C. Kalter: Die Entdeckung der Dritten Welt

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Titel
Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich


Autor(en)
Kalter, Christoph
Reihe
Globalgeschichte 9
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Campus Verlag
Anzahl Seiten
567 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Bernd Stöver, Universität Potsdam

In der Verwendung des Begriffs „Dritte Welt“ scheint bis heute eine Art grundsätzliche Diffamierung der Entwicklungsländer mitzuschwingen. Hinter der „ersten“, westlich-kapitalistischen und der „zweiten“, der sozialistischen Welt, ordnen sich demnach die Entwicklungsländer auf dem letzten, den dritten Platz ein. Dass nicht nur die Deutungs-, sondern auch die Begriffsgeschichte viel komplizierter ist, zeigt detailliert und überzeugend die Dissertation von Christoph Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, die schon 2011 im Frankfurter Campus-Verlag erschienen ist.

Der Begriff der „Dritten Welt“ wurde bereits 1952 durch den Demographen Alfred Sauvy geprägt – dies mag für viele schon eine Überraschung sein. Wenige Jahre später trat der Begriff parallel zur Entstehung der Blockfreienbewegung seinen Siegeszug zur Bezeichnung der Entwicklungsländer an. Sie sah die Situation der „Dritten Welt“ als Parallele zum „Dritten Weg“ der Non-aligned-Bewegung und deswegen als Chance der bisherigen Weltordnung etwas ganz anderes, etwas Neues entgegenzusetzen. „Wir haben von ihnen zu lernen“, zitiert Kalter das zentrale Sprachrohr, die Zeitschrift Partisans, was vor allem meinte, die Fehler der anderen zu vermeiden.

In der weit über 500 Seiten starken, detaillierten Untersuchung geht es aber um viel mehr. Christoph Kalter hat sich daran gemacht, neben der Begriffs- und Deutungsgeschichte der Politisierung „des Konzepts Dritte Welt“ und ihren Folgen nachzugehen. Deswegen versteht er seine Arbeit zu Recht in erster Linie als „Beitrag zur Historisierung“ einer „Schlüsselkategorie der sozialwissenschaftlichen, politischen und kulturellen Weltauslegung in der Nachkriegszeit“ (S. 17). Schwerpunkt sind die 1950er bis 1970er Jahre. Ein deutlicher Fokus liegt allerdings auf der Zeit „um 1968“. Auch das macht Sinn, wenngleich er sein Fazit weit darüber hinaus zieht.

Methodisch geht der Autor in seiner Analyse in zwei großen Schritten vor: Während es ihm im ersten Teil um die sich wandelnde Perzeption des neuen Weltbilds geht, wird im zweiten Teil die Dritte Welt als Idee in der französischen neuen radikalen Linken betrachtet. Als Grundlage seiner Untersuchung dient ihm neben einer Fülle von Sekundärliteratur ein umfangreicher Bestand an politischen Schriften und Filmen sowie Artikeln verschiedener Periodika. Mit ihnen folgt er unter anderem den unterschiedlichen Globalisierungs- und Dekolonisierungsdebatten. Für sich bereits ein Wert ist, dass er neben der Zeitschrift Partisans die „graue Literatur“ benutzt, als die ein Großteil der Periodika publiziert wurde. Ein Beispiel dafür ist Libération Afrique. Überdies wertet der Autor unterschiedlichste Archivalien aus, vorwiegend aus der Parti Socialiste Unifié (PSU) und aus dem Verein Cedetim. Lücken in der Überlieferung füllt der Autor mit Aussagen aus Interviews mit 23 „Zeitgenossen“. Allein das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst über fünfzig Seiten.

Der Autor führt den Leser in seiner tour d’horizon nach einer detaillierten Einleitung zunächst durch die politischen Debatten um die „Dritte-Welt-Idee“ nach 1945 bis zur Gegenwart und in einer weiteren Vorrede durch die Geschichte der französischen Linken. Der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit liegt aber auf der neuen radikalen Linken, der Auswertung der Zeitschrift Partisans und schließlich der Praxis ihrer Politik.

