W. Bleek u.a. (Hrsg.): Protestation des Gewissens

Titel
Protestation des Gewissens. Die Rechtfertigungsschriften der Göttinger Sieben


Herausgeber
Bleek, Wilhelm; Lauer, Bernhard
Reihe
Schriften der Brüder-Grimm-Gesellschaft 36
Erschienen
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hermann Wellenreuther, Frühe Neuzeit, Universitaet Goettingen

Die Edition der Rechtfertigungsschriften der Göttinger Sieben ist erfreulich und ärgerlich zugleich. Erfreulich, weil damit die wichtigsten Quellen zur Rechtfertigung der sieben Göttinger Professoren, die gegen die Entbindung von der Eidesleistung auf das Staatsgrundgesetz von 1833 protestierten, in einem ordentlichen Buch wieder vorliegen, ärgerlich, weil Einleitung und Kommentierung der Schriften die einseitige Tradition der letzten einhundertsiebzig Jahre fortsetzten.

Der Band veröffentlicht die Rechtfertigungsschriften von Friedrich Christoph Dahlmann, Wilhelm Eduard Albrecht, Jacob Grimm, Heinrich Ewald und Georg Gottfried Gervinus. Die meisten von ihnen waren schon länger wohlbestallte Professoren an der Georgia-Augusta; nur Gervinus war erst 1836 zum Professor berufen worden. Der siebte der Professoren, Wilhelm Weber, ein enger Freund von Carl Friedrich Gauss, verzichtete möglicherweise auf Drängen von Gauss auf eine eigenständige Verteidigungsschrift.

Die Herausgeber Wilhelm Bleek, emeritierter Professor für Politologie, und Bernhard Lauer, Direktor des Brüder Grimm Museums in Kassel, sind vorzüglich ausgewiesen, ersterer durch eine Biographie zu Dahlmann und letzterer durch zahlreiche Schriften insbesondere zu Jakob und Wilhelm Grimm. Die Edition der Texte ist schnörkellos und überwiegend präzise; für den nicht mit den Göttinger Sieben vertrauten Leser hätte man sich knappe Biographien der Autoren der Schriften gewünscht.

In der Einleitung sind die Schriften der Göttinger Sieben gut charakterisiert. Natürlich kann man immer mehr sagen – etwa zur Verteidigungsschrift des Theologen Heinrich Ewald. Sie wird als „weitschweifig“ (S. 17), „dramatisch“ und „apokalyptisch“ (S. 18) beschrieben, womit Ewald in die Ecke der theologischen Eiferer und Schwärmer gestellt wird, ohne dass damit dem Leser bei der Verortung von Ewald als wissenschaftlichem und theologischem Autor geholfen wird. Sein richtig charakterisierter Stil jedenfalls entsprach der zeitgenössischen Art der Theologen, sich mitzuteilen; unter den Theologen stellt Ewald kein Sonderfall dar. Ähnliches gilt übrigens für die staubtrockene, eng auf die Kernfrage bezogene Schrift von Albrecht; auch dies entspricht dem Stil und Duktus der damaligen Rechtsgelehrten (übrigens bis in die Gegenwart). Aber dies sind Petitessen. Insgesamt ist die Edition gelungen – dies ist denn auch der erfreuliche Aspekt.

