Ulrich Troitzsch, einer der bedeutenden Technikhistoriker, ist 60 geworden. Die zu seinen Ehren von Guenter Bayerl und Wolfhard Weber herausgegebene Festschrift, die unter dem vielversprechenden Titel "Sozialgeschichte der Technik" Schuelerinnen und Schueler, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kolleginnen und Kollegen zur Jubelschar vereint, kann sich sehen lassen. Sie zeichnet sich durch ihre stringente Gliederung aus, die das Buch zu einem in sich geschlossenen Ganzen macht. Es sind hier nicht eklektisch Artikel zusammengestellt worden, sondern sie alle sind einer Ordnung unterworfen worden, die das Lebenswerk Troitzsch widerspiegeln. (Fast) allen Aufsaetzen gemeinsam ist, dass sie in der einen oder anderen Form an Troitzschs Forschungs- und Wirkensschwerpunkte anknuepfen, die - wie Gabriele Wohlauf in ihrer sehr schoenen und herzlichen einleitenden Wuerdigung verdeutlicht - alle der (nicht nur universitaeren) Interdisziplinaritaet verpflichtet waren. Hier sind etwa sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Ansaetze zur Untersuchung der technischen Entwicklung zu nennen, Themen wie Alltags- und Umweltgeschichte, aber auch die thematischen Verbindungen zur fruehen Neuzeit, insbesondere der Kameralistik. Die Festschrift bietet sowohl Aufsaetze mit klassischen technik- und wissenschaftshistorischen Zugaengen, als auch solche, die neueste methodische Forschungsfragen diskutieren; Museumsleute nehmen mit Reflexionen ueber Ausstellungskonzepte ebenso an der wissenschaftlichen Diskussion teil, wie Praktiker, die von ihren Berufserfahrungen mit Geschichte berichten. Unter den vier grossen Kapiteln: "Disziplinisches", "Vor-, Frueh- und Industrielles", "Museologisches" und "Das gegenwaertige Jahrhundert" wird eine grosse Bandbreite der gegenwaertigen technikgeschichtlichen Forschung praesentiert.
Im ersten Kapitel entfaltet sich das Konzept des Bandes in seiner ganzen Vielfaeltigkeit. Unter "Disziplinisches" finden sich sieben Beitraege, die sich mit der Beckmannforschung als Teil der Disziplin (Hans-Peter Mueller), neuen methodischen und theoretischen Konzepten in der Technikgeschichte und deren interdisziplinaeren Anwendbarkeit (Reinhold Reith, Wolfgang Koenig, Torsten Meyer), der disziplinischen Verknuepfung von Technik- und Naturwissenschaft am Beispiel der Alchemie und der praktischen Anwendung der technikgeschichtlichen Ausbildung als "Sachverstaendige fuer die Durchfuehrung und Beurteilung von standortbezogenen Erhebungen (historische Recherche)" widmen (Klaus Schlottau). Einzig der Beitrag ueber Warenzeichen von 1300-1900 (Rainer Stahlschmidt) nimmt sich unter dieser Gliederung etwas fremd aus.
Eine interessante Verbindung von methodischer Diskussion und historischer Analyse der (Technik)Geschichtsschreibung liefert Mueller mit seinem Beitrag zur Beckmann-Forschung von 1987-1997. Es war Beckmanns schillernder und diskussionsuebergreifender Begriff der Technologie, die fuer den Kameralisten wie die Wirtschaft Ordnungsfaktor und nicht unabhaengig vom menschlichen Denken und Handeln war, der nicht nur Troitzsch nachhaltig in seinem methodischen Denken beeinflusst hatte. Mueller zeigt, wie der "typische Paradigmen-Dualismus" der Beckmann-Rezeption von ingenieurwissenschaftlicher Verehrung und belaechelnder Ignoranz, durch die interdisziplinaere Betrachtungsweise einer neuen durchaus auch kontroversen Beckmannforschung erweitert worden ist.
