Dass Verlage sich ihrer eigenen Geschichte widmen, ist keine Seltenheit. Dabei entstehen nicht nur anekdotenselige Bildbände und nostalgische Selbstvergewisserungen angesichts einer wenig erfreulichen Gegenwart, sondern auch faktenreiche Darstellungen mit durchaus wissenschaftlichem Anspruch, die ohne die Unterstützung der betroffenen Unternehmen kaum zustande gekommen wären. Da für Verlagsgeschichten aufgrund der Komplexität der Materie und der insgesamt nur wenig fortgeschrittenen buchhandelshistorischen Theoriebildung weiterhin vor allem unterschiedlichste Materialien zusammengetragen, ausgewertet und gedeutet werden müssen, die von persönlichen Briefen über wirtschaftliche Statistiken und juristische Verlautbarungen bis zu drucktechnischer Fachliteratur reichen, ist dies einerseits nur realisierbar, wenn Verlage kooperativ Einsicht in ihr Archiv gestatten, was keineswegs die Regel ist. Andererseits sind wissenschaftliche Förderinstitutionen hierzulande meist kaum bereit, vor allem der Ermittlung positiver Daten verpflichtete Forschungen zu finanzieren, deren systematischer Ertrag nicht vorab antragslyrisch dargelegt werden kann. Insofern ist es ein großes Glück, wenn ein Verlag wie Kiepenheuer & Witsch sich eine Geschichte in eigener Sache leistet und dem Autor Frank Möller dabei sogar gestattet, dass seine Ergebnisse den gesetzten zeitlichen, finanziellen und textökonomischen Rahmen in jeder Hinsicht sprengen. Denn die nun nach acht Jahren Arbeit vorliegenden 778 Seiten stellen nur den ersten Band dar, der sich unter dem alttestamentarischen Titel „Das Buch Witsch“ dem Verlagsgründer Joseph Caspar Witsch (1906–1967) widmet, seiner Biografie vor der Verlagsgründung 1949 und seinen vielfältigen, sich nicht unmittelbar in Publikationen des Verlags niederschlagenden insbesondere politischen Aktivitäten in der Bundesrepublik. „Das zweite Buch Witsch“, das das literarische Verlagsprogramm zum Gegenstand hat, soll in diesem Jahr folgen.
Dass die Grenzen eines Bandes so nachhaltig gesprengt wurden, begründet Verlagsleiter Helge Malchow einleitend mit dem „beruflich-politischen Lebensweg J. C. Witschs“ (S. 10), der 1936 mit gerade einmal 30 Jahren Direktor der renommierten Ernst-Abbe-Bücherei in Jena und Leiter der Landesstelle für volkstümliches Büchereiwesen in Thüringen wurde und der ab 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone thüringischer Landesleiter für das Bibliothekswesen war und dort als SED-Mitglied bald auch die Lizenzierung der Verlage verantwortete. Diese Vergangenheit aufzuklären, hätten „viele Mitglieder der belasteten kulturellen und politischen Eliten der frühen Bundesrepublik nicht entscheidend beigetragen“ (S. 10). Das ist zweifellos zutreffend und gilt ganz besonders, da Witsch unmittelbar nach 1949 zum kulturellen Krieger im Ost-West-Konflikt mutierte und wie kaum ein anderer mit handfester Unterstützung US-amerikanischer und westdeutscher Institutionen seinen Verlag und nicht wenige mittelbar mit ihm zusammenhängende Publikationsprojekte als Speerspitze im Kampf gegen den Bolschewismus inszenierte. Zur Kehrseite dieses Engagements gehört, dass in der DDR umso mehr Interesse an Witschs Vergangenheit bestand; auch hier ging allerdings die politische Instrumentalisierung nur mit einem geringen Willen zur Aufklärung einher. Dass deshalb bislang wenig über Witsch bekannt gewesen sei, wie Malchow meint, trifft indes nicht zu. Abgesehen von einigen verlagseigenen Publikationen und wissenschaftlichen Aufsätzen zu Teilaspekten liegen Monografien über Witschs Tätigkeit als oberster Volksbibliothekar in Thüringen und zu den Anfängen des Verlags in der Bundesrepublik vor.1 Zudem widmen sich einige Arbeiten über den seit 1910 bestehenden Gustav Kiepenheuer Verlag, der zunächst in Weimar, später in Leipzig und Berlin unter dem Dach der Aufbau Gruppe bis 2010 weiter existierte, auch Witsch und seinem Verlag.2 Das ist weit mehr als zu den meisten Verlagen der Bundesrepublik und ihren Verlegern zu finden ist.
