Der Alltag, aber auch unsere Geschichte sind voller Stereotype. Sie banalisieren, generalisieren, klassifizieren und schaffen Vorurteile. Im schlimmsten Fall dienen sie als Vehikel rassistischer Motivation: zur Kriminalisierung und Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung missliebiger Menschen. Im 20. Jahrhundert waren neben Juden und Menschen mit dunkler Hautfarbe vor allem Sinti und Roma von stigmatisierenden und herablassenden Stereotypen betroffen. Diese konzentrierten sich auf verallgemeinerte vorgebliche Wesensmerkmale oder aber auf zumeist entwürdigende äußere Zuschreibungen des ‚Zigeuners‘. Wichtigstes Medium für die Genese der Stereotype war und ist die Fotografie.
Frank Reuter, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, hat nun eine überragende Studie vorgelegt, die in der internationalen Bildforschung ihresgleichen sucht: „Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des ‚Zigeuners‘“. Das umfassende Werk gliedert sich in die vier Teile: „Voraussetzungen“, „Im Fokus der Täter: NS-‚Zigeuner‘-Fotografie und Genozid“, „Wurzeln: ‚Zigeuner‘-Fotografie im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ sowie „Fotografische Sichten auf Sinti und Roma nach dem Genozid“.
In seinem einleitenden Abschnitt formuliert der Autor seine zentrale Hypothese, wonach „die visuelle oder mediale Repräsentation grundsätzlich zu trennen“ sei „von den realen Menschen und deren Selbstverständnis“. Es bestehe eine Diskrepanz zwischen der signifikanten Rolle des ‚Zigeuners‘ in kulturellen Ausdrucksformen wie Film, Literatur, Malerei und ihrer in Deutschland „zahlenmäßig unbedeutende[n] Minderheit“. Seinen Ansatz beschreibt der Verfasser wie folgt: „[…] die Motive und unterschiedlichen Erscheinungsformen des ‚Zigeuner‘-Stereotyps mit den Strukturen, Normen und Selbstbildern der Mehrheitsgesellschaft in eine funktionale Beziehung zu setzen“. Im Fokus steht nicht nur die Fotografie als Quelle, sondern vielmehr ihre Wahrnehmung und mediale Rezeption: „Primärer Untersuchungsgegenstand ist das Sehen selbst.“ (S. 11) Dass sich unser Sehen ebenso aus in der Vergangenheit generierten, schemenhaften und kollektiv-sedimentierten Bildern speist, dient als Folie, auf deren Grundlage Frank Reuter seine Studie ausbreitet. Sehr plausibel erscheint eine forschungspraktische Einschränkung: Die sehr komplexe Frage nach der Rückwirkung „der Fremdbilder auf die Selbstbilder der Betroffenen“ (S. 12) musste er aus inhaltlichen, quellentechnischen und methodologischen Gründen aussparen.
Als Hauptquelle zieht Reuter die rund 30.000 Aufnahmen der „Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ (RHF) aus der NS-Zeit heran. Der Bestand liegt heute im Bildarchiv des Bundesarchivs.1 Damit zusammenhängend flossen in die Untersuchung unter anderem Aspekte aus historischen Chroniken, der Kunstwissenschaft und Literatur sowie Bilder aus der Nachkriegszeit mit ein. „Der Vorwurf der Gottlosigkeit, gepaart mit Müßiggang, Bettelei und Devianz“ (S. 87), schuf seit der frühen Neuzeit den Hintergrund für über Generationen hinweg weitergereichte Stereotype, die letztlich in den Völkermord mündeten. In der Nachkriegszeit dann stellten sich die Kontinuitäten als eklatant heraus: „Die ideologische Erblast des Nationalsozialismus [wirkte] im gesellschaftlichen Umgang mit der Minderheit der Sinti und Roma nach 1945 lange Zeit fort.“ (S. 13) In diesem Sinne richtet der Autor seinen Blick auf einzelne Fotografien und deren Codes, aber auch auf „übergreifende Sinnzusammenhänge und Entwicklungslinien […]. Beide Perspektiven ergänzen sich wechselseitig“ (S. 14).
