Titel
Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte


Herausgeber
Sieferle, Rolf Peter; Helga Breuninger
Erschienen
Frankfurt am Main 1998: Campus Verlag
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
€ 24,90
Ralf-Peter Fuchs, Historisches Seminar, LMU-München

Daß die immer wieder propagierte Vorstellung von einer „zivilisierten“, gewaltfreien Moderne illusionär ist, führen zur Zeit zahllose Rückschauen der Medien auf das zu Ende gehende (gegangene) Jahrhundert in gnadenloser Schärfe vor Augen. Auf der politischen und gesellschaftlichen Aktualität des Themas Gewalt gründet sich die wissenschaftliche Relevanz etwa auf psychologischem, soziologischem und kulturhistorischem Gebiet, das die Stuttgarter Breuninger-Stiftung bereits mehrfach dazu veranlaßt hat, interdisziplinäre Tagungen zu veranstalten. Die kulturwissenschaftlichen Beiträge zweier von Rolf Peter Sieferle geleiteten Konferenzen aus den Jahren 1996 und 1997, die von der Stiftung gefördert wurden, finden sich in dem vorliegenden kleinen Sammelband.

Zeitlich reicht das Spektrum der Beiträge vom 4. vorchristlichen Jahrtausend bis in die Gegenwart. Insgesamt machen sie in überzeugender Weise deutlich, daß Gewalt keineswegs als ein ahistorisches Naturphänomen zu begreifen ist, sondern selbst in ihren krassesten Formen kulturellen Prägungen unterliegt. Dies läßt sich z.B. unmittelbar über die künstlerische Verbildlichung von Gewalt in Mesopotamien (Marlies Heinz) und in der römischen Kaiserzeit (Paul Zanker) darlegen, ebenso über die literarisch-erzählerische Ausschmückung von Gewaltszenen im frühen Japan (Nelly Naumann) und in Berichten von Forschern und Reisenden verschiedener Länder über den „Kannibalismus“, der angeblich jenseits der eigenen Kultur zu finden war (Thomas O. Höllmann). Daneben machen andere Beiträge einmal mehr deutlich, daß sich auch konkret ausgeübte Gewalthandlungen als stilisierte, in kulturelle Regelwerke eingebundene Strategien, denen eine soziale Logik zugrundeliegt, begreifen lassen. Vom Habitus der Samurai (Wolfram Naumann) und der südamerikanischen Caudillos des frühen 19. Jahrhunderts (Michael Riekenberg) bis hin zur exklusiven Kultivierung von Gewalt im Rahmen universitärer Initiationsriten und Rugby-Selbstinszenierungen durch die südafrikanischen Oberschichten des frühen 20. Jahrhunderts (Christoph Marx) läßt sich ein durchgängiges Band ziehen, das erkennen läßt, wie sich bestimmte Gewaltformen für gesellschaftliche Statusbildung in Anspruch nehmen lassen. Nicht zuletzt gehört die staatliche Gewalt fest zum Themenkomplex der Gewaltforschung, einerseits als Instrument der Festigung von Macht, wie sie z.B. im Vorderen Orient des 12. Jahrhunderts ausgeübt wurde (Gerhard Hoffmann), andererseits als Instrument zur Begrenzung und Bändigung innergesellschaftlicher Gewalt. Schließlich widmet sich in diesem Kontext ein weiterer Beitrag den politisch-religiös motivierten Anstrengungen Mahatma Ghandhis, staatlichen wie innergesellschaftlichen Gewaltformen gleichermaßen konsequent entgegenzutreten (Dietmar Rothermund).

Vier der Beiträge sind für die Frühneuzeitforschung von besonderem Interesse. Die im Fehdewesen zu beobachtenden Regeln der Gewaltanwendung und -begrenzung im Mittelalter (Gerd Althoff) sind jenen historischen Langzeitkonzepten gegenüberzustellen, die erst in der frühmodernen Staatlichkeit eine wirksame Institution zur Befriedung und Eindämmung von Konflikten erblicken. Das niemals schriftlich niedergelegte Regelwerk läßt sich aus Beschreibungen von Fehdehandlungen extrapolieren. Im Zentrum stand die Herstellung einer „compositio“, eines Ausgleichs der streitigen Parteien über Dritte, die nicht selten in zeitlicher Parallele zu den kriegerischen Handlungen vonstatten ging.

