Cover
Title
1964. Das Jahr, mit dem „68“ begann


Editor(s)
Lorenz, Robert; Walter, Franz
Series
Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen 7
Extent
375 S.
Price
€ 29,99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Nikolai Wehrs, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

In der „Süddeutschen Zeitung“ hat der Literaturwissenschaftler und Präsident der Freien Universität Berlin, Peter-André Alt, kürzlich im Rahmen eines leidenschaftlichen „Plädoyers für die Monografie“ unter anderem eine strengere Beschränkung der Publikation von Sammelbänden in den Geisteswissenschaften gefordert. Allzu häufig handele es sich bei diesen Bänden um bloße „Buchbindersynthesen“ ohne thematisches Profil, mit Hegel um ein „Hinausgehen der quantitativen Natur über die Qualitätsbestimmtheit“. Nur eine „strikte Auswahl der Vorhaben“ könne hier helfen. Vor allem aber, so Alt, müssten die „Kriterien seriösen Publizierens“ – wissenschaftliche Substanz statt „Tonnenideologie“ – bereits dem akademischen Nachwuchs in den Doktorandenschulen und Graduiertenkollegs gelehrt werden.1

Wer diesen Forderungen beipflichtet, nimmt von Beginn an nur mit Unbehagen einen Sammelband des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Hand, in dem jüngst der Institutsdirektor Franz Walter und sein Mitarbeiter Robert Lorenz diverse Beiträge ihres eigenen akademischen Nachwuchses zusammengebunden haben. Allzu deutlich lässt der Titel „1964. Das Jahr, mit dem ‚68‘ begann“ die Absicht durchscheinen, auf irgendeine Weise auch noch am „Supergedenkjahr“ 2014 zu partizipieren. Das Unbehagen steigert sich zum Ärger, wenn die steile These des Titels schon in der Einleitung umstandslos wieder kassiert wird. Natürlich sei „68“ nicht einfach das soziopolitische Kondensat von 1964. Der breite soziale Wandel, der im Jahr 1968 seinen „Kulminationspunkt“ erreichte, habe bereits in den späten 1950er-Jahren begonnen (S. 9). Doch sei 1964 wohl ein „Schwerpunktjahr“ für diesen sozialen Wandel gewesen: „In diesem Jahr gab es ein Sammelsurium von Phänomenen, die charakteristisch oder voraussetzungsvoll für den Topos ‚68‘ sind, jedoch eben nicht erst in jenem Jahr auftraten.“ (S. 31) Auch dass zum Thema des Bandes bereits „unübersehbare Mengen an Literatur“ vorliegen, wird ohne Umstände eingeräumt. „Indes: Gerade eine große Wissensfülle erfordert eine kritische Überprüfung; fest gefügte Kenntnisse können schnell den Weg zu alternativen Deutungen und Sichtweisen versperren, die jedoch manchmal für Korrekturen und Ergänzungen nötig sind.“ (S. 30f.) Mehr Legitimierung wird nicht geboten: keine Begründung der Themenwahl, keine Erläuterungen zum methodischen Vorgehen oder zum inhaltlichen Aufbau, schon gar nicht die Skizzierung einer wissenschaftlichen Frage.

Ein Mensch freien Willens würde den Band an dieser Stelle zum Altpapier geben. Der gewissenhafte Rezensent liest sich dagegen durch die 18 Aufsätze, welche die jungen Mitarbeiter, Doktoranden und (zu einem erstaunlich hohen Anteil) die studentischen Hilfskräfte des Göttinger Instituts geschrieben haben (ergänzt um einen Beitrag von Walter selbst und ein gemeinsames Nachwort der Herausgeber), nur um am Ende festzustellen, dass alternative Deutungen oder Korrekturen der etablierten Sicht auf die 1960er-Jahre in dem Band nicht geboten werden. Mit wenigen Ausnahmen behandeln die ohne erkennbares Prinzip aneinandergereihten Einzelbeiträge altbekannte Felder der zeithistorischen Forschung und kommen zu altbekannten Schlüssen. Fairerweise muss betont werden, dass die meisten Autor/innen des Bandes eigentlich zu anderen Themen forschen, als sie hier bearbeitet haben. Tatsächlich sind viele der Beiträge schlicht aus der Sekundärliteratur zusammengeschrieben und daher ohne wissenschaftlichen Mehrwert. Der Eindruck drängt sich auf, dass hier einmal jeder seine Lieblingshausarbeit verwerten durfte. Es erscheint daher auch nicht angebracht, an dieser Stelle alle Aufsätze einzeln zu besprechen. Stattdessen sollen einige gemeinsame Strukturmerkmale der Texte herausgearbeitet werden.