Ärgerlich ist etwas anderes: Die Interpretation der Schriften und ihre Kontextualisierung in der Einleitung und Annotierung der Texte. Hier bleiben die Herausgeber einer langen, bis in die 1840er-Jahre zurückreichenden Tradition verhaftet, die die Göttinger Professoren als Helden des Widerstandes, als Verteidiger des öffentlichen Gewissens, als herausragende Repräsentanten des deutschen vormärzlichen Konstitutionalismus und als Vorbilder für Widerstand gegen die Obrigkeit feiert. Zugegeben: Sie finden sich damit in hervorragender Gesellschaft. Aber besser wird dies dadurch nicht. Welchen Preis zahlen wir für diese hartnäckige Heldenverehrung? Der verfassungsmäßige Rahmen, in dem das Phänomen „Göttinger Sieben“ und der Konstitutionalismus steht, wurde auf die Formel ‚Tyrannei und Freiheit‘ verkürzt. Die Verfassungskonzepte ‚konstitutionelle Monarchie‘ und ‚Konstitutionalismus‘ aber waren in den 1830er-Jahren in Deutschland im Unterschied zu den Vereinigten Staaten noch keineswegs Allgemeingut – weder bei der akademischen Elite, schon gar nicht bei den Juristen, wie die Beispiele des Göttinger Juristen und Schülers von Johann Stephan Pütter, Justus Christoph Leist, und die 1837 erschienene Arbeit von D. Romeo Maurenbrecher zeigen, wohl aber bei Teilen der Göttinger Bevölkerung.1

Mit einem Gutachten zur Gültigkeit der Verfassung von 1833 lieferte Leist, zu der Zeit höherer Justizbeamter des Landes, dem König 1837 die entscheidenden Argumente dafür, deren Anerkennung zu verweigern und die Verfassung von 1819 wieder in Kraft zu setzen.2 Die Ansicht von Wilhelm Eduard Albrecht, immerhin der herausragende juristische Kopf der Göttinger Sieben, in seiner Rechtfertigung der Protestation , „die Frage, [ob eine Verfassung] durch einseitige Erklärung des Monarchen vernichtet werden dürfe, [sei] unstreitig eine Lebensfrage für alle, wenigstens für alle constitutionellen Staaten“3, ist dementsprechend ebenso parteiisch wie seine Auffassung, des Königs Tat sei ein „Willkürakt“ (S. 15). Aus der Sicht von Vertretern des Patrimonialstaatsgedankens wie Leist oder D. Romeo Maurenbrecher war sie einfach falsch4; bei Teilen der Göttinger Bevölkerung und Studentenschaft fand Albrechts Ansicht aber durchaus Zustimmung.5 Die neuen Arbeiten zur Göttinger Bevölkerung in den 1830er-Jahren zeigen, dass möglicherweise ihre Politisierung weiter reichte als die mancher Göttinger Universitätsprofessoren. Ein markantes Beispiel dafür war der Göttinger Theologe, Universitätsprofessor und Senator der Stadt, Karl Ludwig Gieseler, der in einem Gutachten für den Rat der Stadt zur Frage, ob die Stadt dem König huldigen solle bevor dieser das Staatsgrundgesetz von 1833 anerkannt habe, davon aus ging, „daß unser König nicht König ist vermöge einer Constitution, sondern allein durch Gottes Gnade, vermöge der Erbfolge nach dem Rechte der Erstgeburt“6; er schloss daraus wie Albrecht, dass die Stadt den Huldigungseid leisten könne, ohne deshalb des Königs Aufhebung des Staatsgrundgesetzes anzuerkennen. Denn unabhängig davon, ob der König das Staatsgrundgesetz anerkenne, könne Ernst August als König „durch Gottes Gnaden“ die Huldigung verlangen; Albrecht und Gieseler kamen von unterschiedlichen Ausgangspunkten und auf verschiedenen Wegen zum gleichen Ergebnis.

Auch hier wird deutlich, dass die Göttinger Sieben keineswegs eine auch nur in der Göttinger Professorenschaft insgesamt akzeptierte Verfassungsauffassung vertraten; wohl aber teilte ein beträchtlicher Teil der Göttinger Bürgerschaft ihre Ansichten – ein Kontext, der von den Herausgebern nicht gesehen wird. Hinzu kommt, dass 1848/49 eben nicht der Konstitutionalismus und die konstitutionelle Monarchie siegten; die ältere Verfassungskonzeption des Patrimonialstaatsgedankens und der absoluten Monarchie, die nur die vom König oktroyierte Verfassung kannte, bestand weiterhin und prägte vielfach die Verfassungswirklichkeit; auch die Arbeiten der Juristen Max von Seydel und Conrad Bornhak deuten in diese Richtung.7 Unter den größeren Gliedern des Reiches bildete vor allem das Großherzogtum Baden die wichtige Ausnahme; und Badens wichtigster Jurist Carl Josef Anton Mittermaier war auch einer der prominentesten, international und transatlantisch bedeutendsten Verfechter (neben Juristen wie Karl von Rotteck, Karl Theodor Georg Philipp Welcker und Robert von Mohl) des Konstitutionalismus.8

Die Ausstellung zu den Göttinger Sieben im Jahr 1987 sowie der Katalog9 wurden offensichtlich im benachbarten hessischen Kassel ignoriert und dies gilt, wie die hier zu besprechende Veröffentlichung zeigt, bis heute. Zwar zitieren die Herausgeber in der Einleitung den Aufsatz von Wolfgang Sellert, in dem der intellektuelle Kontext der Göttinger Ausstellung dargestellt wird – aber in der Einleitung und in der Kommentierung findet dies keinerlei Niederschlag; andere Aufsätze, die in diesem Kontext entstanden oder neuere Verfassungskontexte zur hannoverschen Entwicklung verfolgen10, bleiben gleichfalls unberücksichtigt. Stattdessen bleiben die Herausgeber der Tradition, die Göttinger Sieben ausschließlich im Kontext von Widerstand, Gewissen und Tyrannei zu beschreiben, treu. Fazit: Als Quellenveröffentlichung ist der Band wichtig; die Interpretation der Quellen durch die Herausgeber ist ein schlimmes Ärgernis.

Anmerkungen:
1 Jörg H. Lampe, „Freyheit und Ordnung“. Die Januarereignisse von 1831 und der Durchbruch zum Verfassungsstaat im Königreich Hannover, Hannover 2009, bes. S. 760–765.
2 Die Zusammenhänge sind dargestellt bei Wolfgang Sellert, Die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes und die Entlassung der Göttinger Sieben, in: Edzard Blanke u.a., Die Göttinger Sieben. Ansprachen und Reden anlässlich der 150. Wiederkehr ihrer Protestation, Göttingen 1988, S. 23–45.
3 Zitat aus dem Gutachten von Albrecht, Bleek, Lauer (Hrsg.), Protestation des Gewissens, S. 109. Zum rechtshistorischen Hintergrund von Leists Auffassung siehe Holger Erwin, Machtansprüche: Das herrscherliche Gestaltungsrecht ‚ex plenitudine potestatis‘, Köln 2009, S. 131–133.
4 Vgl. auch Katrin Stein, Die Verantwortlichkeit politischer Akteure, Tübingen 2009, S. 136–139.
5 Zur Göttinger Bevölkerung und ihrer politischen Haltung, Lampe, „Freyheit und Ordnung, S. 760–765.
6 Dies Gutachten und sein Kontext sind diskutiert in Hermann Wellenreuther, Die Göttinger Sieben, Göttingen und der Verfassungskonflikt von 1837, in: Blanke u.a., Die Göttinger Sieben, S. 61–84, hier S. 71–74.
7 Stein, Die Verantwortlichkeit, S. 139. Und aus der Sicht der städtischen Ordnungsformationen vor allem Ralf Pröve, Stadtgemeindlicher Republikanismus und die ‚Macht des Volkes‘. Civile Ordnungsformationen und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.
8 Zu Mittermeiers Rolle in der transatlantischen Kommunikation des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und vor allem in der Korrespondenz mit dem deutsch-amerikanischen Vermittler und Gelehrten Franz Lieber in Nordamerika siehe jetzt Claudia Schnurmann, Brücken aus Papier. Atlantischer Wissenstransfer in dem Briefnetzwerk des deutsch-amerikanischen Ehepaars Francis und Mathilde Lieber, 1827–1872, Berlin 2014.
9 [Hermann Wellenreuther], Die Göttinger Sieben. Eine Ausstellung der Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 1987.
10 Vor allem Lampe, „Freyheit und Ordnung“.

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