Über die Ursachen des Ersten Weltkrieges ist viel geschrieben und viel gestritten worden. Die Debatten innerhalb der deutschen Historiographie konzentrierten sich vor allem auf die Frage: Trug die Führung des Deutschen Reichs die Verantwortung für die Auslösung eines Krieges, der rund 10 Millionen Menschen das Leben kostete und das der Überlebenden grundlegend veränderte? Mittlerweile dürften kaum noch Zweifel darüber bestehen, daß die Entscheidungsträger des Kaiserreichs zwar nicht allein, aber doch hauptsächlich für den Ausbruch des Krieges verantwortlich waren. Inwieweit die Reichsleitung bei ihren Entscheidungen unter dem Druck der radikalen Rechten stand, die durch eine öffentlichkeitswirksame extrem nationalistische und aggressive Agitation die Politik zu beeinflussen suchte und mit welchem Erfolg dies gelang, ist ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der Nationalismusforschung (Chickering, Peters, Kennedy/ Nichols).
Daß im Vorfeld des Ersten Weltkrieges auch die Presse im allgemeinen Einfluß auf die Entscheidungen der politischen Führung ausübte, wurde zwar in zahlreichen Forschungsarbeiten hervorgehoben, bisher jedoch weder von Historikern noch von Kommunikationswissenschaftlern systematisch untersucht.
Den "Anteil der Massenkommunikation an der Entstehung des Ersten Weltkrieges" herauszuarbeiten (S. 61) und damit eine Forschungslücke zu schließen, ist das Ziel des Publizistikwissenschaftlers Bernhard Rosenberger.
Seine Studie konzentriert sich auf die Rolle der deutschen Presse im Zeitraum von der ersten Marokko-Krise 1905 bis zur Juli-Krise 1914. Ausgewählt wurden die Blätter, die mit einer verhältnismäßig hohen Auflagenzahl erschienen und "das politische Spektrum der gesamten Tagespresse am ehesten repräsentieren" (S. 355): die Tägliche Rundschau, die Kölnische Volkszeitung, das Berliner Tageblatt und der Vorwärts.
Rosenberger beschränkt sich auf die Erforschung der Berichterstattung der Presse anläßlich politischer Krisen und kommt zu folgenden Ergebnissen: In der Zeit zwischen der ersten Marokko-Krise und dem Beginn des Ersten Weltkrieges habe die "Konflikthaltigkeit der Berichterstattung" beträchtlich zugenommen (S. 285). Bei der Bewertungen der Konfliktparteien sei immer stärker polarisiert worden; mit einer zunehmend positiven Darstellung der Mittelmächte sei eine immer negativere Zeichnung der Entente-Staaten einhergegangen (S. 288). Diplomatische Möglichkeiten der Konfliktbewältigung seien gegenüber kriegerischen Mitteln der Krisenbewältigung in den Hintergrund getreten (S. 291). Insgesamt, so die Schlußfolgerung, habe die Erörterung eines möglichen oder eines wahrscheinlichen Krieges in der Berichterstattung immer größeren Raum eingenommen (S. 294). Diese Tendenzen, verstärkt durch eine zunehmende Einheitlichkeit und Selbstreferentialität der Berichterstattung, (S. 296ff.) hätten einen künftigen Krieg zunehmend als einzige Option erscheinen lassen. Indem die Presse alternative Konfliktlösungen vernachlässigt habe, hätte sie einem Fatalismus Vorschub geleistet, der nicht nur das Denken und Handeln der breiten Bevölkerung, sondern auch das der politischen Entscheidungsträger maßgeblich beeinflußte. Somit sei die Presse indirekt an der Herbeiführung des Ersten Weltkriegs mit beteiligt gewesen (S. 323ff.).
Da der Autor Phasen politischer Entspannung ausblendet, wird das Krisenhafte in der Berichterstattung der Printmedien überbewertet. Wie wurde über zwischenstaatliche Beziehungen zwischen den Krisen berichtet? Wie über die kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten? Welche Bilder Englands, Frankreichs, Rußlands usw. wurden in weniger angespannten Zeiten in den unterschiedlichen Zeitungen entworfen? Diese Fragen bleiben völlig ausgeblendet und damit alternative, gegensätzliche oder auch widersprüchliche Positionen unberücksichtigt. Mit Bezug auf die "Theorie der Schweigespirale" werden aber auch die Stimmen, die sich gegen einen Krieg während der Krisenzeiten zu Wort meldeten, ausgeklammert; aufgrund des Medientenors seien die Kriegsgegner in Schweigen verfallen (S. 324f.). Daß diese Behauptung einseitig ist, daß sich Menschen, die eine Kriegsbeteiligung des deutschen Kaiserreichs entschieden ablehnten, sehr wohl vernehmbar zu Wort meldeten, zeigt etwa die Ende Juli 1914 von Sozialdemokraten organisierte Demonstration im Berliner Treptower Park, an der Hunderttausende teilnahmen.