Erstens zum Themenspektrum: Während die Herausgeber in Einleitung und Nachwort ganz auf den gesellschaftlichen Wandel in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre fokussieren, bedienen die einzelnen Beiträge neben vielen westdeutschen und einigen deutsch-deutschen Themen auch ein internationales Themenspektrum, das von der Apartheid in Südafrika bis zum Nahostkonflikt reicht. Im Prinzip ist das natürlich stimulierend. Nur wirkt gerade in diesen Aufsätzen die Verknüpfung zum übergeordneten Thema des Sammelbandes – 1964 als Vorläufer des „Eruptionsjahres“ 1968 – oftmals fadenscheinig. Großer Beliebtheit erfreuen sich außerdem popkulturelle Themen, wobei hier mit Minirock, Beatles und Rolling Stones vor allem klassische 1960er-Jahre-Stereotype aufgeboten werden.

Zweitens zur methodischen Herangehensweise: Sehr viele Autor/innen wählen ein biografisches Narrativ, um ihre Themen einzukreisen. Leider fällt die Wahl durchgehend auf die „üblichen Verdächtigen“ einer links bzw. linksliberal prononcierten „Heldenerzählung“ für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – Cassius Clay, Martin Luther King, Nelson Mandela, Willy Brandt, Jean-Paul Sartre und Herbert Marcuse. Nicht alle, aber viele dieser Beiträge sind in einem unreflektierten Modus der Identifikation verfasst. Leider sind hiervon auch zwei Beiträge zur Kunstgeschichte der 1960er-Jahre nicht frei, die ansonsten thematisch durchaus reizvoll sind: über Heinar Kipphardt und das Dokumentarische Theater sowie über die Aktionskunst von Joseph Beuys.

Drittens zum Sprachstil: Das vielleicht am stärksten verbindende Merkmal der einzelnen Texte ist das allseitige Bemühen der Autor/innen um eine populäre Darstellungsform. Vermutlich lautete die Vorgabe, „journalistisch“ zu schreiben. Das ist in der Umsetzung unterschiedlich gut gelungen. Viele Beiträge gehen gleich im ersten Satz in medias res: „25. Februar 1964, kurz vor 10 Uhr abends. Cassius Clay war nervös. Wieder und wieder ging er in Gedanken den Kampf durch: Liston kommen lassen. Zwei, drei Runden tänzeln, trippeln, kreiseln, ein paar Jabs, […] schlagen, laufen, schlagen. Float like a butterfly, sting like a bee. Vielleicht den einen entscheidenden Treffer anzubringen versuchen – Knockout, Weltmeister, was für ein Plan.“ (S. 33) Das gegenteilige Extrem bietet ein predigtartiger Text über die „Suspension des Ethischen“ im Vietnamkrieg: „Eine Episode innerhalb des 20. Jahrhunderts, in der die Flamme des Prometheus dem Menschen zum Unheil zu werden drohte […].“ (S. 287) Was unfreiwillige Komik angeht, kommen schadenfrohe Leser durchaus auf ihre Kosten.

Gerechterweise soll abschließend hervorgehoben werden, was von den Einzelbeiträgen dann doch gut gefällt. Da ist vor allem David Bebnowskis Aufsatz über die Ostermarschbewegung als organisatorischer Vorläufer der APO zu nennen – einer der wenigen quellengestützten Beiträge, zudem einer mit klarer Frage und eigenständigen Thesen. Auch gelingt es Bebnowski, ein differenziertes Bild der 1950er-Jahre zu zeichnen, während in vielen anderen Beiträgen die Deutung der 1960er-Jahre als Aufbruchsjahrzehnt zumindest implizit stark an einem überholten Stereotyp der 1950er-Jahre als Restaurationsjahrzehnt hängt. Ebenfalls eine originäre Forschungsleistung stellt Stine Margs Entstehungsgeschichte der „Stiftung Warentest“ dar. Besonders erhellend ist ein Beitrag von Roland Hiemann über die Gründung der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ (PLO) als „machtpolitischer Akt arabischer Regime“ (S. 307). Dies sind freilich auch die Beiträge, die sich am wenigsten um den Auftrag des Bandes scheren, das Jahr 1964 in einen Bezug zur Revolte von „1968“ zu setzen. Gut geschrieben ist ferner Michael Lühmanns Überblick zur innenpolitischen Situation der DDR von 1964. Das Nachwort der Herausgeber schließlich fasst konzis den zeithistorischen Forschungsstand zu den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik zusammen (man fragt sich, warum dies nicht in der Einleitung geschieht, wo stattdessen auf 20 Seiten Zeitungsausschnitte zusammengetragen werden, die belegen sollen, was 1964 alles an „Neuartigem“ geschehen sei). Der Band kommt also doch nicht zum Altpapier, sondern (natürlich!) ins Bücherregal. Dennoch, in einer idealen Wissenschaftswelt gäbe es Sammelbände dieser Art künftig nicht mehr.

Anmerkung:
1 Peter-André Alt, Artikelflut und Forschungsmüll. Ein Plädoyer für die Monografie, in: Süddeutsche Zeitung, 23.06.2014, S. 12.

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