Titel
Sensation. Junge britische Kunst aus der Sammlung Saatchi


Autor(en)
Adams, Brooks; Jardine, Lisa; Maloney, Martin; Rosenthal, Norman; Shone, Richard
Erschienen
Ostfildern 1998: Hatje Cantz Verlag
Anzahl Seiten
224 Seiten mit 179 Abb.
Preis
DM 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Weckel

Der Titel "SENSATION" klingt vielversprechend und das derart geweckte Interesse an der Ausstellung im Berliner Hamburger Bahnhof wird keineswegs enttaeuscht. Ueber 300.000 Besucher pilgerten in die Royal Academy of Arts in London, wo sie vorher gezeigt wurde. Und der grosse Andrang in Berlin, rund 130.000 Leute haben sie besucht, hat die Veranstalter dazu veranlasst, die Ausstellungsdauer um fuenf Wochen zu verlaengern.

Schon in der Eingangshalle wird man von einem schauerlich grinsenden Haifischpraeparat empfangen, das, von einem Kasten aus Glas umgeben, in Formaldehyd eingelegt ist und voellig lebensecht wirkt. Diese erste Belastungsprobe fuer die Nervenstaerke ist eine Art Zugangspruefung. Wer hier erschrickt, sollte nur mit Vorsicht weiterschreiten, denn die folgenden Exponate koennen sensiblen Mitmenschen durchaus Nebenwirkungen verursachen. Damien Hirst hat den Haifisch eingelegt und von ihm sind noch weitere Praeparate zu sehen: verschiedene Fische und ein Schaf wecken das biologische Forscherinteresse; ein der Laenge nach zerteiltes Hausschwein, deren beide Haelften ueber eine Motorik auseinander- und wieder zusammenfahren, zeigen das Innere desselben. Schaurig wird es schliesslich bei einem Ensemble zweier Kuehe, die sozusagen in Scheiben geschnitten, alternierend zusammengestellt sind. Eine animalische Collage, die den sukzessiven Weg durch das Innere der Kreatur erlaubt. Man kann um jedes Einzelteil herumspazieren und seine Anatomie studieren. Fuer den Stadtbewohner, der die Milch nur aus dem Tetrapack kennt, ist dies sicherlich ein unvergessliches Lehrstueck; dem Landei, das seine Kuehe noch mit Namen ansprach, tut es in der Seele weh, das liebe Vieh derart zerstueckelt zu sehen.

Hat man die umstrittene Mannheimer Menschenwelten-Ausstellung besucht, in der Leiber in Acryl gegossen und in millimeterfeine Scheiben geschnitten wurden - natuerlich nur fuer wissenschaftliche Zwecke -, dann mutet diese Art der Sichtbarmachung tierischen Innenlebens eher veraltet an. Trotzdem verursacht sie einen Schauer, der das Gegrusel in Madame Tussaud's Wachsfigurenkabinett bei weitem uebertrifft.
Ueberhaupt scheint die Tradition der Praeparation und Reproduktion von lebenden oder ehemals lebenden Wesen eine wichtige Spur durch die Ausstellung zu ziehen. Der Frage: "Was ist das Lebewesen resp. der Mensch und was bleibt von ihm uebrig?" wird im besten materiellen Sinn nachgegangen. Ron Mueck modelliert Menschen in Wachs. Sie sehen verblueffend echt aus, nur die Groessenverhaeltnisse sind verschoben. Ein halbmeter grosser Mann, durch seine gespreizten Schwingen als Engel charakterisiert, sitzt sinnend auf einem Hocker. Man waere nicht erstaunt, wenn er den Kopf hoebe und vom Stuhle spraenge. Daneben ein zwei Meter hohes Gesicht, dass mit boesem Blick in den Raum starrt. Man zuckt unwillkuerlich zusammen und fuehlt sich in Gullivers Land der Riesen versetzt. Jede Bartstoppel, jede Wimper ist ganz realistisch eingepflanzt. Der Kopf ragt aus der Wand heraus, als waere diese aus Wachs und nicht er selbst.
Diese subjektiven, ersten Impressionen einer bedeutenden modernen Kunstausstellung werden hilfreich ergaenzt durch den dazugehoerigen, ausgezeichnet ausgestatteten Katalog. Neben kurzen Biographien der Kuenstlerinnen und Kuenstler, die ihre wesentlichen Stationen und zentrale Punkte ihrer kuenstlerischen Auffassung praesentieren, erleuchten fuenf Aufsaetze die Hintergruende dieser vielschichtigen Schau.

Norman Rosenthal, seit zwanzig Jahren Ausstellungssekretaer der Londoner Royal Academy of Arts, und Richard Shone, Mitherausgeber des Burlington Magazine und intimer Kenner der new britisch art-Szene naehern sich der Ausstellung aus einer betont historischen Perspektive. Rosenthals "Das Blut muss weiter fliessen" und Shones "Von "Freeze" bis House 1988-1994" stellen beide die initiatorische Gruppenschau "Freeze" ins Epizentrum der britischen Avantgarde, aus der schliesslich SENSATION erwuchs. Der Kuenstler Damien Hirst sammelte 1988 Kunstwerke seiner Kuenstlerkollegen und zeigte sie zugleich mit seinen eigenen in den Londoner Docklands. Die meisten jungen Kuenstler kamen aus dem progressiven Goldsmith-College: "Freeze" wurde fuer seine Professionalitaet, einen Thatcherschen Unternehmungsgeist und cleveres Marketing gelobt; die Ausstellung gilt als Produkt einer programmatischen Beharrlichkeit auf seiten des Goldsmiths-Kollegiums, als etwas fuer britische Kunsthochschulen ueberraschend Neues, und als Konter gegen die Vorherrschaft der figurativen Malerei." (Shone, S. 17). Ausgehend von dieser Initiation entwickelt sich in England eine provozierende Kunst, die in allen Sparten zu Hause und auch programmatisch ausgesprochen vielfaeltig ist. Einen gemeinsamen Nenner zu identifizieren, scheint vergeblich. Trotzdem versuchen die Autoren einige vage Gemeinsamkeiten herauszukristallisieren: Rosenthal beginnt mit dem Gemeinplatz, dass es der Kunst darum gehe, "das Gefuehl der Behaglichkeit zu erschuettern" (Rosenthal, S. 10). Dieses Ziel zeichnet die Avantgarde traditionell aus. Trotzdem scheint diese Feststellung hier besonders angebracht. SENSATION erschuettert und polarisiert. Kunst versteht sich wieder als explosiver Treibstoff fuer gesellschaftliche Diskussion.

