Das Alltagsverständnis sieht die Verbrechensbekämpfung als Aufgabe der Strafjustiz, deren Institutionen - Polizei, Gerichte, Vollzug - untereinander abgestimmt und aufeinander eingespielt sind. Der vielfach bestätigte gesellschaftlich-kulturelle Konsens will es, daß die Justiz unabhängig, objektiv und gerecht diejenigen Übeltäter aburteilt, die ihr von der Polizei zugeliefert werden. Der Gesetzgeber ist für die Bereitstellung der rechtlichen und materiellen Mittel zuständig, die Vollzugsbehörden sorgen für das sichere Wegschliessen und womöglich für die Resozialisierung der Verbrecher.1
Das Wissen über Funktionsweise und Bedeutung der Strafjustiz ist wesentlich von der Alltagsunterhaltung bestimmt, hier vor allem erscheint die kausale Verknüpfung von Straftat, Strafverfahren als naturgegeben.2 Die Befugnis der Strafjustiz, in Alltagswirklichkeit und - ganz massiv - in einzelne Lebensverläufe einzugreifen, scheint unbestreitbar; sie verbindet sich mit der Vorstellung, daß die Justiz von der Alltagswirklichkeit so strikt abgegrenzt sei wie die Kriminalität selbst. Gleichzeitig wird von der Strafjustiz erwartet, daß sie in ihren Verfahren zur Erkenntnis einer allgemeinen Wahrheit findet, die sie in Alltagssprache und Alltagswirklichkeit vermitteln kann (und vermitteln muß), um Wirkungen zu erzielen und Deutungsbedarf zu befriedigen. Unerschütterlich wird daran festgehalten, daß die Justiz ihre Fälle - als Kriminalität der Wirklichkeit - vorfinde, und daß ihre Verhandlungen und ihre Texte den Blick auf eben diese Wirklichkeit eröffneten.3
Die Beobachtung der Strafjustiz wird in der Regel den zuständigen Fachleuten überlassen - Strafverfahren werden von Strafjuristen beurteilt, die sich für die Ergebnisse interessieren, wie sie in den Urteilen und den Akten niedergelegt sind. In den Fachdiskussionen spielen die Auseinandersetzungen, die den Verlauf eines Verfahrens bestimmt haben, kaum noch eine Rolle. In den Akten wird sowohl die Geschichte des Verbrechens als auch die Geschichte des Verfahrens fest- und stillgestellt; im gegenseitigen Bezug stellen diese beiden Geschichten die 'Verarbeitung' der Kriminalität derart sicher, daß der Bedarf nach Sinnzuweisungen befriedigt und Anschlußverarbeitung möglich wird. Löschper dagegen bezieht die Position einer externen Beobachterin, die sich auf den Verlauf der Hauptverhandlung in Strafsachen konzentriert. Sie konzipiert die Verhandlung als einen Interaktionszusammenhang, der zwar rechtlich geregelt ist, dessen tatsächlicher Verlauf aber weder vorherbestimmt noch vorhersehbar ist. Die Wirklichkeit, über die das Strafverfahren verhandelt, wird nicht vorgefunden, sondern im Verlauf der sprachlichen Auseinandersetzungen erst konstituiert; der Kriminalfall entsteht, indem über ihn verhandelt wird; umgekehrt kann das Strafverfahren nicht als Rahmen betrachtet werden, in den der 'Wirklichkeitsstoff' bloß eingepaßt werden muß, es entsteht seinerseits, indem es den Fall verhandelt; Verfahren und Fall bedingen sich gegenseitig.
