Der Sozialdemokrat Wilhelm Sollmann war einer der einflussreichen Sozialdemokraten der Weimarer Republik, die heute weitgehend vergessen sind. Am bekanntesten ist Sollmann vielleicht als freundlicher Konterpart von Konrad Adenauer während der Novemberrevolution, als Sollmann kurzzeitig den Kölner Arbeiter- und Soldatenrat leitete und eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Oberbürgermeister und der Verwaltung auf den Weg brachte. Später äußerte er sich zu den Ereignissen: „Unsre erste Sorge galt, wie es echten Deutsche auch in einer großen Revolution geziemt, der Wiederherstellung und Aufrechthaltung der Ordnung.“ (S. 143)
Sein Biograph Simon Ebert hat in seiner Bonner Dissertation dieses Zitat als Selbstironie bezeichnet und zugleich die Übereinstimmung Sollmanns mit der MSPD-Strategie eines möglichst geordneten Übergangs vom Kaiserreich zur Demokratie betont. Ziel war es, zügig Wahlen zur Nationalversammlung zu organisieren und die Arbeiter- und Soldatenräte überflüssig zu machen.1 Mit diesem Ausschnitt ist ein grundsätzliches Problem der umfangreichen und quellengesättigten Biographie angesprochen, die sich auf allgemeine Forschungen zur Weimarer Republik und den überschaubaren Forschungsstand zu Sollmann stützt.2 Simon Ebert hat eine politische Biographie verfasst, in der Wilhelm Sollmann als „Querdenker“ und „sozialdemokratischer Individualist“ gedeutet wird, dessen politische Praxis während der Weimarer Republik jedoch fast immer im „Einklang“ (S. 168) mit der Parteiführung stand. Ebert nimmt eine Nichtzugehörigkeit zum sozialdemokratischen Milieu von Sollmann aufgrund seiner Herkunft aus einem kleinbürgerlich-bäuerlichem Umfeld – sein Vater war zeitweilig Bierbrauer – als analytischen Ausgangspunkt, um das politische Handeln Sollmanns in verschiedenen Feldern – so seinem Eintreten für eine „machtbewusste Politik“ der SPD in der Regierungsverantwortung, seinem journalistischen Wirken und seiner Offenheit vor allem gegenüber dem katholischen Milieu – zu untersuchen. Als Quellenmaterial nutzt Ebert die vielen Publikationen des Parteijournalisten, seine Reichstagsreden, Parteiunterlagen und aus vielen Archiven und Nachlässen zusammengetragene Briefwechsel.
Die vier Hauptkapitel der Arbeit befassen sich erst mit der Jugend und frühen politischen Aktivitäten im Kaiserreich, dann folgt ein Abschnitt über Weltkrieg und Revolution mit Konzentration auf Kölner Ereignisse. Das mit 270 Seiten umfangsreichste Kapitel befasst sich mit der Weimarer Republik, in der Sollmann seine größte politische Wirkung entfaltete. In diesem Kapitel arbeitet Ebert etwas weniger chronologisch wie in den anderen Abschnitten, sondern stärker systematisch die verschiedenen Tätigkeitsfelder ab. Das vierte Kapitel beschreibt die „Stationen der Emigration“ – Luxemburg, Großbritannien und schließlich die USA – sowie die Nachkriegsjahre bis zum frühen Tod Sollmanns 1951.
Mit sechzehn Jahren zieht Sollmann mit der Familie von Coburg nach Kalk bei Köln und nimmt den Besuch des Gymnasiums nicht wieder auf. In Köln schließt sich der kaufmännische Angestellte der Sozialdemokratie an. Beeinflusst von lebensreformerischen Ideen, wird er Vegetarier und Referent des Arbeiter-Abstinenzler-Bundes sowie ehrenamtlicher Leiter der sozialistischen Arbeiterjugendbewegung in Köln, 1911 dann Redakteur der Rheinischen Zeitung, eine Stellung, die er bis zur Flucht 1933 innehatte. Ab 1914 Stadtverordneter für die SPD in Köln, war Sollmann von 1920 bis 1933 einflussreiches Mitglied des Reichstages.