Rosenthal hebt hervor, dass sich hier ein durchgaengig radikal neues Verhaeltnis zur Realitaet materialisiert. Thematisch stehen Probleme und Obsessionen der jungen Generation im Vordergrund. (Die Kuenstler sind altersmaessig ueberwiegend zwischen 30 und 40 Jahren alt). Shone stellt die formalen Methoden in den Vordergrund: Eklektizismus, Rezitationen, Kategorisierung und Klassifizierung: "Sie alle trieben, meist ganz unmittelbar, die Verknuepfung und Transformation von Bildmaterial aus dem urbanen Alltag voran" (Shone, S. 20).
Der dritte Aufsatz ist von Martin Maloney, der als Kuenstler, Kritiker und Kustos am Goldsmiths College lehrt. In "Everyone a Winner! Ausgewaehlte New British Art aus der Saatchi Collection 1987-1997" naehert er sich der Schau ueber die einzelnen Kuenstler. Waehrend die ersten beiden Aufsaetze vor allem Damien Hirst und seinem vermittlerischen Geschick gewidmet sind, geht Maloney auf die einzelnen Kuenstler und ihre Geschichten ein. Hier bekommt man endlich einige wichtige und dennoch angenehm zurueckhaltende Hintergrundinformationen ueber Traditionslinien und Zielrichtungen der Exponate.

Brooks Adams, Redakteur bei Art in America beschreibt in "Thinking of You: Aus der Sicht eines Amerikaners" die Wirkung der britischen Aufbruchsstimmung auf die amerikanische Kunst. Vor allem drei Aspekte erregen die dortige Aufmerksamkeit: erstens ihre "unerschuetterliche Coolness (cool mit einem Hauch toxischer Perversitaet)" (Adams, S. 37), zweitens ihr verspielter postkolonialer Neo-Viktorianismus und drittens eine gewisse sozialkritsche Attituede, die sogenannte Kitchen-Sink-Aesthetik. Die junge britische Kunst scheint der amerikanischen Avantgarde den Wind aus den Segeln zu stehlen.
Lisa Jardin, Professorin fuer Renaissance-Forschung am Queen Mary and Westfield College der University of London, wirft ihren Blick auf die private Kunstsammlung als Ausstellungskonzept. "Moderne Medici: Kunstmaezenatentum im England des 20. Jahrhundert" zieht Traditionslinien von der Renaissance in die Gegenwart. Mit dem Postulat, dass britische Sammler kaufen, was ihnen gefaellt (Jardine, S. 43), verweist sie auf die subjektive Auswahl von Kunst in einer privaten Sammlung wie der von Saatchi. Die Kultivierung des Subjektiven in den Kunstwerken spiegelt sich auf diese Weise auch in den Zusammenhaengen ihrer Praesentation.

Im Anschluss an die Aufsaetze werden die Kuenstler vorgestellt: Darren Almond, Richard Billingham, Glenn Brown, Simon Callery, Jake & Dinos Chapman, Adam Chodzko, Mat Collishaw, Keith Coventry, Peter Davies, Tracey Emin, Paul Finnegan, Mark Francis, Alex Hartley, Marcus Harvey, Mona Hatoum, Damien Hirst, Gary Hume, Michael Landy, Abigail Lane, Langlands & Bell, Sarah Lucas, Martin Maloney, Jason Martin, Alain Miller, Ron Mueck, Chris Ofili, Jonathan Parsons, Richard Patterson, Simon Patterson, Hadrian Pigott, Marc Quinn, Fiona Rae, James Rielly, Jenny Saville, Yinka Shonibare, Jane Simpson, Sam Taylor-Wood, Gavin Turk, Mark Wallinger, Gillian Wearing, Rachel Whiteread, Cerith Wyn Evans. Die rein alphabetisch Ordnung macht die Orientierung leicht.

Neben den Abbildungen ihrer Werke werden die Kuenstlerinnen und Kuenstler jeweils durch ein s/w-Portrait gezeigt. Gerade diese Portraits, die von Johnny Shand Kydd stammen, lohnen einen zweiten Blick! Die Abbildungen des Kataloges sind ausgezeichnet und, soweit es um Exponate geht, durchgehend farbig.
SENSATIONS zeigt viele, sehr beeindruckende und auch verwirrende Dinge. Wer es nicht geschafft hat, die young british art in Berlin zu entdecken kann auch nach London fahren. Die Ausstellung zeigte nur ein Bruchteil der Sammlung Charles Saatchis, der 1985 in London in einer "gekonnt umgebauten Farbfabrik in St. John's Wood" (Shone, S. 19) ein eigenes, privates Museum, die Saatchi Gallery, gegruendet hat. Wer dort vorbeikommt, sollte unbedingt einen Blick in das moderne britische Gruselkabinett werfen.

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