Wenn also der 'Kriminalfall' als zeitlich vorausliegendes und örtlich entferntes Geschehen verstanden werden kann, so ist dies eine Leistung des Strafverfahrens, das die Fiktion einer unveränderlichen Vergangenheit behaupten muß, um urteilen zu können.4 Der konstruktivistischen Perspektive Löschpers eröffnen sich Untersuchungsfelder, in denen traditionelle Konzeptionen des Strafverfahrens reformuliert werden können; dies betrifft vor allem jene Bereiche, in denen es mit Alltag, Alltagswissen und Alltagsdeutungen in Austauschbeziehungen steht. Verbrechensbekämpfung findet in diesem Austausch statt und nicht in einem abgegrenzten Bezirk. Aus Löschpers Sicht ist die "Analyse des Recht-Sprechens systematisch um das Konzept der Macht", zu organisieren, zu zeigen und zu reflektieren ist der Beitrag der Rechtsprechung zur Erhaltung und Stabilisierung von sozialen Strukturen (S. 12 f., S. 342). Ihr Strafverfahrenskonzept ist ohne weiteres auf Niklas Luhmanns "Legitimation durch Verfahren" (1969) zu beziehen, wo die Differenz zur Selbstbeschreibung der Strafjustiz folgendermaßen markiert wird: Der "Sinn rechtlich geregelter Verfahren" sei "in der Legitimierung der Macht zu sehen", nicht aber darin, "wahre Erkenntnis und wahre Gerechtigkeit" zu erzielen. Das neuzeitliche Verfahren garantiere die Entscheidung und legitimiere sie, es führe jedoch nicht zu einer Wahrheit im Sinne "von einzig richtiger, alle überzeugender Lösung".5
Die traditionelle, ontologisierend-realistische Konzeption des Strafverfahrens bedient sich der (Richter-)Psychologie, wenn sie zu erklären versucht, daß und wie 'Urteilsdisparitäten' zustande kommen, auch insoweit ist sie urteils- und ergebnisorientiert: 'Objektivität' und 'Gerechtigkeit' werden am statistischen Normalitätskonstrukt gemessen. Ein Urteil, das den Erwartungen einer bestimmten Rechtskultur nicht entspricht, gilt als abweichend und verweist auf Probleme des jeweiligen Richters bzw. Richterkollegiums (vgl. S. 17, 30, vgl. auch die traditionsreichen Diskussionen über 'Klassenjustiz' und ihre Ursachen). Löschper zeigt die Konvergenz zwischen den ätiologisch-individualisierenden Verbrechens- bzw. Verbrecherkonzeptionen und der traditionellen Richterpsychologie (S. 33 f.): Beide lokalisieren die Abweichung im Individuum und/oder seinem Umfeld, für beide Sichtweisen ist die Norm das fraglos gegebene - oder, wie Luhmann es ausdrückt: "Nicht der Erwartende hatte falsch erwartet, sondern der Handelnde hatte falsch oder doch ungewöhnlich gehandelt" (zit. bei Löschper S. 43). Wer die Enttäuschungsresistenz der Norm erhalten will, der muß Handeln inkriminieren und zurechnen - damit kommen die Attitüden der Richter in den Blick, ihre Einstellungen, intellektuellen Fähigkeiten, aber auch ihr guter oder böser Wille, die Richtersozialisation insgesamt. Dabei entzündet sich die Diskussion über abweichende Urteile nicht so sehr an rechtstechnisch-dogmatischen Aspekten (dem Bereich der Fehlurteile), sondern an der Strafzumessung, also an der Einschätzung der Täterpersönlichkeit und des jeweils spezifischen Handlungsverlaufs, deren Wahrnehmung schon wesentlich von den Darstellungen im Verfahren abhängt, also eben auch davon, wie die Beteiligten die ihnen zugewiesenen bzw. zugewachsenen Rollen ausfüllen.
