Was ist die Zeit? Diese Frage ist schwer zu beantworten und gab schon immer Anlaß zu unterschiedlichster Reflexion. Deshalb ist die Darstellung historischer Auseinandersetzungen mit Zeit schwierig. Zunächst, so könnte man meinen, dürfte der Gegenstand der Untersuchung zu klären sein, wenn man wie im vorliegenden Buch die Erfahrung von Zeit in der Ära der Revolutionen von 1789 bis 1848 zum Thema wählt. Geht es um das Erleben von Zeit in ihrer strukturierenden Funktion im Ablauf des Alltags, eines Jahres oder Jahrhunderts? Wird der Einfluß der unterschiedlichen Betrachtungsweisen, wie sie in den Naturwissenschaften oder in religiösen Kontexten entwickelt wurden, untersucht?
Eine Auseinandersetzung mit solchen und ähnlichen Fragen sucht man in der Tübinger Dissertation Wolfgang Ernst Beckers vergeblich. Sie handelt nicht von den vielfältigen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Zeit in einer bestimmten Epoche, sondern bestenfalls von einem Aspekt der Zeiterfahrung, wobei nicht immer klar ist, was der Autor meint, wenn er von Zeiterfahrung spricht.
Ihre Kontur gewinnt die Studie durch die Auseinandersetzung mit Thesen Reinhart Kosellecks. Dieser hat bekanntlich präzise Überlegungen darüber vorgetragen, wie sich in der Sattelzeit das Zeitbewußtsein veränderte.1 Becker verdichtet dessen Ausführungen zu einer Reihe von Thesen und versucht sie zu entkräften. Er stellt in Frage, daß sich während der sechs Dezennien zwischen Französischer Revolution und 1849 überhaupt ein Bruch im Zeitbewußtsein feststellen lasse. Einerseits meint er, daß man von der Herausbildung eines neuen Zeitbewußtseins schon deshalb nicht sprechen könne, da sich diese Annahme in der "Komplexität der Zeit- und Revolutionserfahrungen" (S. 367) verliere. Andererseits vertritt er die These, daß Revolutionen auch die Funktion gehabt hätten, "im Gegenteil gerade Kontinuität" (S. 21) zu stiften. Darüber hinaus ist er der Auffassung, daß Revolutionen nicht den Auslöser für einen veränderten Umgang mit der Geschichte darstellten. Meinte Koselleck, der alte Topos "Historia magistra vitae" sei während der "Sattelzeit" entwertet worden, da der Geschichtsverlauf nicht mehr als gleichförmig und wiederholbar begriffen wurde, so glaubt Becker dessen weitere Gültigkeit nachweisen zu können.
Die zur Beweisführung herangezogene Methode sucht Becker ebenfalls über die Kritik an Koselleck zu schärfen. Er wirft dessen Begriffsgeschichte vor, sie bleibe "letztlich in ideengeschichtlichen Traditionen" verwurzelt, beschränke sich auf "philosophische und literarische Spitzenzitate" und stütze ihre Ergebnisse, indem sie rein diachron und eindimensional allein die Ersterwähnung von Belegen analysiere. Heutzutage müsse man diesen Ansatz dagegen "kritisch in die neuere mentalitäts- und kulturgeschichtliche Diskussion" einbetten (S. 16f.) und erfahrungsgeschichtlich erweitern. Worin diese Erweiterung besteht, versucht der Autor zwar im Rekurs auf eine Reihe von wissenssoziologischen Arbeiten theoretisch zu erklären, doch werden die Einsichten bei der Quellenanalyse nicht operationalisiert. Dagegen analysiert Becker eine Fülle von Äußerungen über den Stellenwert von Revolution und ordnet letztlich drei politischen Strömungen unterschiedliche Deutungsmuster von Revolution zu, die überdies unter sich verändernden politischen Vorzeichen auf ihre Kontinuität hin überprüft werden. Dabei stellt er fest, daß Konservative, Liberale und Demokraten Revolution in je unterschiedlichen zeitlichen Verlaufsmodellen thematisierten. Während Konservative sich von einer Revolution einen Rückschritt erwarteten, hätten sich Liberale eine Beschleunigungsfunktion für bereits eingeleitete Reformen erhofft. Einzig das demokratische Lager habe in den revolutionären Ereignissen einen möglichen Bruch mit der Vergangenheit gesehen und überdies einen "fatalistischen Naturprozeß" (S. 355), der sich der Möglichkeit menschlicher Einwirkung entziehe. Stellt man in Rechnung, daß dies alles auf der Grundlage von politischen Schriften herausgearbeitet wird, die vornehmlich aus Zeitschriften und Zeitungen stammen, die jedoch weder im Kontext von Alltagserfahrungen verankert, noch biographisch, sozialgeschichtlich oder politisch-institutionell rückgebunden werden, so muß offen bleiben, worin der methodische Gewinn dieses Ansatzes besteht.