Sollmann stieg jedoch nicht in höchste Partei- oder Staatsämter auf, wohl auch, weil er weniger Organisator als mehr Publizist war. Als Reichsinnenminister konnte Sollmann im Krisenjahr 1923 nur wenige Monate wirken. Ebert vermutet darin einen Grund für Sollmanns geringen Bekanntheitsgrad: „Es ist in der Regel so, dass Personen, die nicht wegen ihrer Ämter, sondern wegen ihrer politischen Ideen von Bedeutung waren, schneller in Vergessenheit geraten“. (S. 10) Diese These scheint für Weimarer Reichsminister ebenso verwegen wie für politische Theoretiker, die häufig keine Ämter innehatten. Der gegenüber Sollmann 1931 zum Zuge gekommene Hans Vogel bei der Wahl zum Parteivorsitzenden der SPD dürfte ebenso wenig zu den noch prominent erinnerten Sozialdemokraten gehören wie Sollmann.
Welche politischen Ideen kennzeichneten Sollmann? Ebert sieht einen der wichtigsten Aspekte in Sollmanns Plädoyer für eine „machtbewusste(n) Politik“. Er trat, auch aufgrund von Erfahrungen aus der Integration der SPD in kommunale Entscheidungen während des Weltkrieges, für eine Regierungsbeteiligung der SPD ein, eher in Zusammenarbeit mit sozialen und demokratischen Kräften in den bürgerlichen Parteien als mit der USPD oder gar der KPD, die er entschieden ablehnte. Die SPD sollte nicht nur die Arbeiterklasse ansprechen, sondern sich als eine Art Volkspartei etablieren. Sein demokratisches Verständnis basierte auf der Akzeptanz gesellschaftlicher Pluralität, wie Ebert anhand vieler Artikel und Reden von Sollmann anschaulich nachweisen kann. Dieses Verständnis interpretiert Ebert weniger als Ergebnis eines allgemeinen politischen Wandlungsprozess‘ denn als Folge eines weniger milieugebundenen Einstieges in die Politik sowie der Auseinandersetzung mit dem dominierenden politischen Katholizismus im Rheinland und positiven Erfahrungen Sollmanns mit deren Repräsentanten.
Ein modernes Parteiverständnis Sollmanns macht Simon Ebert auch in der Pressepolitik aus. Schon 1913 geißelte Sollmann umständliche Intellektuellensprache und die zu geringe Berücksichtigung von lebensweltlichen Interessen der Arbeiterschaft in den Zeitungen der Partei. In der Weimarer Republik gehörte Sollmann mit zu den Initiatoren eines sozialdemokratischen Pressedienstes, mit der die Popularität der Zeitungen erhöht werden sollte. 1926 von Sollmann und anderen vorgeschlagene Reformen wurden zwar auch als „Amerikanisierung“ kritisiert, fanden aber in der Partei überwiegend Zustimmung. Anhand der Rheinischen Zeitung – die Auflagensteigerungen bis Anfang der 1930er-Jahre erlebte – zeigt Ebert, wie Sollmann als Chefredakteur seine Konzeptionen umsetzte. Neben einem geringeren Anteil von politischen Themen – Ebert kommt auf knapp 20 Prozent gegenüber fast einem Drittel bei anderen SPD-Zeitungen – waren es vor allem Rubriken und Beilagen für spezifische Lesergruppen, so für Frauen, Kleingärtner oder Erwerbslose, aber auch eine Diskussionsbeilage zwischen sozialdemokratischen und kirchlichen Gruppen. Die Zeitung, so Eberts Resümee, habe sich den Themenspektren bürgerlicher Zeitungen angenähert, aber ihr Wandel sei auch „typisch“ für die sozialdemokratische Pressearbeit gewesen (S. 318).
