Obwohl ich selbst in den letzten Jahren eine Menge über die Soldatensender American Forces Network (AFN) und British Forces Broadcasting Service (BFBS) und deren Echos in der öffentlich-rechtlichen Radiolandschaft der Bundesrepublik geforscht habe, bin ich von der Gründlichkeit und dem angenehm journalistischen Ton dieser Arbeit überrascht worden.
In Anja Schäfers Studie wird die Geschichte von AFN unter allen nur denkbaren Blickwinkeln ausgeleuchtet. Die Autorin beschreibt die Gründung der Institution 1943 in Großbritannien und den Aufbau von AFN in Deutschland mit der Sendeanlage in Ismaning bei München 1945. Außerdem beleuchtet sie die sich wandelnden Programminhalte und die Wirkungsgeschichte der frühen Jahre. Nach 1965 verlor der Radiosender seine einst begeisterte und zahlreiche deutsche ‚shadow audience‘ wegen der bundesweit schrittweise eingeführten ‚Servicewellen‘ mit standardisierter Stundenstruktur, anglo-amerikanischer Popmusik, narrativer Moderation und formatierten Kurzbeiträgen. Die Historikerin kann deshalb ihr Buch über die AFN-Geschichte Mitte der 1960er-Jahre ausklingen lassen – AFN wird selbst Historie. Der Schwenk der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) weg vom anspruchsvollen Bildungsfunk mit stündlich wechselnden Inhalten hin zum populären und serviceorientierten Magazin zeigt die positiven Spätfolgen, die AFN bei der Hörer-Generation der nach 1945 Geborenen hinterlassen hat. Eine Generation von jüngeren Radiojournalisten, die alle AFN-Hörerfahrungen mitbrachten, war bereits in den Funkhäusern der ARD angekommen und prägte den neuen Stil einer modernen Radiowelt. Eine AFN-Gallionsfigur wie Bill Ramsey war vom AFN-DJ und Jazzsänger in Frankfurter Clubs zum swingenden, deutsch singenden Schlagerstar und TV-Entertainer geworden.
So verwundert es nicht, dass alle von Schäfers befragten Zeitzeugen, Publizisten und Literaten wie Günter Kunert oder Wolfram Schütte (hier wäre noch Peter Kurzeck und sein Roman ‚Keiner stirbt‘ erwähnenswert) von AFN und dem neuen Sound schwärmen und diesen medialen Mikrokosmos aus verordneter Lockerheit, coolem Lifestyle, Modernität und populärer Musik von Swing bis Rock ’n’ Roll, von Ella Fitzgerald bis Elvis Presley aufgesaugt haben. Viele deutsche Jugendliche fanden bei AFN ihre (manchmal vor den Eltern geheim gehaltene) Heimat.
In klarer Sprache und ohne überzogene Verwendung wissenschaftlicher Fachterminologie beschreibt die Autorin die zwanzig entscheidenden AFN-Jahre: vom Jahr 1943, in dem die Station als Informationsmedium der US-Army in Großbritannien ins Leben gerufen wurde, bis zum Ende der sogenannten ‚Goldenen Ära‘, als AFN den Sprung ins Fernsehzeitalter verpasste und Anfang der 1960er-Jahre überdies zu drastischen Sparmaßnahmen gezwungen wurde. Der Charme der Aufbruchsstimmung der 1950er-Jahre ging verloren, die populäre Musik aus den USA wurde in Europa von den Beatles, den Rolling Stones und der gesamten Beat-Ära in den Hintergrund gedrängt. Europas Popjugend hatte nach Blues und Rock ’n’ Roll einen eigenen Pop-Sound gefunden, der schnell von der Unterhaltungsindustrie vermarktet wurde und so den Weg auf die heimischen Plattenspieler fand. Ab 1965 wurden außerdem die ersten Jugendsendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wie die Europawelle Saar, die Radiothek des Westdeutschen Rundfunks oder der TV-Beat-Club von Radio Bremen ausgestrahlt.