Gleichwohl kann Möller mit einer Fülle neuer Dokumente aufwarten, die ausführlich vorgestellt, zitiert und gedeutet werden – nicht zuletzt weil das Verlagsarchiv 2009 beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs verloren gegangen sein dürfte und das aus den vorher angefertigten Kopien gearbeitete Buch daher auch einen Ersatz für die nicht mehr verfügbaren Quellen darstellt. Es gelingt ihm viele unbekannte Details zu rekonstruieren, so Witschs Engagement in der katholischen Jugendbewegung und in der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), jener Abspaltung der SPD, der auch Willy Brandt angehörte. Als Kommunist denunziert wurde Witsch im Mai 1933 aus dem Dienst als „Bibliotheksobersekretär für die Universitäts- und Stadtbibliothek“ Köln entlassen. Alsbald jedoch trat er der SA bei und möglicherweise auch dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB), um im „neuen Deutschland“ salonfähig zu werden, nutzte die freie Zeit, um eine Dissertation anzufertigen und seine zumindest öffentlich gewandelte politische Gesinnung auch publizistisch zu bestätigen. 1935 wurde er Bibliothekar in Stralsund und begann, was seine Tätigkeit als Bibliotheksfunktionär im nationalsozialistischen Deutschland und in der sowjetisch besetzten Zone stets auszeichnen sollte: Die Organisation einer effizienten, den politischen Interessen der jeweiligen Machthaber nicht widersprechenden, aber besonders an den Bedürfnissen der Nutzer ausgerichteten modernen Bibliotheksarbeit. Nach etwas mehr als einem Jahr ging Witsch nach Jena, da man dort versprach seinem Reformeifer und seinen Gehaltswünschen besser entgegen zu kommen. In Thüringen entfaltete Witsch, seit 1937 NSDAP-Mitglied, eine enorme Aktivität. Neben seinen Leitungsaufgaben und einer regen Publikationstätigkeit, die auch die Schriftleitung von Fachzeitschriften und die Zusammenstellung von – teilweise nationalsozialistischen und antisemitischen – Buchempfehlungen umfasste, gründete er Hunderte neue öffentliche Büchereien. Seine Ideen bündelte er im Konzept der „totalen Bücherei“, einem System aus kleinen, mittleren und großen Büchereien mit zentraler Buchversorgung in allen Landesteilen und für alle Bevölkerungsschichten.
Nach einem kurzen Kriegseinsatz in Italien kehrte Witsch 1945 nach Jena zurück und konnte sich zunächst erfolgreich als Verfolgter und Gegner des Nationalsozialismus darstellen. Er trat der SPD bei und wurde daher 1946 im Zuge der Zwangsvereinigung von SPD und KPD Mitglied der SED. Wiederum war er für die thüringischen Volksbibliotheken zuständig und leitete nun die Entfernung der nationalsozialistischen Literatur, die er in den Jahren zuvor anzuschaffen geholfen hatte. Zusätzlich war er an der Verlagslizenzierung beteiligt. In diesem Zusammenhang kam Witsch in Kontakt mit Gustav Kiepenheuer. Kiepenheuer habe dem neuen politischen System nach Witschs späterer Aussage naiv gegenübergestanden und sei daher auf kompetente Unterstützung eines entsprechenden Funktionärs angewiesen gewesen. Bald sei der Gedanke gereift, dass der Verlag auch in den Westzonen eine Niederlassung gründen, wenn nicht sogar insgesamt dorthin übersiedeln solle. Als Witsch 1948 seine NS-Vergangenheit zum Verhängnis wurde und er seine Ämter verlor, erhielt er eine Vollmacht Kiepenheuers, in dessen Namen einen Westverlag zu gründen. Sehr genau und detailliert schildert Möller, wie Witsch nach und nach die Macht in dem zunächst in Hagen angesiedelten Unternehmen übernahm, und nach Kiepenheuers Tod im folgenden Jahr die Witwe Noa Kiepenheuer aus dem Verlag drängte.