Zunächst widmet sich Frank Reuter dem methodologischen Zugang innerhalb der transdisziplinär agierenden, modernen Bildwissenschaft. Bilder, darunter vor allem die fotografischen, so Reuter im Rekurs auf Aby Warburg, Ernst Gombrich und Hans Belting, seien „ihrer Natur nach intermedial, sie passen sich dem historischen Wandel der Medien an“. Unter dem Vorzeichen der Historizität beruft er sich außerdem auf Warburgs Postulat, demzufolge „Bildern eine eigene Dynamik innewohnt, dass jene durch die Zeiträume wandern, sich den historischen Medien immer wieder anverwandeln und in neuem Gewande erscheinen“ (S. 25).
Den Begriff des Stereotyps führt Frank Reuter zurück auf den amerikanischen Mediensoziologen Walter Lippmann und dessen berühmte Formel von den ‚Bildern in den Köpfen‘ (pictures in their heads) aus dem Jahr 1922, wonach namentlich über die Medien „vorgefasste Meinungen über soziale Gruppen“ (S. 37) an die Öffentlichkeit gelangten und auf diese Weise das Individuum beeinflussten. Reuter beruft sich ebenso auf Hans Henning und die von ihm begründete historische Stereotypenforschung, welche die fixierten Bilder zu den entscheidenden Faktoren geschichtlicher Prozesse rechnet. Visuell kristallisierten sich auf Fotografien folgende, zum Teil diskriminierende Elemente innerhalb einer „‚Zigeuner‘-Ikonografie“ heraus: Mutter mit Kind an der Brust, rauchende Frau, partielle Nacktheit, Fiedel als musikalische Objektivation, „Verortung“ im Naturraum, Verwahrlosung und Elend sowie chaotische Umstände (S. 112f.).
In seinem Hauptkapitel – es umfasst 180 Seiten – konzentriert sich Frank Reuter auf die NS-Fotografie und deren Rolle im Kontext des Genozids an Sinti und Roma. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der RHF – darunter Robert Ritter, Eva Justin und Sophie Erhard – Letztere sollte bis in die 1980er-Jahre an der Universität Tübingen ihre Studien unbehelligt weiterbetreiben – organisierten die reichsweite Erfassung der Sinti und Roma im großen Stil; dazu zählte auch die fotografische Dokumentation in drei Teilen (frontal, halbseitlich, seitlich) analog zum Verfahren in Kriminologie und Anthropologie. Außerdem erfolgten farbige und schwarzweiße Teilansichten des Körpers, von Händen, Augen und Nasen.
Methodisch orientiert sich Reuter an der Möglichkeit, die Fotografie als Teil der Erinnerungskultur zu sehen, wie von Habbo Knoch und Cornelia Brink vorgeschlagen. Die überlieferten Bilder legen für die Nachgeborenen visuelles Zeugnis ab über die Existenz von Menschen: „Bei den von der Rassenforschung erstellten Aufnahmen handelt es sich vielfach um die letzten Bilder von Menschen, deren Spuren sich in den Konzentrations- und Vernichtungslagern verlieren.“ (S. 143)
Im Anschluss geht Frank Reuter einen Schritt zurück und analysiert die Genese der ‚Zigeuner‘-Fotografie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Bereits vor 1900 hatten sich anthropologische Verfahren in der Wissenschaft durchgesetzt, die Typen-Fotografie nahm eine federführende Funktion ein. Es ging um die Feststellung und Klassifizierung von Rassen, um Separierung des Fremden und letzten Endes um eine kulturhegemoniale Überhöhung des Eigenen. Diese Entwicklung erfolgte durchaus international. Namentlich in Deutschland aber diente die anthropologische Fotografie „der Grenzziehung zwischen bürgerlicher Norm und abweichendem, als ‚krank‘ oder ‚kriminell‘ bewerteten Verhalten. Der ‚Fremde‘ war also zugleich der Außenseiter des sozialen Binnenraums“ (S. 312).
Eine damit verknüpfte Rolle spielte die ethnografische Fotografie, praktiziert unter anderem von deutschen und österreichischen Volkskundlerinnen und Volkskundlern, aber auch die Fotografie aus kommerziellen Erwägungen von professionellen Lichtbildern aus dem Bildpostkartengewerbe gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis Ende des Ersten Weltkrieges in Ungarn, Serbien, Mazedonien und Albanien. Im Rückgriff auf die Tradierung in Kunst und Literatur belegen diese Bilder die Roma zumeist mit den Attributen: exotisch, geheimnisvoll, unordentlich, lasziv und kinderreich – „ein inszenierter Typus“ (S. 315).
