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Titel
Erzählte Prekarität. Autobiographische Verhandlungen von Arbeit und Leben im Postfordismus


Autor(en)
Sutter, Ove
Reihe
Arbeit und Alltag
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Stefan Wellgraf, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Prekarität gehört – neben Hartz IV oder Neoliberalisierung – zu den zwar eingängigen, doch schwer fassbaren Schlagworten der moralisch aufgeladenen Debatten um die Verfasstheit gegenwärtiger westlicher Gesellschaften. Ove Sutter beabsichtigt in seiner am Wiener Institut für Europäische Ethnologie entstandenen und nun im Campus Verlag erschienenen Dissertation, den Begriff und das Alltagsphänomen der Prekarität mittels theoretischer Reflexion und empirischer Forschung zu erschließen.

Grundlegend für Sutters Herangehensweise ist erstens ein weites Verständnis von Prekarität, demnach diese aus dem gesellschaftstrukturierenden Prinzip der Lohnabhängigkeit im Kapitalismus folgt, sowie zweitens die post-marxistische Annahme eines konflikthaften Gesellschaftsmodells. Nach einer Phase der relativen Stabilität von Arbeitsverhältnissen ab den 1950er-Jahren kommt es Sutter zufolge seit den 1970er-Jahren im Zuge der Durchsetzung postfordistischer Regulierungsweisen zu einer erneuten Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen. Diese wird von den Betroffenen in besonderem Maße als existentiell verunsichernd erfahren, da sich in den Jahren zuvor ein an stabile Erwerbsverhältnisse gekoppeltes Modell des Normallebenslaufs etabliert hat und die eigenen Lebensverhältnisse an diesem gemessen werden. In dieser problematischen Konstellation gewinnen Formen des autobiografischen Erzählens als Mittel der Verarbeitung, Bewältigung und Kritik von prekären Beschäftigungsverhältnissen an Bedeutung. An diesem Punkt setzt nun Sutters eigene Forschung an. Er interviewte in Österreich 30 prekär erwerbstätige Personen unterschiedlichen Geschlechts aus den Bereichen der Erwachsenenbildung, der wissenschaftlichen Forschung und des Journalismus und nahm zusätzlich in einer späteren Forschungsphase an Protestaktionen diverser Gruppen teil. Sutter versteht sich dabei nicht nur als Beobachter, sondern schreibt sich als engagierter Begleiter und kritischer Forscher in die Kämpfe dieser sozialen Bewegungen ein.

Die Studie zerfällt in zwei Teile – zunächst etwa 150 Seiten zu Theorie und Methode und anschließend rund 150 Seiten zu den Fallbeispielen. Im Theorie- und Methodenteil wird sehr ausführlich und gut nachvollziehbar der Stand der wissenschaftlichen Diskussionen zu Prekarisierung und Postfordismus wiedergegeben. Die Forschungsperspektiven der Arbeitskulturenforschung sowie der volkskundlichen Erzähl- und Biografieforschung werden anschließend nicht einfach nur rekapituliert, sondern miteinander kombiniert, kritisch kommentiert und behutsam weiterentwickelt. Und schließlich wird auch der eigene Forschungsprozess detailliert dargestellt und gewissenhaft reflektiert. So lehrreich dieser Teil auch sein mag, so wirkt er doch manchmal etwas spröde. Die strikte Trennung von Theorie und Empirie ermöglicht zwar, sich zunächst den Theorie- und Methodenfragen umfassend und ungestört vom „Feld“ zu widmen, doch liegt umgekehrt genau darin auch ein Problem. Die separate Darstellung des Forschungsstandes resultiert wohl noch aus dem der Arbeit zugrundeliegenden Dissertationsverfahren. Für den Buchleser wäre es dagegen fesselnder gewesen, hätte Sutter die theoretischen Befunde in Auseinandersetzung mit dem Forschungsmaterial diskutiert. Auf diese Weise hätten sich auch Redundanzen und überflüssige Ankündigungen vermeiden lassen, etwa die mehrmaligen Verweise darauf, dass im späteren Verlauf der Studie aus Interviews Textpassagen zitiert werden würden.

Faszinierender ist der zweite Teil der Studie, in dem sowohl die desaströsen Folgen von Neoliberalisierungsprozessen deutlich hervortreten, als auch verschiedene Formen von autobiografischem Sprechen herausgearbeitet werden. Biografisches Handeln erfüllt bei den dargestellten Personen jeweils auf ganz unterschiedliche Weise das Ziel, eine positive Sicht auf die eigene Person im Kontext gefährdeter Arbeitsverhältnisse zu behaupten. Angesichts prekärer Beschäftigungs- und Lebensbedingungen muss biografische Konsistenz erst durch performative Sprechakte hergestellt werden. Die damit verbundenen aktiven Selbstverortungen können als eine Form biografischer Selbstermächtigung verstanden werden, die affirmative und widerständige Momente enthält. Während sich einige der Befragten in ihrem Selbstverständnis eher systemkonform an den Erfolgsmustern des „unternehmerischen Selbst“ orientieren, kritisieren andere mehr oder weniger explizit die gegenwärtigen Verhältnisse oder organisieren sogar offene Arbeitskämpfe. Schließlich akzentuiert Sutter noch feine soziale Unterschiede in den Sprechweisen der Interviewten, etwa wenn er darauf hinweist, dass Frauen eher erzählen und Männer zur auktorialen Geste des Berichtens neigen. Die Beispiele werden anschaulich beschrieben und von Sutter einfühlsam diskutiert. Vielleicht hätte es sich noch angeboten, die auffallend häufige Kinderlosigkeit der Befragten zu diskutieren, zumal dies von den Interviewten auch selbst problematisiert wird (S. 287).

Das besondere Verdienst von Sutters Arbeit ist der lebhafte und differenzierte Einblick in die gegenwärtigen Arbeits- und Lebensverhältnisse von prekär Beschäftigten. Durch die geballte Wucht dieser von Prekaritätserfahrungen bestimmten Lebensgeschichten wirkt die Lektüre des zweiten Teils fesselnd und schockierend. Am Beispiel einer Wissenschaftlerin sowie einer Berufsberaterin lässt sich ein kleiner Einblick in Sutters Forschungsfeld gewinnen. Zum Beispiel arbeitet Jana Vansová nach einer Ausbildung als Krankenpflegerin und einem pädagogischem Studium zur Zeit der Forschung als Berufsorientierungstrainerin. Sie wuchs in der Slowakei auf und begann ihre Zeit in Österreich zunächst als undokumentierte Altenpflegerin für 650 Euro im Monat, eine Beschäftigungssituation, die sie im Rückblick mit Sklaverei gleichsetzt. Als Jobtrainerin kennt sie die Probleme und Bedürfnisse ihrer Kunden, denn zwischen ihren Anstellungen muss sie sich immer wieder selbst um neue Stellen bemühen. So macht sie etwa unbezahlte Praktika in einem Krankenhaus mit der Hoffnung auf eine Teilzeitanstellung als Krankenpflegerin oder arbeitet als Deutschlehrerin in der Slowakei. Trotz der schwierigen beruflichen Lage gelingt es ihr, ihre 20-jährige Tochter und ihre Verwandten in der Slowakei finanziell zu unterstützen. Durch Gottvertrauen sowie im Rekurs auf marktkonforme Ideale der Selbstverantwortlichkeit und der Eigeninitiative entwickelt sie eine positive und hoffnungsvolle Perspektive auf ihr Leben.

Sutters gelungene Studie bereichert die Debatten um Prekarität und Neoliberalisierungsprozesse um eine ethnografische Sichtweise, die theoretisch avanciert argumentiert und sich zugleich an den Selbstwahrnehmungen der Akteure orientiert. Sein methodisches und analytisches Vorgehen erweist sich als überzeugender Weg, um Lebensbedingungen im gegenwärtigen Kapitalismus und die damit verbundenen subjektiven Bewältigungsstrategien besser verständlich zu machen. Das sich im Verlauf des Buches abzeichnende Gesellschaftsbild ist ein beklemmendes und beunruhigendes, da Prekarität als systemimmanentes und allgegenwärtiges gesellschaftliches Phänomen erscheint, von dem auch gutausgebildete Personen betroffen sind. Sutter gelingt es durch seine geschickte Fokussierung auf biografisches Sprechen eine differenzierte und zugleich drastische Gesellschafts- und Kapitalismuskritik zu formulieren.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/