Anja Schäfers hat ihre umfangreiche Untersuchung klar gegliedert, teilt sie in die historischen Dekaden (1940er-, 1950er-, 1960er-Jahre) und die zentralen Kapitel „Programm“ und „Hörerschaft“ auf. Die Autorin bietet eine exzellente, nahezu lückenlose Aufarbeitung der vorhandenen Quellen und kommt schon sehr früh auf das AFN-Erfolgsgeheimnis zu sprechen. Das auf junge Leute abgestimmte Musikformat aus Swing, Jazz, US-Entertainment, Country und Rock ’n’ Roll, die sonor plaudernden Stimmen der Moderatoren, das lässige amerikanische Englisch, die ungekünstelte Freundlichkeit (die Optimismus selbst in Zeiten der Krise signalisierte) und das DJ-Prinzip ließen AFN locker und authentisch erscheinen. Zudem knüpften die Moderatoren am Mikrofon über Call Ins gerne Hörerkontakte, spielten Musikwünsche, die via Postkarte waschkörbeweise eintrafen, und traten mitunter als DJs in lokalen Clubs in Erscheinung. Die aktuellen Konzerthinweise, welche Big-Band oder welcher Star aus Übersee gerade in Frankfurt, München oder Heidelberg gastierte, rundeten die Shows ab und erzeugten eine unmittelbare Hörerbindung, die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk dieser Jahre undenkbar war. Das AFN-Konzept sah zusammengefasst wie folgt aus: Neutrale Nachrichten mit den Schwerpunkten Europa und USA, keine Polemik, keine politischen Diskussionen, dafür Tipps und Service. Das Ziel war, angenehme Unterhaltung für US-amerikanische Soldaten und deren Familien in der Fremde, den ‚Link with Home‘ zu garantieren.
Schäfers arbeitet ferner heraus, wie sich die politisch-gesellschaftlichen und kulturellen Zeitläufte in Nachrichten, Berichten und Kommentaren niederschlugen und wie die US-amerikanischen Streitkräfte als AFN-Betreiber damit umgingen. So gab es zum Beispiel im Jahr 1945 Reportagen über die Nürnberger Prozesse und über den Äther verbreitete Spots mit dem Inhalt „Don't fraternize“, der den US-amerikanischen Soldaten Höflichkeit und Zurückhaltung gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung abverlangen sollte. Die Autorin hat im Laufe ihres Untersuchungszeitraums auch inhaltliche Kontrollen und Zensurbestrebungen ausmachen können, etwa im Falle der Berichterstattung über einen dramatischen Unfall im Zusammenhang mit der Luftbrücke Frankfurt/Westberlin oder 1953, als die Frage auftauchte, wie die Berichterstattung über den Aufstand am 17. Juni in Ost-Berlin aussehen solle und wie die Ereignisse dort zu bewerten seien.
AFN, so belegt die Autorin durch ausführliches Quellenstudium und Interviews mit Zeitzeugen schlüssig, prägte mit schlüssigen Musikformaten und stilbildenden Moderatoren nicht nur die Radiolandschaft Westdeutschlands und der DDR (in der AFN über die bayerischen Standorte zu empfangen war) in entscheidendem Maße, sondern auch das Lebensgefühl mehrerer Generationen. AFN vermittelte juvenilen Lifestyle – Mode, Jeans, T-Shirts, Elvis-Tolle – gekoppelt mit einer modernen, zukunftsorientierten, politisch demokratischen Sichtweise der Welt. Dadurch mischte sich der Sender, wie Schäfers in einem Kapitel über „Deutsche und amerikanische Deutungen von AFN“ zeigt, unfreiwillig (aber nachhaltig) in den Generationenkonflikt zwischen der deutschen Nachkriegsjugend und deren Elterngeneration ein, glänzend eingefangen in Kunerts literarischem Bild: „Das ist die Musik einer neuen Welt, die in ganz Europa wahrhaft ‚Hörige‘ schafft und sich die ganze junge Generation unterwirft, die von diesem ‚Big-Band-Sound‘ nicht mehr loskommen wird.“ (Kunert, zitiert nach Schäfers: S. 316f.)
Schäfers Studie liest sich wie eine kleine Geschichte der deutschen Nachkriegszeit, eine Kultur-, Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte unter dem Aspekt eines Kulturwandels anhand der wechselhaften Geschichte eines Radiosenders, der heute im Internet-Zeitalter nicht mehr existiert und nur noch in der Erinnerung präsent bleibt. Sie liest sich auch deswegen so flüssig und stringent, weil jede Quelle auf derselben Druckseite sofort nachvollziehbar ist, lästiges Suchen im Anhang somit entfällt. Ein Register mit ausgewählten Personen und Orten von Louis Armstrong über Bayreuth bis zu Catarina Valente und Jack Wolfman runden das positive Bild ab. Dass die Historikerin ihre Studie nicht nur auf Informationen aus zweiter Hand und Literaturrecherchen aufbaute, sondern ehemalige AFN-Mitarbeiter und Zeitzeugen befragte, deutsche Archive durchforstete und sogar einige Monate in den National Archives in Washington arbeiten konnte, hat in der Gesamtschau zu einem ebenso umfänglichen wie spannenden wissenschaftlichen Werk geführt. Es zeigt: AFN war wirklich viel „mehr als Rock ’n’ Roll“.