Aus ihrer konstruktivistischen, kritisch-kriminologischen Sicht zeigt Löschper, daß nicht dem Entstehen des 'abweichenden' Urteils das primäre Interesse zu gelten hat, sondern der 'Normalität' des Strafverfahrens, in dem der Fall konstituiert und in dem Konsens über Schuld und Strafe her- und dargestellt werden müssen. Sie beobachtet die Herstellung justiziablen Wissens (und sich nicht auf die Entscheidung über Recht oder Unrecht beschränkt), und sie zeigt, daß das Verfahren nicht bloß den juristischen Diskurs organisiert, daß es vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Diskurse - sowohl wissenschaftlicher als auch alltäglicher Provenienz - integrieren muß. Das Strafverfahren fungiert insofern als Medium, das im Hinblick auf die Herstellung von Fällen durchaus vergleichbar ist mit Berichterstattung, Literatur, mit anderen Bereichen der Darstellung von Kriminalität. Daraus resultiert ihr Plädoyer für ein Beobachtungsinstrumentarium, das sich nicht allein am Straf- und Strafprozeßrecht, sondern auch an linguistischen, diskurstheoretischen, narratologischen und literaturwissenschaftlichen Diskussionen orientiert, ohne die Konzentration auf das Strafverfahren und seine spezifischen Inszenierungen und Textproduktionen aufzugeben (vgl. vor allem Kap. 2, S. 62-82). Realität wird im Strafverfahren in der Form von Geschichten konstituiert, in denen die Sachverhalte als Handlungen zurechenbar werden - als zurechenbar repräsentiert werden und so den 'Täter' als Handlungsträger bezeichnen. Das Strafverfahren weist dem vergangenen Geschehen Sinn zu, es produziert Geschichten, in denen Störung sichtbar wird. Be- oder Verarbeitung von Kriminalität wird zur Ordnungsrestitution, indem Störung konstituiert, benannt und bestraft wird. Strafverfahrensregeln sind aus dieser Sicht Regeln des Erzählens, Präsentierens sowie des Verstehens von Geschichten (und zwar stets unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß diese Geschichten - wenn sie für wahr gehalten werden - für die Wirklichkeit stehen).
Daß und wie das Strafverfahren als Medium konzipiert werden kann, in dem Diskurse realisiert und verknüpft werden, dies machen zunächst die Abschnitte über ethnomethodologische und konversationsanayltische (S. 83-153), über sozialpsychologische (S. 153-208) und die linguistische (S. 208-277) Verfahrensanalysen deutlich. Mit ihrem (hauptsächlich an Michel Foucault sowie an den Arbeiten von Christoph Sauer und Ludger Hoffmann orientierten) Diskursbegriff erfaßt Löschper den Rückgriff des je aktuellen Verfahrens auf gespeicherte Wissensvorräte, Deutungsmuster und Rollenkonzeptionen. Schlaglichtartig wird dies an der Stelle erhellt, wo Löschper auf das patriarchalische Agieren von Richtern und Richterinnen eingeht (S. 263): Implizit verknüpft sich ihre Gegenwartsanalyse mit traditionsreichen Deutungen der Strafjustiz aus dem Bestätigungszirkel offizieller Darstellungen und journalistischer, literarischer und paraliterarischer Textproduktion. Das je aktuelle Strafverfahren muß sich und seine Deutungsmuster nicht jeweils neu erfinden. Indem es aber auf einen Vorrat zurückgreift, verstrickt es sich auch in die gesellschaftlichen Diskurse, die dann in den juristischen Texten - auch als Surplus (vgl. S. 348) - mitrepräsentiert werden (vgl. z. B. S. 344 f.). Mit den narratologischen Strafverfahrenskonzepten (vgl. S. 277-334, orientiert vor allem an Arbeiten von W. Lance Bennett, Martha S. Feldman und Bernard S. Jackson) wird ein Analyseinstrument bereitgestellt, das die Frage nach der 'Güte' eines Urteils (verglichen mit allen anderen Urteilen) verabschiedet zugunsten der Herstellung von Gültigkeit und der Durchsetzung von bestimmten Deutungsmustern (S. 341).
