Der Sammelband „Zooming In and Out“, eigentlich eine Collage aus Aufsätzen, Werkstattgesprächen, Vorträgen und Interviews, geht auf eine Tagung am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien im Jahr 2012 zurück. Die hier versammelten Beiträge von FilmemacherInnen und WissenschafterInnen reflektieren teilweise im Dialog, teilweise einzeln darüber, wann und unter welchen Voraussetzungen Dokumentarfilme „politisch” agieren. Der Fokus liegt auf dem jüngeren deutschsprachigen, insbesondere österreichischen Dokumentarfilm, der aufgrund seiner Thematisierung von Armut und Unterdrückung sehr oft mit dem Label „politisch“ versehen wurde.
Im Zentrum des Buches steht die Frage, wie der Dokumentarfilm „Strategien des ‚Politischen‘ und ‚politische‘ Effekte“ (S. 7) produziert. Auf eine eindeutige Definition des Begriffes des „Politischen” wollen sich die Herausgeberinnen Julia B. Köhne, Klaudija Sabo und Aylin Basaran nicht einlassen, mit dem Verweis darauf, dass das Politische im Dokumentarfilm vielfältige Formen annehme. Doch ihr Lavieren zwischen einem sehr breiten Politikbegriff, demzufolge nahezu alles politisch ist, und einer Interpretation als subversiv ist verwirrend. Überhaupt wirft die Einleitung eine Fülle an Fragen auf, die aber nicht diskutiert werden. Wenn sich, wie die Herausgeberinnen behaupten, „in jedem Dokumentarfilm ‚politische‘ Erzählstrategien“ finden (S. 9), was macht dann einen Dokumentarfilm zu einem politischen Dokumentarfilm? Trifft ihr Diktum, dass der Dokumentarfilm „schlussendlich immer ‚politisch‘ Stellung“ (S. 9) beziehe, nicht ebenso auf alle anderen Filmgattungen zu? Wodurch unterscheiden sich dann politische Strategien im Dokumentarfilm von jenen im Fiktionsfilm?
Das fehlende Interesse der Herausgeberinnen, sich mit diesen wichtigen Themen analytisch auseinanderzusetzen, frustriert und macht wenig Lust, weiterzulesen. Dies ist schade, denn die Aufsätze selbst geben erhellende Antworten auf die Frage, was einen Film zu einen „politischen“ macht (oder machen könnte). Leider fehlt hier der Raum, um auf alle Beiträge einzugehen, doch die meisten BeiträgerInnen sind sich einig, dass das Politische nicht durch bloße Proklamation oder Intention erzeugt werden kann. Vielmehr sei eine Reihe von Bedingungen zu erfüllen, damit ein Dokumentarfilm die Bezeichnung „politisch“ – verstanden als subversiv und die Schwachen der Gesellschaft stärkend – verdiene. So müsse ein Dokumentarfilm, der politisch agiert, traditionelle Sehgewohnheiten und ästhetische Normen aufbrechen, Machtverhältnisse infrage stellen, Festschreibungen vermeiden und dem gefilmten Subjekt eine eigene Stimme und vielfältige Identität zuerkennen.
Nicht politisch sind nach Ansicht der Medienwissenschaftlerin Eva Hohenberger die teilweise auch finanziell erfolgreichen österreichischen Dokumentarfilme von Nikolaus Geyrhalter, Michael Glawogger, Ulrich Seidl und Anja Salomonowitz. Deren Filme erhöben zwar den Anspruch politisch zu sein und würden weitgehend auch als solche rezipiert, schreibt Hohenberger, die sich fundiert mit dem Verhältnis von Form und Politik im Dokumentarfilm auseinandersetzt. Doch letztlich zementierten diese Filme die angeprangerten sozialen Ungleichheiten, weil sie die Machtpositionen und -strategien, nicht zuletzt jene der FilmemacherInnen selbst, nicht hinterfragten. Stattdessen würden sie einem ästhetischen Formalismus huldigen. Auch die Filmemacherin Katharina Weingartner und die Soziologin und Filmemacherin Anette Baldauf kritisieren im Gespräch die mangelnde Selbstreflexion der oben genannten DokumentarfilmerInnen. Sie werfen ihnen vor, mittels eines Spektakels des Elends ihre Objekte auszubeuten und damit das Machtgefälle zwischen den Betrachtern und den Betrachteten festzuschreiben. Sie verweisen darauf, dass nicht der Film allein, sondern auch die Produktionsbedingungen politisch sind. So reproduziere die Kamera einerseits Normen, Strukturen und Hierarchien, könne diese aber auch aufbrechen, etwa indem die Person hinter der Kamera ihre Machtstellung reflektiere und sich gewissermaßen selbst dem Blick der Kamera aussetze.
Das Verhältnis zwischen der/dem Filmenden und der/dem Gefilmten steht auch im Mittelpunkt des spannenden Werkstattgesprächs um den Dokumentarfilm „Tintenfischalarm“ (2006), der die physischen und psychischen Folgeschäden der medizinischen Praxis der „Geschlechtskorrektur“ bei Intersexuellen aus dem Blick einer/s Intersexuellen erzählt. Im Gespräch mit Dan Christian Ghattas schildert die Filmemacherin Elisabeth Scharang, wie sie und ihr/e Interviewpartner/in im Rahmen dieses Langzeitfilmprojekts das Machtgefälle aufzubrechen versuchten, indem etwa beide die Kamera als Instrument der Verdinglichung nutzten.