Es liegt vor allem an der nur unzureichend reflektierten Begrifflichkeit, daß die Unterschiede zur Auffassung Kosellecks nicht deutlich werden. Innerhalb der Argumentation scheinen die unterschiedlichen Zeitmodelle der drei politischen Strömungen zum einen offenbar so etwas wie die empirische Basis für die Auffassung zu bilden, daß sich das Neue Zeitbewußtsein in der Komplexität der Zeit- und Revolutionserfahrung verliere. Andererseits betont der Autor, daß es sich bei diesen Modellen um Kompensationsmuster handle. Diese seien entwickelt worden, um einer Ohnmachtserfahrung zu entkommen, die sich angesichts einer als übermächtig empfundenen Zeit einstellte und haben damit nicht den Stellenwert von unmittelbaren Zeiterfahrungen. Mit dieser Feststellung ist zugleich anerkannt, daß sich in Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution doch so etwas wie neues Zeitbewußtsein ausgebildet hat. Ist dies erstmal zugestanden, so wird auch die These, daß eine Revolution gerade auch Kontinuität stiften könne, unverständlich. Offenbar ist sich der Autor über den Unterschied zwischen einem Zeitbewußtsein, das man sich nicht aussuchen kann und den zeitlichen Verlaufsmodellen, die eher der metaphorischen Illustration des politischen Deutungskampfes um den Stellenwert von Revolution dienen, nicht immer bewußt.
Behält man diese grundlegende Unterscheidung im Hinterkopf, so bleibt zu überprüfen, wie leistungsfähig der Ansatz für die Analyse der sich in Auseinandersetzung mit der Revolution ausbildenden Kompensationsmuster ist. Ein grundsätzliches Problem scheint mir in der zeitlichen Begrenzung des Untersuchungszeitraumes zu bestehen. Becker beginnt seine Untersuchung mit den Ereignissen von 1789 und will zeigen, daß die Bedeutung der Revolution zunächst übersehen wurde und sich erst in Folge ihrer Radikalisierung und unter dem Eindruck der deutsch-französischen Kriege Ansätze für eine neue Zeiterfahrung auszubilden begannen. Hier wird der Französischen Revolution bereits a priori eine neue Qualität zugemessen, ohne zu hinterfragen, wie das Neue gegenüber dem Alten abzugrenzen ist. Dies ist m. E. bei einer Untersuchung, die sich in Anlehnung an Fritz Valjavec mit der Herausbildung der politischen Strömungen befaßt, jedoch notwendig, da deren Anfänge ja bereits vor 1789 beobachtet werden können.2 Auch hätte die Untersuchungszeitraum wesentlich weiter gefaßt werden müssen, um das Konzept der "Sattelzeit", das ebenfalls bereits vor der Französischen Revolution greift, fundiert kritisieren zu könne.
Zum anderen scheint mir die Unterscheidung in drei politische Richtungen, auch wenn man seine Begriffe idealtypisch verstanden wissen will, gerade für den ersten Teil der Studie nur bedingt anwendbar. Becker selbst legt Wert darauf, daß sich eigentlich erst die Zeit nach 1830, als die Etablierung und Differenzierung einer kritischen Öffentlichkeit nicht mehr aufzuhalten war, entlang dieser politischen Strömungen untersucht werden kann und damit diskreditiert er die Leistungsfähigkeit seines Ansatzes für die Zeit davor. Tatsächlich wird nur eine sehr begrenzte Perspektive auf den Umgang mit Revolution eröffnet. Nicht nur deshalb, weil allein auf der Ebene des Diskurses argumentiert wird, sondern auch weil die politischen Zuordnungen meist pauschal, je nach politischem Standort des Publikationsorganes vorgenommen werden. Das angestrebte Untersuchungsziel, die sozialräumliche Verortung der sich herausbildenden politischen Strömungen vor dem Hintergrund der Zeiterfahrungen herauszuarbeiten, gelingt nur partiell.