Löschpers Buch eröffnet einen immer noch ungewohnten Blick auf die 'Inszenierung' Strafverfahren, es gewinnt dort, wo unterschiedliche Analyseansätze referiert werden, den Charakter eines Handbuchs, das zukünftige Projekte der Beobachtung von Strafverfahren aus soziologischer und sozialpsychologischer Sicht anregen wird und anleiten kann; besonders hervorzuheben ist die Integration der angelsächsischen Forschung und ihre Umsetzung im Hinblick auf das deutsche Strafverfahren. (Die gute Gliederung erleichtert auch eine 'zielorientierte' Lektüre, doch leider fehlen Personen- und Sachregister). Die Arbeit zeigt freilich auch, daß noch Klärungsbedarf besteht, und zwar vor allem im Bereich der Integration unterschiedlicher theoretischer Orientierungen, etwa zwischen System- und Diskurstheorie. Daß mit derartigen Fragestellungen jedoch der Rahmen des Buches gesprengt worden wäre, deutet die Autorin in Anmerkungen und vor allem auch im Titel an.
Zusammenfassend möchte ich auf das Bild im Titel zurückgreifen: Die Bausteine stehen auf einem soliden Fundament, am weiteren Ausbau wird noch zu arbeiten sein, und zwar in interdisziplinärer Anstrengung. Gezeigt zu haben, daß man die Strafjustiz nicht den Juristen allein überlassen muß und soll, ist nicht das geringste Verdienst dieser Arbeit.
Anmerkungen:
1 Zur kulturellen Verankerung der Strafjustiz und ihrer (repressiven) Aufgaben vgl. jetzt Helga Cremer-Schäfer und Heinz Steinert: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie. (einsprüche 8) Münster 1998.
2 Dabei könnte ein Blick auf die Geschichte der 'modernen Strafjustiz' der letzten zweihundert Jahre durchaus Zweifel an der Effizienz des Zusammenspiels im Hinblick auf Abschreckung und Kriminalitätseindämmung aufkommen lassen.
3 In einer Glosse unter dem Titel "Narrare necesse est" hat der Strafrechtler Walter Grasnick vor einiger Zeit seiner Zunft vorgehalten, allzu unbeirrt am "Mythos des Gegebenen" festzuhalten: "Recht. Eine Kolumne. Narrare necesse est." In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 51 (1997), S. 720-725.
4 S. z. B.: Yifat Hachamovitch: "In Emulation of the Clouds: An Essay on the Obscure Object of Judgement." In: Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies. The Legality of the Contingent. Ed. by Costas Douzinas, Peter Goodrich and Yifat Hachamovitch, London 1994, S. 35-69.
5 Zitate aus Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. (1969) (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 443). Frankfurt/M. 1983, S. 19 f. Luhmann reflektiert an dieser Stelle auch das hartnäckige Überleben eines emphatischen Wahrheitsbegriffs in den (Selbst-)Beschreibungen der Strafjustiz: "In all diesen Verfahren verfestigt sich die Idee einer von Machthabern unabhängigen, ihnen entgegengehaltenen Wahrheit und Gerechtigkeit. Unter diesen Voraussetzungen und in dieser polemischen Perspektive gegen die Macht war es nicht möglich, den Sinn rechtlich geregelter Verfahren in der Legitimierung der Macht zu sehen." Im übrigen zeigt Luhmann auch, daß es fragwürdig ist, von einer "relativ autonom gesetzte[n] Rollenstruktur [...] Wahrheit im Sinne von einzig richtiger, alle überzeugender Lösung" zu erwarten. - Natürlich kann die Position des externen Beobachters auch von einem Juristen eingenommen werden, vgl. etwa Thomas-Michael Seibert: Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts. (Schriften zur Rechtstheorie, H. 174) Berlin 1996, S. 170. Von Seibert sind Anregungen für die Perspektiven Löschpers ausgegangen (vgl. S. 303 u. ö.), sein Buch ergänzt und bestätigt sie in vieler Hinsicht.