Rosenberger bemüht sich zu zeigen, daß die Handlungsspielräume der Reichsleitung durch die Berichterstattung der Zeitungen eingeengt wurden, während hingegen ihr Einfluß auf die Printmedien beschränkt blieb. Dabei kommt der Autor nicht selten zu überspitzten Schlußfolgerungen. Zwar spricht einiges dafür, daß die Reichsleitung im Umgang mit der Presse noch ungeübt war und gelegentlich der Presse gegenüber "hilflos oder gar ohnmächtig" agierte. (S. 199). Überzeugend belegen kann Rosenberger seine These nicht. Er führt überwiegend Klagen führender Repräsentanten über die Macht und den Einfluß der Presse an, die weder kontextualisiert noch kritisch gegengelesen werden. Darüber hinaus werden Politiker, die sehr gezielt die Presse zur Durchsetzung ihrer Interessen einsetzten und sich als wahre Medienprofis entpuppten, nicht in die Untersuchung miteinbezogen (man denke etwa an die Flottenpropaganda des Nachrichtenbüros des Reichsmarineamts). Insgesamt vernachlässigt der Autor den Aspekt amtlicher Pressepolitik vollkommen. Er zeichnet das Bild einer einseitig die Reichsleitung beeinflussenden Presse. Das dynamische und spannungsreiche Verhältnis von Pressevertretern und politischen Entscheidungsträgern, von Macht und Ohnmacht auf beiden Seiten findet keine Berücksichtigung. Diese Betrachtung führt nicht zuletzt zu einer Entlastung der politisch Verantwortlichen.
Rosenberger erforscht die Berichterstattung der Presse mit Hilfe quantitativer Inhaltsanalysen, von der er sich eine stärkere Standardisierung und Systematisierung der Untersuchungsergebnisse verspricht (S. 112). Artikel, die einen internationalen Bezug aufweisen, werden stichprobenartig (erste und zweite Marokko-Krise) oder voll erfaßt (Juli-Krise) und in verschiedenen Vorgängen codiert. Mit großem Aufwand kommt der Autor zu einer formalen Auszählung des Materials, eine qualitative Interpretation fehlt jedoch weitgehend. Seine Ergebnisse ermöglichen lediglich Aussagen über den Umfang der Berichterstattung und ihre allgemeinen Tendenzen.
Theoretisch stützt sich Rosenberger auf Ansätze und Modelle der Medienwirkungsforschung, die verschiedene Angebote zur Analyse des Verhältnisses zwischen Zeitungsberichterstattung und der Rezeption der Zeitungsinhalte, anbietet. Sie alle gehen von einem überwiegend passiven Medienkonsumenten aus. (S. 87f., 97ff.) Und hier wäre ein weiterer Kritikpunkt anzubringen: Rosenberger setzt voraus, daß die Zeitungsleser passiv die Botschaften der Zeitungsmeldungen empfingen und ungefiltert aufnahmen. Dabei differenziert er nicht zwischen unterschiedlichen Lesergruppen, sondern setzt bei allen stets die gleiche Medienwirkung voraus. Daß sich aber die Menschen je nach Vorwissen, Einstellung, sozialer Herkunft etc. das Gelesene auf unterschiedliche Weise angeeignet haben können, daß die Zeitungsleser durch ihre Interpretation des Gelesenen an der Sinnproduktion beteiligt waren, wird an keiner Stelle reflektiert. Empirische Belege für die Medienwirkung führt Rosenberger bis auf die oben erwähnten Zitate führender Repräsentanten nicht an. Damit bleiben seine Annahmen zur Medienwirkung weitgehend spekulativ.
Mögen einige Kritikpunkte Rosenbergers an der geschichtswissenschaftlichen Forschung - etwa, daß sich die deutsche Historiographie bisher zu wenig um kommunikations- und mediengeschichtliche Fragen gekümmert hat - durchaus berechtigt sein, die ständigen Wiederholungen ermüden auf die Dauer. Immer wieder bemängelt Rosenberger, daß Historiker öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung nicht präzise unterscheiden und oft eine unzulässige Gleichsetzung vornehmen. (S. 50ff.) Allerdings erfährt der Leser vom Autor lediglich, daß diese beiden Begriffe nicht deckungsgleich zu verwenden sind; definiert werden sie nicht. Darüber hinaus scheint Rosenberger historische Forschungsarbeiten nur selektiv zur Kenntnis genommen zu haben. Er bezieht sich überwiegend auf ältere Untersuchungen; neuere einschlägige Studien wurden von ihm nur vereinzelt zur Kenntnis genommen. Wie wenig sich Rosenberger mit den verschiedenen Ansätzen der Geschichtswissenschaft, auseinandergesetzt hat, wird deutlich, wenn er behauptet, die Geschichtswissenschaft sei wesentlich "geisteswissenschaftlich und damit hermeneutisch-qualitativ ausgerichtet" und beruhe "meist nur auf impliziten, sehr einfachen Modellen". Erst in jüngster Zeit würde "auch die Quantifizierung von historischen Sachverhalten angestrebt" und vereinzelt seien seit den 70er Jahren die Berührungsängste gegenüber sozialwissenschaftlichen Themenstellungen im schwinden (S. 106ff.). Die auch schon nicht mehr neuen Debatten zwischen Vertretern der Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte hat er offenbar nicht einmal zur Kenntnis genommen. Dies ist bedauerlich, sind doch gerade im Rahmen der Kulturgeschichte oder der kulturwissenschaftlich erweiterten Sozialgeschichte in der letzten Zeit verschiedene Versuche unternommen worden der Mediengeschichte einen angemessenen Platz einzuräumen (von Saldern/ Marssolek, Fritzsche).