Die wesentliche Ergebnisse der Arbeit können rasch zusammengefaßt werden. Während also zunächst dargestellt wird, daß sich in Deutschland ein neues Zeitbewußtsein erst zeitlich verzögert herausgebildet habe und im Zusammenhang damit die Kompensationsmuster entwickelt werden, wird sodann die napoleonische Zeit verhandelt. Alle drei politischen Richtungen hätten Napoleon eine übersteigerte Bedeutung zugemessen und meinten nur er allein sei fähig, dem Zeitalter seinen Stempel aufzudrücken. Unterdessen entglitt Zeit dem menschlichen Zugriff und die Verfügungsgewalt darüber gewann man erst als die Hoffnungen auf Napoleon enttäuscht wurden und das Ausmaß der angerichteten Zerstörung ins Bewußtsein drang. Jetzt bot der Nationalismus ein neues Orientierungsmuster. Im Wechselspiel mit der Hoffnung auf die bereits eingeleiteten Reformen habe er einer neuen "Zeiterfahrung" zum Durchbruch verholfen. Erst jetzt sei die Möglichkeit wahrgenommen worden, einen Epochenumbruch "auf eine neue Zeit hin" (S. 145) zu gestalten.
Während bis hierhin eine kontinuierliche Entwicklung beschreiben wird, bricht diese mit den Karlsbader Beschlüssen ab. Dies kann nicht anders begründet werden als durch die Auswahl der Quellen. Der Autor verliert mit dem Verbot politischer Zeitschriften die Materialbasis für seine Untersuchung. Deshalb setzt er erst mit den Revolutionen von 1830 wieder an. Je nach politischem Lager unterschiedlich perspektivisch gebrochen, hätten sich jetzt die Zeitmodelle an einer unabweisbaren Fortschrittsdynamik ausgerichtet. Die politischen Strömungen gewannen deutlichere Konturen, ein Beziehungsgeflecht zwischen Personen und Gruppen gleicher politischer Überzeugungen begann sich herauszubilden, breite Schichten der Öffentlichkeit wurden politisiert. Darüber hinaus führten die angemahnten und doch verschleppten Reformen bei Liberalen und Demokraten zu einer gespaltenen Zeiterfahrung: Einerseits blieb die Hoffnung auf den Aufbruch in eine neue Zeit präsent, andererseits konnte diese Hoffnung nicht realisiert werden. Diese widersprüchliche Erfahrung zwischen Reformstau und Beschleunigung, zwischen Belebung der öffentlichen Diskussion und Stagnation, brachte es mit sich, daß Demokraten zuerst und Liberale sodann auf die Tradition rekurrierten. Sie versprachen sich von einer Revolution die Einlösung ihrer eigenen, in der Vergangenheit unverwirklicht gebliebenen Forderungen und Hoffnungen. Zwar schienen sich diese zu Beginn der Märzrevolution zunächst zu verwirklichen, doch ihr weiterer Verlauf ließ den Einstieg in eine einheitliche Fortschrittsbewegung als Illusion erscheinen und zeigte, daß die Gegensätze aus dem Vormärz bestehen bleiben würden.
Insgesamt liegt hier also eine Studie vor, die zwar mit der Frage nach der Zeiterfahrung im Zeitalter der Revolution ein bedeutendes und bisher noch kaum vermessenes Thema aufgreift, dieses jedoch nur unzureichend verhandelt. Das ist vor allem auf die Unschärfen im begrifflichen Instrumentarium zurückzuführen. Weder wird der Untersuchungsgegenstand geklärt, noch wird deutlich, was nun konkret unter Zeiterfahrungen zu verstehen ist. Darüber hinaus kann keine nachvollziehbare Gegenposition zu Koselleck entwickelt werden. Auch die Analyse der Revolutionsdeutungen, die ausschließlich auf der Ebene des öffentlichen Diskurses verbleibt, kann das angestrebte Ziel, die begriffsgeschichtliche Methode erfahrungsgeschichtlich zu erweitern, nicht leisten. In dieser Perspektive können sowohl Entstehungs- als auch Verwertungszusammenhang der unterschiedlichen Revolutionserfahrungen nur unzureichend erfaßt werden. Schließlich ist auch der Untersuchungszeitraum zu kurz gewählt, um qualitative Veränderungen im Umgang mit Zeit nach der Französischen Revolution adäquat beschreiben zu können. Die Frage, ob sich in der Ära der Revolution auch eine Revolution der Zeit bzw. ihrer Erfahrung vollzogen habe, wird, so scheint mir, noch einmal präziser unter die Lupe genommen werden zu müssen.
Anmerkungen:
1 V.a. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, zuerst: Frankfurt a. Main 1979.
2 Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815. Unv. Ndr. d. Erstausgabe v. 1951, mit einem Nachwort von Jörn Garber, Düsseldorf 1978.