Wie Baldauf, Weingartner und Scharang sieht auch der Filmemacher Markus Wailand seine Aufgabe als politischer Dokumentarfilmer darin, die Akteure in seinen Filmen nicht in einer Opferrolle, sondern als (politisch) handelnde Subjekte zu zeigen, um damit Diskriminierungsversuchen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dennoch gesteht er ein, dass er seinem eigenen (und Jean-Luc Godards) Anspruch, politisch Filme zu machen, nicht ganz gerecht wurde, weil sich die Entwicklung eines kollektiven, gleichberechtigen Filmprojekts als viel schwieriger erwies als gedacht. In Wailands Film „Here to Stay“ (2008) konfrontieren Schwarze in Wien die Polizei oder Passanten mit rassistischen Schmierereien; sie fordern damit nicht nur eine Auseinandersetzung mit rassistischen Stereotypen, sondern verweigern sich auch einer Festschreibung als passives Opfer.
Ähnliche Strategien des Politischen beschreibt Marietta Kesting am Beispiel zweier südafrikanischer Dokumentarfilme, die das Schicksal südafrikanischer MigrantInnen zu thematisieren versuchen, ohne sie „in ihrem ‚traurigen‘ Schicksal festzuschreiben“ (S. 50). Gerade für diese MigrantInnen, die ständigen Kontroll- und Identifizierungsmaßnahmen ausgesetzt sind, bedeute etwa das Aufsetzen einer Maske einen Akt der Selbstbehauptung gegenüber dem Zwang der Sichtbarmachung und eröffne somit einen Aktionsspielraum. Auch Peter Zimmermanns konziser und spannender Überblick über die Entwicklungen des dokumentarischen Portraitfilms in der BRD und DDR seit den 1950er-Jahren gibt Einblick in die Bemühungen deutscher FilmemacherInnen, den Subjekten eine Stimme zu verleihen und damit eindimensionale Festschreibungen zu vermeiden.
Während für manche DokumentarfilmerInnen die politischen Strategien in erster Linie auf das Aufbrechen von Machtverhältnissen und die Emanzipation der gefilmten Subjekte abzielen, versuchen andere über die ästhetische Form politisch zu agieren. So zeigt Sabo am Beispiel des Films „Tito Among the Serbs for the Second Time“ (1994), wie der Filmemacher Želimir Žilnik mithilfe eines Doubles des längst gestorbenen ehemaligen jugoslawischen Staatschefs Tito, der sich unter die Menge in Belgrad mischt, eine Auseinandersetzung über die jüngere Vergangenheit anstößt und die Menschen zum Nachdenken anregt. Die „ironische Geste“ (S. 255) der Ikone Tito stellt aber auch die Annahme einer dokumentarischen Realität infrage. Mittels eingestreuten Archivbildern und Tonspuren deutet der Filmemacher Titos Herrschaft neu und schafft so eine Realität, deren offen zutage liegende Fiktionalität das Publikum verunsichert. Ähnlich funktioniert Michael Baers Kompilationsfilm „Befreien Sie Afrika!“ (1998), der von Basaran analysiert wird. Mittels Montage von deutschem Archivmaterial aus Film und Fernsehen der Jahre 1939 bis 1990 macht Baer die gesellschaftlich tief verankerten und durch die Medien ständig reproduzierten rassistischen Denkmuster und Klischees sichtbar und gibt sie der Lächerlichkeit preis. Politisch agiert der Film Basaran zufolge in erster Linie dadurch, dass er die ZuseherInnen dazu zwingt, eine aktive Rolle einzunehmen und das Bildmaterial zu deuten, das durch geschickte Montage für Irritation im produktiven Sinne sorgt.
Das Konzept des Buches, Sichtweisen von FilmemacherInnen mit denen von Theoretikern und Wissenschaftlerinnen in Verbindung zu setzen, ist durchaus gelungen. Die selbstkritischen Reflexionen der FilmemacherInnen über ihre Arbeitsweise und ihr Bemühen, Hierarchien zu durchbrechen und den gefilmten Subjekten ihre Stimme und Eigensinn wiederzugeben, geben einen guten Einblick in die Praxis der Dokumentarfilmproduktion. Ergänzt durch exakte Filmanalysen und erhellende Essays, etwa zur Frage von Form und Politik oder Entwicklungen innerhalb des Genres, bietet der Band interessante Erklärungsansätze zur Frage politischer Strategien. Leider fehlt es dem Werk an inhaltlichen Querbezügen und einem roten Faden, der zum Weiterlesen und einer intensiven Auseinandersetzung mit den Texten einlädt. Vor allem aber fehlt es an einer fundierten Einleitung, welche die thematisch aber auch qualitativ sehr unterschiedlichen Beiträge zusammenbindet, Verbindungslinien herstellt und die Frage, was denn nun ein politischer Dokumentarfilm ist, wenn schon nicht beantwortet, so doch tiefergehender diskutiert, als es hier geschieht.