronik keine Erwähnung mehr. Von einer indirekten Aneignung lässt sich auch bei Johann Jakob Scheuchzers Rezeption sprechen: Dieser beurteilte die Glaubwürdigkeit einzelner Berichte und Flugblätter, die er außerhalb des Sammlungszusammenhangs der Wickiana zitierte, nach Methoden der Quellenkritik: Der Vergleich verschiedener Berichte, die Überprüfung der Quellen vor Ort, die Wertschätzung der Autopsie und die Beglaubigung der Quellen durch Autoritäten legten den Boden für die „Aberglaubenskritik“ der Aufklärungszeit. Wicks Bücher wurden fortan als Quelle des Volksglaubens gelesen. Anlässlich eines erneuten Münsterturmbrandes im Jahre 1763 wurde beispielsweise der Bericht von 1572 aus der Wickiana erneut, dieses Mal jedoch vielmehr als ein literarisches Schriftstück rezipiert. Weitere Berichte aus der Wickiana – insbesondere die Erzählung der Zürcher Hirsebreifahrt, der zufolge Zürcher Gesandte den Weg von Zürich nach Straßburg an einem Tag bewältigten und der mitgebrachte Hirsebrei somit noch warm das Ziel erreichte – wurden im 18. Jahrhundert zudem als Dokumente der Sittengeschichte gelesen. Die sittengeschichtliche Rezeption habe über die Volkskunde, welche die Wickiana in einer diffus definierten Volkskultur verwurzelt sah, noch bis ins 20. Jahrhundert ihre Wirkung entfalten können. Es ist schließlich diese Tradition, die Mauelshagen widerlegt, indem er die Wickiana im Umfeld des Zürcher Chorherrenstifts verortet und zum Produkt einer reformatorischen Elite erklärt.

Mauelshagen definiert sein Buch als Lokalstudie (S. 24), doch bietet er letztlich viel mehr: Er liefert eine grundlegende Revision der Historiographie zur Wickiana sowie eine Kritik verschiedener (insbesondere volkskundlicher, mentalitätsgeschichtlicher und historisch-anthropologischer) Ansätze der Geschichtsschreibung zum frühneuzeitlichen Wunderglauben. Bereits aus der Einleitung geht hervor, dass Mauelshagen besonderen Wert auf den vierten, historiographischen Teil legte. So übernahm für Mauelshagen die Aneignungsgeschichte der Wickiana „die Funktion einer hermeneutischen Standortbestimmung“ (S. 22). Diese erfolgt denn auch mehrheitlich über die Abgrenzung zu älteren Forschungstraditionen, die inzwischen ohnehin überwunden sein dürften. Doch ist es gerade auch die Stärke des Buches, dass es nicht bei einer Analyse der Wickiana selbst stehen bleibt, sondern deren Rezeptionsgeschichte miteinbezieht. Mauelshagen überzeugt insbesondere durch seine Fähigkeit, einzelne Textinterpretationen in größere Zusammenhänge einzubetten und theologische und politische Geschichte sowie Kommunikationsgeschichte und Historiographie miteinander zu verknüpfen. Die Kapitel gehen nahtlos ineinander über; einzelne Berichte der Wickiana – insbesondere zur Sonnenerscheinung und zum Zürcher Münsterturmbrand von 1572 – werden in mehreren Kapiteln besprochen. Dadurch ergeben sich zwar vereinzelt Wiederholungen, insgesamt widerspiegeln diese jedoch die in all ihren Facetten schillernde Welt der Zürcher Wunderchronik.

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