Titel
L'Allemagne avant l'Etat-Nation. Le corps germanique 1648-1806


Autor(en)
Schrader, Fred E.
Reihe
Perspective germanique, hrsg. von Jacques Le Rider
Anzahl Seiten
167 S.
Preis
€ 9,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Matthias Middell, Zentrum für höhere Studien, Universität Leipzig

Obgleich eine lange Vernachlaessigung der Geschichte des alten Reiches in Forschung und Lehre der franzoesischen Geschichtswissenschaft zu verzeichnen ist, was besonders auffaellt, wenn man das Interesse an der Geschichte des Ancien Regime in Frankreich dagegenhaelt, will der vorliegende Essay nur nebenbei eine Einfuehrung in die neuere Forschung zum deutschen 17. und 18. Jahrhundert geben. Vielmehr geht es dem Verfasser, Professor an der Universitaet Paris 8, in einer problemzentrierten Darstellung mit einem ausfuehrlichen Quellenanhang um die Frage, wie sich das Verstaendnis von "Deutschland" vor dem Paradigma der Staatsnation entwickelt hat. Parallel zur Erfindung der franzoesischen Einheit aus der Idee des Koenigstums, der mittelalterlichen Nation und der Citoyennete verfolgt Schrader die Reichsgeschichte auf das Deutschlandbild, das in der Reichspublizistik wie in den Schriften des grossen Nachbarn jenseits des Rheins geformt wurde, wenn man so will also: die Vorgaenge der Erfindung Deutschlands vor 1806. Seine Absicht ist es dabei, ein Paradigma freizulegen, in dem die Diversitaet der einzelnen, spaeter nationalen Raeume zwar durch eine gemeinsame, aber eben noch nicht durch eine unifizierende Idee zusammengehalten wurde. Dieses Paradigma, und hier erweitert sich der gewaehlte Ansatz zur Aktualitaet europaeischer Geschichte, scheint dem Verfasser am Ende des 20. Jahrhunderts politisch geeigneter und durch die neuere Historiographie ueberzeugend rekonstruiert.

In einem ersten Teil eroertert der Verfasser die politischen Institutionen des Reiches nach 1648 und die ihrem Zusammenwirken zugrundliegenden juristischen Konzepte. Anhand der Konflikte um die spanische und oesterreichische Erbfolge entwickelt Schrader eine neue Logik des im Reich vorherrschenden diplomatischen Handelns, die auf die Bewahrung des Gleichgewichts und die Anerkennung der Unterschiedlichkeit gegen jede Einigung "von oben" gerichtet war. Er modernisiert diesen seit laengerem verfolgten Ansatz jedoch insofern, als er die Ideengeschichte um die Geschichte der Sozialisierung der Diplomaten als neuer kultureller Schicht ergaenzt.

Diese kulturgeschichtliche Sicht auf das alte Reich setzt der Verfasser im zweiten Teil des Buches fort, indem er den Repraesentationen "Deutschlands" nachgeht und sie zwischen dem Westfaelischen Frieden und der tiefen Identifikationskrise am Ende des 18. Jahrhunderts rekonstruiert, in der nicht nur die Reichsinstitutionen verschwanden, sondern eben auch die Aktualitaet und Glaubwuerdigkeit der Symbole, Rituale und Regeln, die das Alte Reich ausgemacht hatten. Die nachfolgende identitaere Synthese kam im Zeichen der Nation zum Tragen. Sein Interesse bezieht dieser zweite Teil vor allem auch aus der Konfrontation mit der Repraesentation des Reiches in der franzoesischen Politik und Publizistik. In Frankreich wurde das Reich von Ludwig XIV. bis zu Napoleon I. systematisch als Confederation germanique bezeichnet und damit die zentrifugale Tendenz gegen jede Hierarchie innerhalb des Reiches betont. Vor dem Hintergrund eines Einheitsstaates, der Frankreich bei allem Streit um Zentralisierung und Dezentralisierung zunehmend sein wollte, konnte das komplexe Gebilde eines rechtlich geregelten Zusammenschlusses von Mitgliedsstaaten/Mitgliedsterritorien mit unterschiedlichem Status nur missverstanden werden. Schrader zeigt, wie dieses Missverstaendnis konstitutiv fuer eine Reihe von Folgerungen im Konzept der Staats-Nation im 19. Jahrhundert wurde.

Ein Anhang mit Dokumenten vom Friedensschluss 1648 in Muenster und Osnabrueck ueber Texte von Leibniz und Friedrich II. bis zur Erklaerung des Rheinbundes und der Abdankung Franz II. 1806 gestattet den Nachvollzug der Argumentation zur historischen Semantik.

Wie die vorangegangenen Baende der Serie "Perspectives germaniques", in der Kulturhistoriker aus dem Bereich "civilisation" (was nur ungenuegend mit dem deutschen Pendant Landeskunde wiedergegeben waere) in der franzoesischen Germanistik und aus der Geschichtswissenschaft zu Wort kommen, ergaenzt auch dieser die traditionellen Arbeiten zum deutsch-franzoesischen Vergleich vorzueglich um die Perspektive der wechselseitigen Beeinflussung, Wahrnehmung und Vermittlung zwischen den Kulturen und traegt damit zur Exemplifizierung des zugrundeliegenden Kulturtransfer-Konzeptes wesentlich bei.

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