Der von Norbert Elias entwickelten Vorstellung von einem geradlinigen Prozeß der Zivilisation, für die die Zeit vor dem 16. Jahrhundert als eine vorrangig affektgeprägte Entwicklungsphase der Menschheit in Anspruch genommen wird, lassen sich nicht nur solcherlei Hinweise auf kultivierte, kontrollierte Gewalt im Mittelalter, sondern auch Hinweise auf das hohe alltägliche Gewaltaufkommen in modernen Gesellschaften entgegenhalten (Martin Dinges). Insbesondere lassen viele einzelne Erkenntnisse der neueren Historischen Kriminalitätsforschung zur Frühen Neuzeit erkennen, daß Gewalt für diesen Zeitraum keineswegs als ein gesellschaftliches Randphänomen betrachtet werden kann, sondern von Angehörigen sämtlicher Schichten verübt wurde. Eine Alternative zu Elias’ Untersuchungsansatz bietet sich dem Autor zufolge in der Analyse gesellschaftlicher und staatlicher Machtstrukturen und der Möglichkeiten verschiedener Gruppen, Interessen über Gewalt durchzusetzen bzw. Gewalt einzuhegen und damit die Folgen eigener Gewalthandlungen kalkulierbar zu machen.

Den Interpretationsansätzen des Ethnologen Clifford Geertz wendet sich ein weiterer Beitrag zu (Lutz Ellrich). Am Beispiel der „Indonesian Killings“ von 1965/66 werden selbst extreme kollektive Gewaltausbrüche als binnengesellschaftlich legitimierte und normierte konfliktuale Handlungsmuster dargestellt. Stellt der „Hahnenkampf“ das Alltagsmuster für den binnensozialen Kampf um Statusdifferenzen dar, so läßt sich der „Amoklauf“ als ein ultimatives Mittel zur Krisenbewältigung verstehen. Das eigentliche Subjekt von Gewalt sei vor diesem Hintergrund stets die ganze Gesellschaft, die die Codes zur Verfügung stellt, auf deren Basis die Akteure jeweils operieren.

Der Sammelband wird mit einigen Thesen zur „Normalität“ von Gewalt im 20. Jahrhundert abgeschlossen (Alf Lüdtke). Auch in diesem Beitrag wird die „dichte Beschreibung“ von Gewalthandlungen und -kontexten als der sinnvollste Weg der Analyse herausgestellt. Das Paradoxe innerhalb der gesellschaftlichen Kodierungen, das Nebeneinander gewaltsamer und gewaltloser Handlungsleitlinien, die unter Umständen sich in ein und derselben Person manifestierende Koexistenz von Kriegsgegnerschaft und Kriegsbewunderung etc., läßt sich demnach nur im Rahmen eines mikrogeschichtlichen Zugriffs erarbeiten. Als Forschungsgrundlage wird für einen sehr weitreichenden Begriff von „Gewalt“ plädiert, der dem Ineinandergreifen unterschiedlichster Formen innerhalb einer Gesellschaft gerecht werden kann.

Bilanzierend läßt sich festhalten, daß im Band viele interessante Anregungen enthalten sind. Problematisch erscheint auf der anderen Seite die Heterogenität der Untersuchungsgegenstände und der Verzicht auf einen resümierenden Beitrag, der die interdisziplinäre Diskussion auf den Tagungen zumindest skizziert hätte. Dennoch bleibt die Erkenntnis, daß Forschungen zur Gewalt ein wichtiges kulturhistorisches Thema darstellen, zu dem die Geschichte der Frühen Neuzeit ihrerseits eine Menge beiragen kann.

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