Nachvollziehbar, dass die Arbeit deswegen am Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt, jener Zeit, als dieser Krieg und der Beginn des Indochinakriegs, in dem die französische Regierung vergeblich versuchte, ihr südostasiatisches Kolonialgebiet zu sichern, zur Grundlage der antikolonialen Kritik der französischen Linken wurde. Besonders intensiv wurde diese Debatte, wie der Autor zeigt, allerdings erst mit dem Beginn des Algerienkrieges 1954 – zu der Zeit also, als der Genfer Indochinakonferenz scheinbar einen einstweiligen Schlussstrich unter den Krieg in Südostasien zog. Die Debatte hielt allerdings weiter an, nun besonders heftig zunächst bis zum Ende des Algerienkriegs am Beginn der 1960er Jahre. Danach mündete sie fast ohne Unterbrechung in die Debatte um den amerikanischen Vietnamkrieg ein. Es war im Rückblick dieser Krieg, der für „die Achtundsechziger“ zum eigentlichen Bezugspunkt wurde.

Die Zeitschrift Partisans aus dem Verlag Editions Maspero, die für die Dissertation eine zentrale Quellengrundlage ist, wurde angesichts dessen nicht zufällig 1961 aus der Taufe gehoben. Mit dem Mauerbau in Berlin verschob sich der Fokus des Kalten Krieges für alle erkennbar auf die Dritte Welt. Mit ihren Beiträgen von Autoren „aller drei Welten“ wurde Partisans schließlich zur wichtigsten Plattform der extremen Linken. Entsprechend umstritten blieb sie allerdings auch. Im Anhang seiner Untersuchung stellt der Autor dankenswerterweise noch einmal die breite Palette der Autoren zusammen, die für Partisans schrieben. Den letzten Abschnitt des Hauptteils bildet dann die Untersuchung des Vereins Cedetim, eines 1967 entstandenen Ablegers der 1960 gegründeten Parti Socialiste Unifié. Der Verein war für die praktische internationale Arbeit zuständig, die gleichzeitig ein Netzwerk „zwischen den Welten“ sein sollte. Kalter gelingt es, auch die Spannungen plastisch darzustellen. Hier, wie schon an anderer Stelle, wird aus der Organisationsgeschichte, die der Autor referiert, auch eine Art biographisches Nachschlagewerk.

Abgeschlossen wird die Untersuchung mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse aus der Perspektive der Global- und Globalisierungsgeschichte. Hier zeigt der Autor noch einmal konzentriert auch die Schwächen des Dritte-Welt-Diskurses der französischen Linken, der in vieler Hinsicht doch überraschend traditionell-klassisch blieb und tatsächlich auch nicht wirklich den eigentlich so erbittert bekämpften Eurozentrismus überwinden konnte. Die Debatte blieb, so das Fazit Kalters, immer auch ein Kind ihrer Zeit – wie hätte es auch anders sein sollen? Aber er geht noch darüber hinaus: Bis in die unmittelbare Gegenwart hinterließ, so die These des Autors, die Debatte ihre Spuren: In der Diskussion und vor allem in „der Heftigkeit gegenwärtiger Konflikte um die Erinnerung an den Kolonialismus, um die ‚Ungerechtigkeiten’ globaler Wirtschaftsbeziehungen, um die Partizipationschancen von Migrantinnen und Migranten oder um die kulturelle ‚Identität’ westlicher Gesellschaften, in die das reiche, aber schwierige Erbe des linksradikalen Dritte-Welt-Bezugs eingegangen ist“, glaubt er sie zu sehen (S. 492). Wenn das keine Aktualität historischer Forschung ist.

Kalters Dissertation ist keine leicht lesbare Lektüre, obwohl der Autor dem Leser durch eine weitgehend angenehm zu lesende Prosa entgegenkommt, die allerdings ohne dissertationstypischen Jargon trotzdem nicht immer auskommt. Es lohnt sich aber, sich durch das komplizierte Geflecht der Debatten hindurchzubeißen. Einzuwenden gibt es bekanntlich für Rezensenten immer irgendetwas, häufig abhängig von seinen persönlichen Vorlieben. Der Rezensent hätte zum Beispiel gerne etwas mehr über die Radikalisierung der kambodschanischen Kommunisten um Pol Pot in Paris gelesen, die in den Fünfzigerjahren mit ihrem dortigen Cercle Marxiste die Grundlage für das mörderische Demokratische Kampuchea schufen und nicht nur laut eigener Aussage durch die französischen Debatten radikalisiert wurden. Insgesamt aber ist das Fazit eindeutig: Es ist eine wirkliche Lückenschließung auf dem Feld der Geistes- und Ideologiegeschichte des Kalten Krieges. Darüber hinaus ist das Buch gut geschrieben. Was will man mehr?

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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