Das abschließende Kapitel behandelt die Entwicklung des Bildes der Sinti und Roma in der Zeit nach 1945. In der behördlichen Behandlung dieser Menschen gab es keine Stunde Null: Nach wie vor galten sie nicht nur von Amts wegen als ‚asozial‘ oder kriminell: „Selbst wenn der neue demokratische Rahmen die Möglichkeiten dazu erheblich einschränkte, wurden Sinti und Roma einem diskriminierenden Sonderrecht unterworfen und – unter Verwendung der NS-Akten – weiterhin gesondert erfasst.“ (S. 423) Übereinstimmend dazu erscheint das Bild in den illustrierten Printmedien. Der „Stern“ etwa bediente in seinen Bildstrecken die überkommene visuelle Tradierung: „Hier werden die klassischen ‚Zigeuner‘-Stereotype nebst biologistischen Erklärungsmodellen abgerufen: ein vererbter Instinkt als kollektives Verhaltensmerkmal. […] Die Fotostrecke hat damit eine genuin entlastende Funktion für die deutsche Täterschaft.“ (S. 433) An dieser Praxis änderte sich bis in die 1990er-Jahre kaum etwas: „Antiziganische Denkmuster und Haltungen erfuhren nach 1945 im Gegensatz zum Antisemitismus keine grundsätzliche Ächtung; sie blieben vielmehr fester Bestandteil des öffentlichen wie des wissenschaftlichen Diskurses.“ (S. 253) Erst der „neue fotografische Blick“ (S. 464) sollte die Stereotypisierung nach und nach aufbrechen. Der Autor zieht hierzu beispielhaft die Arbeiten von Gert Schwab, Edgar Wüpper (1979) sowie Günter Hildenhagen (1992) heran.
„Der Bann des Fremden“ bietet erhellende Abrisse zur Historischen Bildforschung und Visual History, über ‚Zigeuner‘-Diskurse, Antiziganismus sowie über die Zusammenhänge von Stereotypisierung und Moderne innerhalb der ethnografischen Visualisierung mit der Kamera – im Verbund von Wissenschaft und medialer Aufnahme im Forschungsfeld: „So wie der Ethnologe dem letzten archaischen Volk des europäischen Kontinents seine kulturellen Geheimnisse zu entlocken sucht, auf der Suche nach dem Ursprung des Menschen, dient das Kameraauge dazu, den ‚Zigeuner‘ anthropologisch zu fassen und festzuschreiben.“ (S. 82) Hierzu sei bemerkt, dass die fotografische Aufnahme durchaus auch in anderen Bereichen lang anhaltende Stereotype beförderte, etwa in der Trachten- und Brauchforschung volkskundlich-ethnografischer Provenienz.
In seinem minutiösen Vorgehen zeichnet der Autor die Herangehensweisen der Täter nach und beschreibt die Rolle der illustrierten printmedialen Machwerke der Rassenideologie während des Nationalsozialismus. Ebenso vermittelt er Einblicke in die Publikationspraxis der ‚Zigeuner‘-Fotografie in der illustrierten Massenpresse der Weimarer Republik („Die Gartenlaube“, „Die Woche“, „Atlantis“, „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“). Das wirklich Hervorstechende an der Studie ist, dass Reuter seine fotografischen Quellen nicht illustrativ verwendet, sondern sie Stück für Stück beschreibt, analysiert und sodann in den ikonologisch-historischen Zusammenhang bringt – eine enorme bildwissenschaftliche Leistung! Mit seinem monumentalen Werk „Der Bann des Fremden“ ist Frank Reuter der große Wurf gelungen – präzise recherchiert, faktenreich, umfassend und spannend geschrieben. Eine grandiose Studie, die methodologisch und quellentechnisch beispielhaft ist für eine interdisziplinäre Bildwissenschaft; ein Standardwerk, das keine Wünsche offen lässt und für die Visuelle Kulturwissenschaft und darüber hinaus seine Zeichen setzen wird.
Anmerkung:
1 Im Digitalen Bildarchiv des Bundesarchivs sind die zum Bestand R 165 (RHF) gehörenden Fotografien recherchierbar unter: <https://www.bild.bundesarchiv.de/>; die Schriftakten der RHF sind unter der gleichen Bestandsnummer überliefert im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde.