Als wesentliches Element päpstlicher Macht in Kirche und Welt erwies sich die Binde- und Lösegewalt auf Erden und im Himmel. Geschichtsmächtig wurde vor allem die Zusage Jesu an den Apostelfürsten Petrus: „Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 16,19). Aus dieser petrinischen Amtstradition erwuchs in der geistlichen Praxis wie in der kirchenrechtlichen Theorie der päpstliche Primatsanspruch für den Weg jedes Gläubigen zum Heil. Zwei andere neutestamentliche Zusagen, in denen Jesus eben diese Binde- und Lösegewalt (Mt 18,18) oder die Vollmacht zur Sündenvergebung aus der Kraft des Heiligen Geistes (Joh 20,23) der Gemeinschaft aller seiner Jünger zugesprochen hatte, traten in der mittelalterlichen Kirchengeschichte eher in den Hintergrund.
In seiner hervorragenden Berliner Dissertation untersucht Christian Jaser die Entwicklung der Exkommunikation vom 10. bis zum 16. Jahrhundert und vor allem die performative Ausgestaltung ihrer Anwendung. Auf hohem theoretischem Niveau differenziert er zwischen Ritual und Zeremoniell (vor allem S. 15) und analysiert die Wucht von Kapitalstrafen aus emischen und etischen Perspektiven. Einer breiten Einleitung folgen drei Hauptkapitel. Das erste verfolgt die facettenreiche Ausformung des Exkommunikationsrituals aus Exkommunikationsformularen von einem initialen Einzelfall nach der Ermordung Erzbischof Fulcos von Reims 900 bis zur normierenden Wirkung translokaler kanonistischer und liturgischer Sammlungen im 13. Jahrhundert. Im Umfang knapper, in der theoretischen Zuspitzung stimulierend sind die Gedanken zur spätmittelalterlichen Ausformung der Exkommunikation „zwischen kanonistischer Innovation und narrativer Kompensation“. In tief dringenden Analysen sperriger Texte wie in bündelnden kulturwissenschaftlichen Interpretationen treten Jasers darstellerische Kompetenzen hervor. Die Wirkung von Kapitalstrafen im Sinne einer spirituellen, sozialen und posthumen Liminalität wird ebenso klar herausgearbeitet wie die historische Genese der spätmittelalterlichen Generalexkommunikationen.
Vor dem Hintergrund der präzise vorgetragenen Entwicklungsgeschichte dürfte der heutige Umgang der katholischen Kirche mit der Wirkung von Exkommunikationen über den Tod hinaus überraschen. Die gegenwärtige Bayerische Landesausstellung „Ludwig der Bayer. Wir sind Kaiser“ zeigt den Brief des Münchener Erzbischofs Friedrich Kardinal Wetter vom 11. April 1997 mit Bezug auf eine Aussage Papst Johannes Pauls II. über Martin Luther, „daß mit dem Tod eines Menschen jede Exkommunikation aufhört“. Kardinal Wetter entschärft damit den zweifelnden Umgang von Nachgeborenen mit dem 1347 im Kirchenbann gestorbenen Kaiser Ludwig IV. und entscheidet: „Die Exkommunikation des Kaisers Ludwig des Bayern ist bereits mit seinem Ableben gelöst“.1 Die von Jaser studierten spätmittelalterlichen Autoritäten hätten dies anders gesehen, was die historische Gebundenheit geistlicher Verfluchungen eher einer menschlichen als einer göttlichen Sphäre zuweist.
Das dritte, ausführlichere Kapitel dieses Buchs arbeitet die Bedeutung der Exkommunikation als Zeremonie aus der Praxis der bis ins 13. Jahrhundert zurückreichenden feierlichen päpstlichen Verkündigungen heraus. Eine präzise Zusammenfassung lässt die verfluchende Kirche dann „zwischen Kontinuität und Wandel“ changieren und weckt beim Leser die Frage, wie er mit den Selbstgewissheiten vergangener Jahrhunderte angemessen umgehen will.
Der Wert dieses grundlegenden Buchs resultiert aus der Kraft zur Synthese wie aus der Fülle neuer spezieller Einsichten (wichtig die handschriftenbasierten Ergebnisse auf S. 59f., S. 71–74 und öfters). Jasers kluge Beschränkung, „die Effektivitätsfrage … nur am Rande“ zu verfolgen (S. 13), lässt die theoretische Fundierung wie die zeremonielle Ausgestaltung von Exkommunikationen als Spiegel des sich wandelnden mittelalterlichen Kirchen- und Amtsverständnisses hervortreten. Dafür muss man sich auf die kanonistisch-kulturwissenschaftlich geschulte und bisweilen imaginative Sprache des gelehrten Verfassers einlassen. Die (berechtigte) Kritik an der gar nicht zugänglichen Dissertation (Stanford 1997) von Genevieve Steele Edwards (Dank für die Überlassung der ungedruckten Fassung S. 29, Anm. 164; Fundamentalkritik S. 300 unter anderem) hätte er sich schenken können.
Christian Jaser wird ein bedeutendes Buch verdankt, das sich dezidiert nicht auf das modische Interesse an Konfliktbeilegung, sondern auf die zeremoniellen Formen des Konfliktaustrags als Symbol des kirchlichen wie schließlich päpstlichen Amtsanspruchs konzentriert: „Die alljährliche Verlesung der päpstlichen Generalprozesse schuf eine besonders günstige Gelegenheit, die politischen und ekklesiologischen Implikationen der Restaurationsphase im zeremoniellen Vollzug und in entsprechender architektonischer Rahmung zu präsentieren“ (S. 471).
Dazu wurde neben der Wort- und Baukunst auch die zunehmend professionalisierte Zeremonialwissenschaft in Dienst genommen. An der Kurie erlebte sie im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert eine Blüte, die sich in dickleibigen Büchern über die Kunst der Inszenierung und persönlichen Fehden der Spezialisten gleichermaßen niederschlug.
Am Ende von Jasers Buch steht der Hinweis auf die wachsende Fundamentalkritik an der in der Bulla in Coena Domini demonstrierten Einheitssymbolik des päpstlichen Amts. Martin Luther stellte ihr seine Polemik „Bulla vom Abendfressen“ entgegen. Heute blitzt die alte Binde- und Lösegewalt in der Kritik Papst Franziskus‘ an der Mafia vielleicht noch einmal kurz hervor. Es wird interessant sein, aktuelle Wirkungen mit historischen Voraussetzungen zu vergleichen. Dabei muss gar nicht allein der wohlfeile Schauder vor geistlicher Härte im Zentrum stehen. Man könnte auch den kirchengeschichtlichen Paradigmenwechsel vom Fluch als Zeichen der Macht zur Toleranz als Indiz von Beliebigkeit kontrovers diskutieren, ohne gleich in den spätmittelalterlichen Modus von Wahrheitssicherheiten zu verfallen. Bei der Niederschrift der Besprechung musste der Rezensent seinem Word-Rechtschreibprogramm erst beibringen, ‚Verfluchungen‘ nicht automatisch in ‚Verflachungen‘ zu korrigieren. Das unterscheidet eben das 21. vom 12. Jahrhundert.
Anmerkung:
1 Peter Wolf u. a. (Hrsg.), Ludwig der Bayer. Wir sind Kaiser (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 63), Augsburg 2014, S. 297.