Trotz aller Rechtfertigungen, die Möller seinem Helden zugesteht: Ohne den renommierten Namen Kiepenheuer, den er sich weitgehend entschädigungslos aneignete, wäre Witsch nur einer von hunderten Verlagsgründern gewesen, von denen die allermeisten bald wieder aufgaben. Neben diesem symbolischen Startkapital gründete der Verlagserfolg nicht unwesentlich in der Unterstützung, die Witsch über verschiedene antikommunistische Zirkel, Gruppen und Publikationsforen empfing – zunächst mittelbar vom CIA und später von den neugeschaffenen Bonner Institutionen der Adenauer-Republik. Das Funktionieren dieser Zusammenarbeit in formellen und informellen Zirkeln aufzuzeigen, gelingt Möller vortrefflich. Die so entstehenden Publikationen waren entweder vorab finanziert oder durch garantierte Abnahme, etwa der Bundeszentrale für Heimatdienst (heute Bundeszentrale für politische Bildung), gesichert. Erfolge, wie im Fall von Wolfgang Leonhardts Bestseller „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ (1955), konnten sich aber trotzdem einstellen – die kamen dann freilich dem Verlag zugute. Eine dritte Ressource des Aufstiegs nennt Möller nicht, da sie sicherlich im zweiten Band eingehend behandelt wird. Fritz H. Landshoff, ehemaliger Partner Gustav Kiepenheuers, ab 1933 Exilverleger bei Emanuel Querido und nun Mitinhaber des Verlags Bermann Fischer / Querido in Amsterdam, vermittelte Witsch mit Vicki Baum, Erich Maria Remarque und Heinrich Böll maßgebliche literarische Autoren, beriet in verlegerischen Fragen und investierte sein Vermögen, um Witschs Teilhaber zu werden. Nachdem Landshoff in den Jahren 1949–1951 sein Renommee unter den Emigranten und seine internationalen Kontakte für Witsch und seinen Verlag genutzt hatte, drängte ihn dieser aus dem Verlag.3
War einleitend der Glücksfall betont worden, der die Unterstützung des vorliegenden Buches durch den Verlag bedeutet, so birgt eine Auftragsarbeit selbstredend auch Gefahren, denn es drohen Einflussnahmen und Befangenheiten. Ist das hier ohne Frage auszuschließen, so muss doch festgestellt werden, dass die genannten anderen Arbeiten über Witsch allesamt zu deutlich kritischeren Einschätzungen von dessen Rolle im Nationalsozialismus, bei der Trennung vom Gustav Kiepenheuer Verlag und im Kalten Krieg gelangen. Zweifellos gilt, dass mit dem neu aufgefundenen und ausgebreiteten Material Wertungen nicht einfacher, sondern schwieriger werden und auch dass dieses Leben – ebenso wie wohl die meisten anderen – in eine Schublade nicht passen will. Trotzdem lassen sich für den Außenstehenden durchaus Kontinuitäten erkennen. Witsch wählte unter den drei Regimen jeweils die Rolle eines Organisators, der den Herrschenden auf verschiedenen Ebenen plausibel machen konnte, er sei der Mann, mit dem buchpolitische Ziele erreicht werden könnten. Dafür wurde er mit Macht und Einfluss ebenso wie mit ökonomischen und persönlichen Vorteilen belohnt und nichts deutet darauf hin, dass ihm dies Kopfzerbrechen bereitet hätte. Zweifellos gründet seine größere persönliche Anteilnahme am westlichen Antikommunismus als an den Ideologemen der NS- und SED-Herrschaft im Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie. Gleichwohl muss festgestellt werden, dass neben der persönlichen Kränkung, die die Entlassung aus seiner machtvollen Position in der SBZ bedeutete, die Teilung Deutschlands für Witsch eine geradezu existenzielle Frage war, saß doch auf der anderen Seite der Gustav Kiepenheuer-Verlag, von dem im Falle einer Wiedervereinigung – die nicht wenige in den fünfziger Jahren für die nähere Zukunft erhofften – nichts Gutes für ihn zu erwarten war. Möllers großes Verdienst und das des Verlages ist es, dass solche Fragen nun gestellt und diskutiert werden können. Zusammen mit dem zweiten Band wird auf diese Weise ein gewichtiger Beitrag nicht nur zur Verlags- und Verlegergeschichte, sondern zur intellektuellen Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und deren ökonomischer und struktureller Bedingungen entstehen.4
Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Angelika Hohenstein, Joseph Caspar Witsch und das Volksbüchereiwesen unter nationalsozialistischer Herrschaft, Wiesbaden 1992; Birgit Boge, Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch. Joseph Caspar Witsch und die Etablierung des Verlages 1948–1959, Wiesbaden 2009.
2 Vgl. Sabine Röttig, „ . . . bleiben Sie wie bisher getrost in Dichters Landen und nähren Sie sich redlich“. Der Gustav-Kiepenheuer-Verlag 1933–1949, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 58, Potsdam 2004; Siegfried Lokatis / Ingrid Sonntag (Hrsg.), 100 Jahre Kiepenheuer Verlage, Berlin 2011, Vgl. die Rezension von Anke Vogel, in: H-Soz-u-Kult, 21.11.2011 <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16677> (15.04.2015).
3 Vgl. Birgit Boge, Fritz H. Landshoff – Ein nützlicher Mann. Die Zusammenarbeit von Joseph Caspar Witsch und Fritz H. Landshoff 1949–1952, in: 100 Jahre Kiepenheuer Verlage, Berlin 2011, S. 224–243.
4 Bei dem Text dieser Besprechung handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer für "The German Quarterly" verfassten Rezension.