Reinhold Reith bietet eine informative Zusammenstellung und scharfsinnige Analyse der gegenwaertigen Umweltgeschichte im Hinblick auf ihren disziplinaeren Charakter. In seiner Zwischenbilanz beurteilt er die Etablierung einer neuen Disziplin skeptisch, nicht nur weil die gegenwaertige Umweltgeschichte sehr heterogen ist, sondern gerade weil "Umwelt" kein abtrennbarer Aspekt menschlicher Aktivitaeten ist und deshalb alle (bestehenden) historischen Disziplinen herausfordert. Gleichzeitig formuliert er methodische Anregungen die mit der Betrachtung der Wirtschaft als geschlossenes System, das natuerliche Ressourcen nicht nur im unmittelbaren Produktionsprozess, sondern auch danach als Abfall (bisher Externalitaeten) umfasst, Umwelt-, Technik- und Wirtschaftsgeschichte verbinden sollen.
Ein wenig enttaeuschend ist der Beitrag von Wolfgang Koenig zur "Produktion und Konsumtion als Gegenstaende der Geschichtsforschung", wenn die neueren Beitraege wie etwa der ausladende Sammelband von Siegrist (Siegrist, Hannes/ u.a. (Hg), Europaeische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums, Frankfurt a.M. 1997.) oder Pierenkemper (Pierenkemper, Toni, Haushalte, in: Ambrosius, Gerold/u.a., Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einfuehrung fuer Historiker und Oekonomen, Muenchen 1996, 29-46) bekannt sind. Die berechtigte Kritik Koenigs an der Theorietradition der Produktionsdominanz ist in juengster Zeit doch bereits von verschiedenster Seite aufgegriffen worden. Der Artikel bietet aber eine Einblick in das breite Spektrum der aelteren theoretischen Literatur und differenziert vor allem den Begriff der "Konsumgesellschaft" mit einem Vergleich des 18. und des 20. Jahrhunderts.
Schliesslich plaediert Thorsten Meyer fuer den anregenden - und mehr zu ueberpruefenden - Ansatz, mit dem idealtyptischen Technikbegriff von Sombart nicht nur Auskunft ueber Einflussgroessen der Technikentwicklung, sondern auch die Verwendungszusammenhaenge von Technik im historischen Kontext anaylisieren zu koennen.
Im zweiten Kapitel konzentrieren sich elf Beitraege auf die Analyse von Produktionsprozessen und ihre technischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen. Besonders interessant fuer eine Technikgeschichte in der interdisziplinaeren Erweiterung sind hier die drei Beitraege (Wolfhard Weber, Karin Zachmann, Helmut Lackner), die die technische Entwicklung im Zusammenspiel mit dem wirtschaftlichen Handeln in einem politischen und gesellschaftlichem System verstehen.
Wolfhard Weber zeigt am Beispiel der "Maschine von Marly", einer Konzentration von vierzehn Wasserraedern zur Versorgung der Wasserspiele des Versailler Schlossparks, dass hier neue Technik (Pump- und Wasseranlagen fuer Fontaenen) erst einmal zur Prestige- und Luxusdemonstration in den Dienst der Herrschafts-Verklaerung gestellt worden ist, um im 18. Jahrhundert schliesslich in der vollen industriellen Verwertbarkeit aufzugehen (Dampfmaschine). Er kann deutlich machen, dass die Anlage im Schnittpunkt der Bemuehungen um die neue Wissenschaft im Baconschen Sinn und der antiken Aquaedukt-Technologie stand und beide Richtungen durch ihre Vertreter in Wissenschaft (Papin, Rannequin, etc.) und Politik (Colbert, Louvois) als Konzentration der Kraefte um einen politischen Herrscher ihre Spuren hinterliessen. Karin Zachmann kommt mit ihrer Studie zum kursaechsischen Merkantilismus zum Ergebnis, dass er sich besonders durch seine produktionszentrierten Ansatz der Staatswirtschaftspolitik auszeichnete, der einen fruchtbaren Boden fuer die Entwicklung des technologischen Denkens bildete. Sie zeigt sehr deutlich, wo und wie stark staatliche Wirtschaftsfoerderung gewirkt hatte und wo sie trotz vorhandener Konzepte keine Wirkung gezeigt hat. Schliesslich greift Helmut Lackner noch einmal eine begriffsgeschichtliche Fragestellung auf, um am Beispiel der "Knappheit" Wandel in der Wahrnehmung von und im Umgang mit knappen Ressourcen nachzuweisen und schliesslich einen Beitrag zur Mentalitaetsgeschichte zu leisten.
