Cover
Titel
Theatergeschichte. Eine Einführung


Autor(en)
Kotte, Andreas
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Lau, Institut für Theaterwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München

Andreas Kotte legt mit seiner Theatergeschichte eine Darstellung des europäischen Theaters von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart vor. Mit seinem ungewöhnlichen historiografischen Konzept stellt er sich dabei radikal gegen den Mainstream. Vielleicht wäre deshalb die Bezeichnung „Eine Problematisierung“ treffender gewesen als der von Andreas Kotte gewählte Untertitel „Eine Einführung“. Als Einführung etwa für Studienanfänger eignet sich dieses Buch denn auch schon deshalb nur bedingt, da zum Verständnis der gewählten Beispiele schon einiges Vorwissen vorausgesetzt wird. Anstatt den Leser mit „wohltemperierten und abgewogenen Fakten“ (S. 15) an der Hand zu nehmen, ist es Kottes erklärtes Ziel, direkt zu noch offenen Forschungsfragen hinzuleiten, die sonst in der Einführungsliteratur gerne unterschlagen werden. Gesicherte geschichtliche Fakten vermittelt er dagegen meist eher beiläufig auf dem Weg zu Problemen der kohärenten Darstellung.

Der Mainstream, gegen den Kotte sich mit seinem Geschichtskonzept wehrt, wird gleich in mehrfacher Hinsicht hinterfragt. Zunächst fällt auf, dass er den Beginn der Theatergeschichte nicht wie sonst meist üblich in der griechischen Antike ansetzt, der Zeit als angeblich Thespis das Theater erfand und institutionalisierte, sondern diese scheinbare Geburtsstunde als willkürliche Setzung beschreibt und dies durch eine besonders gute Quellensituation begründet. Als viel wahrscheinlicher erscheint ihm, dass szenische Vorgänge, die seiner Definition nach „hervorgehoben und konsequenzvermindert“ (S. 27) sein müssen, um als solche zu gelten, schon vor ca. 40.000 Jahren entstanden, in einer Zeit also, als der Mensch sich Jagdszenarien vergegenwärtigte und in der sich nachweislich auch Musik, Malerei und Tanz ausprägten. Die Frage, ob solche szenischen Vorgänge Theater genannt werden, hinge allein von der Haltung des einzelnen Zuschauers ab und sei somit für die Annahme der Existenz von Theater unwesentlich. Dass bisher kaum Belege für ein so frühes Auftreten szenischer Vorgänge entdeckt wurden, führt Andreas Kotte nicht auf deren Nicht-Existenz zurück, sondern auf das allgemein flüchtige Wesen aller Theaterformen, insbesondere wenn weder Texte noch spezielle Bauten existierten. Für ihn liegt der Grund für die häufige Annahme einer Geburt des Theaters im 6. Jahrhundert vor Christus an der grundsätzlich falschen Darstellung der Theatergeschichte als Entwicklungsvorgang. „Theater entwickelt sich nicht, es wandelt sich nur.“ (S. 405) Den zunächst naheliegenden Gedanken einer Evolution von Theater verwirft er radikal zugunsten einer sich teilweise überlappenden und sich gegenseitig nur manchmal bedingenden Herausbildung verschiedener Theaterformen.

Ein weiterer Standpunkt des Mainstreams, dem Andreas Kottes Theatergeschichte entschieden widerspricht, ist das sonst oft allzu leichtfertig angenommene Theatervakuum zwischen dem 5. und dem 10. Jahrhundert nach Christus – die Zeit zwischen dem Ende der antiken Theatertradition und der scheinbaren Neuerfindung oder Wiederentdeckung im Spätmittelalter. Als ausgewiesener Fachmann für mittelalterliche Theatralitätsformen erkennt er zwar eine durch fortschreitende Christianisierung bedingte „Schwerpunktverlagerung“ (S. 109) an, beschreibt diesen Wandel aber als weniger radikal als die meisten anderen Theaterhistoriker: „Es gibt weder […] bruchlose Kontinuitäten noch berührungslose Diskontinuitäten.“ (S. 139)