Die Emigration von Sollmann, der noch 1933 in den Exil-Parteivorstand gewählt wird, führte zu einer Entfremdung zur Partei. Zuerst in der Saar, dann in Luxemburg und Großbritannien reiste er 1937 in die USA. Zwar mit dem Auftrag, Verbindungen für die SPD zu knüpfen, fand er aber vor allem eine neue Lebensperspektive. An dem Quäker College Pendle Hill in der Nähe von Philadelphia arbeitete er als Lecturer, 1942 wurde er amerikanischer Staatsbürger. In den Nachkriegsjahren reiste er mehrmals nach Deutschland, hatte aber nicht vor, dauerhaft zurückzukehren.
Als Publizist und als Reichstagsabgeordneter hat Sollmann zu fast allen wichtigen politischen Ereignissen Stellung genommen, und Ebert kann aus seinem beeindruckenden Quellenfundus eine ausführliche und detailreiche Darstellung bringen. Allerdings bildet das analytische Grundmotiv der Arbeit die Suche nach dem Querdenker, einen Begriff, den Ebert positiv versteht. Sollmann pluralistisches Demokratieverständnis oder eine moderne Pressepolitik mag dazu gezählt werden, wenn die SPD dagegen als schwerfällig und bürokratisch gezeichnet wird. Die nationale Ausrichtung Sollmanns Anfang der 1930er-Jahre, als er der SPD antinationale Tendenzen vorwarf und offen gegenüber rechten Argumentationsfiguren war, gehören jedoch nicht dazu, auch nicht sein politischer Kontakt mit Otto Strasser in der Emigration oder antijüdische Ressentiments, die Sollmann gelegentlich äußerte. Für Ebert waren es „Aussagen von ihm, die nachdenklich stimmen“ (S. 502) oder „Fehltritte“, die aber „seine großen Verdienste nur unwesentlich beeinträchtigen“ (S. 562). An diesen wie auch anderen Stellen hätte das Grundmotiv erweitert werden können, denn offensichtlich war Sollmann auch ein konformer Querdenker, dessen politische Konzeption die Führung der „Massen“ ebenso beinhaltete wie die Herausstellung von einzelnen Führungsfiguren. Diese schon 1927 erhobene Forderung war nicht „antimarxistisch“, wie Ebert schreibt (S. 420), sondern war auch in der KPD oder der Sowjetunion zu beobachten. Eher war es das Bemühen, zeitgenössisch populäre Formen politischer Kommunikation zu nutzen.
Sollmann steht für einen Flügel in der Weimarer SPD, der im Parlamentarismus und der Demokratie nicht nur einen Schritt in die richtige Richtung sah, sondern es bereits als Ziel verstand, ein Ziel, dass er in den USA verwirklicht sah. Sollmann war ein einflussreicher Parteipolitiker, der auch spätere Entwicklungen in der SPD nach dem Krieg vorwegnahm und vielleicht als ein Godesberger avant la lettre bezeichnet werden könnte. Insofern ließe sich sagen, dass er seiner Zeit voraus war, aber das heißt nicht, dass er gegen den Strom schwamm. Ebert möchte Sollmann aber unbedingt positiv darstellen und übersieht die hohe Übereinstimmung mit der Parteiführung, die sich in seiner Biographie auch widerspiegelt. Etwas weniger Sympathie für den und etwas mehr analytische Distanz zum Biographierten hätten der materialreichen und anschaulichen Darstellung gut getan.
Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu anschaulich: Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat 1918/19, eingeleitet und bearbeitet von Volker Stalmann, unter Mitwirkung von Jutta Stehling (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19, herausgegeben von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band IV), Düsseldorf 2013.
2 Simon Ebert nennt als Vorbild Franz Walter, Wilhelm Sollmann (1881–1951). Der Parteireformer, in: Peter Lösche / Michael Scholing / Franz Walter (Hrsg.), Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin 1988, S. 362–390.