Der Aufsatz zu den Bindungsvorschriften (Walter Endrei), das sind Webnotationen, die die Struktur und das Muster eines Gewebes bestimmen, fuehrt in den Mikrokosomos des Produktionsprozesses und bietet gleichzeitig einen Anstoss zur Vorgeschichte der Lochkarten und des Computers, da die Webnotationen bereits seit dem 16. Jahrhundert auf dem binaeren Zahlensystem aufbauten. Mit den Beitraegen zur Geschichte von 312 1860 nach Russland ausgewanderten Bergleuten (Werner Korker) und zur Bedeutung der Qualifikation der Maenner hinter den Waffen fuer die Qualitaet der Streitkraefte (Volker Schmidtchen) werden auch Menschen im Produktionsprozess untersucht. Als Teilaspekt der Produktionsvoraussetzungen gelten der Professionaliserungsprozess der Ingenieure (Thomas Haenseroth), wie auch einzelne Personen und ihr Forschen und Wirken, zu sehen an den Beitraegen zu Agricola und das Wismut (Kurt Mauel) im 16. Jahrhundert, Wallis und die Anwendung der Algebra auf technische Fragestellungen (Christoph J. Scriba) im 17. Jahrhundert, Rumford und seine technischen Innovationen (Karl Pichol) im 18. Jahrhundert, Jahnke und Tolle und die Anfaenge der Vektorrechnung in der "Huette" (Karin Reich) im 19. Jahrhundert.
Im dritten Kapitel wechselt das Thema zum "Museologischen". Hier finden sich ausnahmslos lesenswerte Artikel, die ein neues Feld der Diskussion eroeffnen. Bisher hatte die Auseinandersetzung um Museumskonzeptionen in einem wissenschaftlichen Umfeld in Deutschland Seltenheitswert, hier wird nun endlich an die englischsprachige Tradition angeknuepft. Die ersten beiden Beitraege (Guenther Gottmann, Juergen Teichmann) liefern gut durchdachte und anregende Ueberlegungen zur allgemeinen Aufgabe und Ausstellungspraxis von technischen Museen. Gottmann thematisiert den schwierigen Umgang mit der Darstellung des "technischen Fortschritts", Teichmann setzt sich fuer die Mythologisierung als einer Moeglichkeit der musealen Erzaehlkunst auseinander. Drei weitere Artikel stellen Projekte im Planungs- und Ausfuehrungsstadium vor und erlaeutern ihre Konzeptionen: Klaus Mauersberger die Sammlungen der TU Dresden, Ingo Heidbrink die Abteilung Hochseefischerei im Deutschen Schiffahrtsmuseum und Gerhard A. Stadler das Projektvorhaben Erdoel-Museumspark-Zayatal. Schliesslich zeigt Juergen Boenig anhand einer Druckmaschine in eindruecklich Weise, welche Quellenkraft technische Artefakte besitzen.
"Das gegenwaertige Jahrhundert" als letztes Kapitel vereinigt die unterschiedlichsten Themen. Hier dominieren vor allem sozial- und kulturgeschichtliche Ansaetze, die die Rolle der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bei der technischen Entwicklung und ihre Aneignung von Technik ins Zentrum stellen, wie im Beitrag zur Laermbekaempfung in der Zwischenkriegszeit (Joachim Braun), der Nutzung des 1930 entwickelte Instruments Trautonium (Sven Tetzlaff), das von einem Avantgardeinstrument zu einem von der nationalsozialistischen Propaganda verwendeten "Volksinstrument" wurde, und der Erfindung des Autofahrens (Guenter Bayerl). Daneben finden sich auch klassisch politikwissenschaftliche (die Nutzung der Bodenschaetze auf Groenland durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg (Lothar Burchardt)) oder technikgeschichtliche (Geschichte der drahtlosen Telegrafie in der Schiffahrt (Lars U. Scholl)) Studien. Schliesslich liefert Joerg Petersen eine Zusammenschau zum Thema Technik in der Publizistik der Arbeiterbewegung.
Das Buch bietet mit seinen vielen kleinen Artikel, die meist nicht laenger als zehn Seiten sind, einen anregenden Ueberblick ueber einen grossen Teil der "Sozialgeschichte der Technik" und vielfaeltige neue Forschungs-Anstoesse. Auffaellig ist dabei, dass sich die Technikgeschichte von einer internalistischen Geschichtsschreibung geloest hat. Auch wenn gewisse Relikte noch nicht ganz verschwunden sind, so ist sie einer "Sozialgeschichte der Technik" naeher denn je. Dazu hat der Jubilar ein grosses Scherflein beigetragen.