Dem durch den bewussten Verzicht auf eine homogene Darstellung der Theaterentwicklung drohenden Problem der mangelnden Übersichtlichkeit begegnet Andreas Kotte mit einer klaren, sich jeweils wiederholenden Kapitelstruktur, die dem Theatralitätskonzept seines Lehrers Rudolf Münz folgt, dem das Buch auch gewidmet ist. Die von Stefan Hulfeld weiterentwickelte Differenzierung des Münz’schen Entwurfs der Theatralitätsformen in Lebenstheater, Kunsttheater, Theaterspiel und Nichttheater dient Kotte als Vorlage für seine Kapitelgliederung. Seinem Grundkonzept treu bleibend, die gewählten Beispiele der Theatergeschichte nie hierarchisierend zu werten, beschreibt er die jeweiligen lebensweltlichen Voraussetzungen für verschiedene Formen von Theatralität und widmet sich erst danach den allgemein als Theater anerkannten Formen der darstellenden Kunst. Das dritte Unterkapitel ist dann den dem offiziellen Kunsttheater gegenüberstehenden Formen des Theaterspiels gewidmet, etwa der Narrenfigur, oder der Commedia dell’arte. Ein vierter Abschnitt behandelt, konsequent der asynchron-entwicklungsbetonten Geschichtsbetrachtung widersprechend, das Nebeneinander, die wechselseitigen Bezüge zwischen Theaterformen der jeweiligen Zeit. Komplettiert wird diese gelungene Darstellung zeitgenössischer Theatralität durch einen vorletzten Abschnitt, der auf Nichttheater eingeht, also auf theaterfeindliche oder theaterkritische Haltungen, die einen großen, oft unterschlagenen Einfluss auf den Wandel der Theaterformen hatten. Im letzten Kapitelabschnitt rundet eine Darstellung der jeweiligen Bühnenformen, der technischen Innovationen und Aufführungsbedingungen die Darstellung theatraler Formen im lebensweltlichen Zusammenhang ab. Durch die weit gefasste und klar strukturierte Perspektive der Kapitel gelingt es dem Autor, einen zwar bewusst und betont unvollständigen, aber dadurch umso ganzheitlicheren Eindruck verschiedener szenischer Vorgänge zu vermitteln und gleichzeitig auf Bezüge und Bedingungen zu verweisen, die das Entstehen theatraler Formen in der jeweiligen Gesellschaftsform erst ermöglichten.

Ein weiteres Problem jeder Theaterhistoriographie, das Andreas Kotte anspricht, wenn auch natürlich nicht vollständig löst, ist die Periodisierung der Geschichtsdarstellung. Er vermeidet es sowohl, einem einzelnen Kriterium zu folgen, wie etwa politischen Strukturen oder literarischen Strömungen, als auch möglichst viele Aspekte aufzunehmen. Beide Varianten würden seiner problemorientierten Herangehensweise nicht gerecht. Auch eine regionale Begrenzung stünde diesem Anspruch entgegen. In Kottes „weder zu eng- noch zu weitmaschig gewählt[er]“ Periodisierung, die „möglichst wenige Vorentscheidungen“ enthält, soll so „tatsächlich „Theatergeschichte“ den Gegenstand der Untersuchung bilden“ (S. 20). Dieses schwierige Vorhaben ist ihm großartig gelungen. Durch klug gewählte, teilweise ungewöhnliche Beispiele, die den jeweils betreffenden Zeitraum exemplarisch beleuchten, aber niemals vorgeben, diesen historisch maßgeblich zu definieren, wird sowohl ein deutlicher Eindruck vermittelt als auch auf offene Fragen und Probleme verwiesen: „[D]ie Vermeidung von Normativität, [ist] mit der Vorgabe eines festen Theaterbegriffs nicht erreichbar. Daher wird das dynamische Konzept der szenischen Vorgänge benutzt, welches das spielerische Hervortreten von Theater aus dem Lebensprozess betont.“ (S. 22)

So richten sich die Kapitel zurückhaltend nach Jahrhunderten, fassen manchmal mehrere zusammen und bieten zusätzlich schlagworthaft Begriffsanker wie „Theaterreformen und -reformer“ oder „Mythos Ausdifferenzierung“, die ein wenig Hilfe bei der Orientierung erlauben. Dass die Gewichtung der einzelnen Kapitel zuweilen erstaunt – das Kapitel zum Mittelalter etwa umfasst ca. doppelt so viele Seiten wie jenes zum 20. Jahrhundert – widerspricht Andreas Kottes Konzept keineswegs. Sein Anspruch ist es schließlich, sich gerade in die weniger erforschten Bereiche der Theatergeschichte vorzuwagen, sie an ihren dunklen Stellen zu erhellen und anhand der mit einem Überfluss an Quellen gut dokumentierten Zeiten eher Bezüge und Strukturen aufzuzeigen, um die Orientierung zu erleichtern. Gegen den natürlichen Hang sowohl der Wissenschaft als auch der Lernenden, eine weitgehend inkohärente, sich überlappende und in ihrer Entwicklung immer wieder abreißende Theatergeschichte vereinheitlichen und kategorisieren zu wollen stellt Andreas Kotte seine Darstellung, die im Unterschied zu vielen anderen Theaterhistorien mutig auf Lücken und Probleme zugeht. Statt Material anzuhäufen, wo dieses leicht zugänglich ist und ungesichertes Terrain zu meiden, geht er mutig gerade auf die Bereiche der Theaterhistorie zu, die sich gegen eine kohärente Geschichtswiedergabe zu sperren scheinen. So gelingt ihm nicht nur ein grandioses, weil die Lücken der Forschung nicht verbergendes Buch, sondern auch eine Beschreibung, die der Geschichte der szenischen Darstellung gerecht wird und diese, wo möglich, sinnvoll und verständlich nachzeichnet – eine für die Zukunft der Theaterwissenschaft richtungsweisende Theatergeschichte.

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