E. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Titel
Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990


Autor(en)
Wolfrum, Edgar
Erschienen
Anzahl Seiten
VII + 532 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

An den Börsen blickt zur Zeit alles gebannt und konzentriert auf die "neue Ökonomie" und die erhofften Gewinnmöglichkeiten der Informationstechnologie. Erfolge am Markt scheinen nur noch Unternehmen zu haben, die wenigstens einen Hauch von Internet-Phantasie suggerieren. In der Geschichtswissenschaft boomt schon etwas länger, aber manchmal durchaus genauso exzessiv, das Thema "Erinnerung". Die Mechanismen und Bedingungen, in denen das Alte überliefert wird; die Formen, wie sich die Nachgeborenen ein Bild des Vorhergehenden machen - das scheint die "new economy" Clios zu sein.

In der Kombination mit dem Zauberwort "Erinnerung" soll auch ein verstaubter Ladenhüter wie der 17. Juni in der Bundesrepublik wieder marktfähig werden. Edgar Wolfrum hat in seiner Habilitationsschrift den bundesdeutschen Feiertag als historisches Sujet entdeckt. Während es eine ganze Reihe von Studien zu den Ereignissen des 17. Juni in der DDR gibt, hat er die erste Monographie zum (früheren) "Tag der deutschen Einheit" verfaßt.

Wolfrum hat den 17. Juni als "Paradigma" ausgewählt, "um den Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung herauszuarbeiten" (S. 9). Dieser Tag sei das "alles überwölbende geschichtspolitische Schlüsselereignis" (S. 10) gewesen, dessen Verarbeitung und Ausdeutung die westdeutsche Geschichtskultur und "kollektive Erinnerung" (S. 11) bis in die 60er Jahre stärker geprägt hätten als jeder andere historische Bezugspunkt. Es ist sicher verständlich, wenn Autoren ihren Gegenstand für besonders bedeutsam erachten - aber hier überschätzt Wolfrum zweifellos sein Sujet. Er konstatiert, der 17. Juni habe es ermöglicht, über den Verlust der Nation öffentlich zu reden, ohne über den Nationalsozialismus sprechen zu müssen. Mit der Feier des 17. Juni war es also möglich, die eigenen Anteile am Nationalsozialismus und am Verlust der Nation auf indirekte Weise zu thematisieren, gelang es, die deutschen Täterschaften auszublenden. Dieser verborgene Hintergrund des 17. Juni und damit eine wesentliche Bedingung seiner Popularität in der Bundesrepublik bleiben in Wolfrums Studie ausgeblendet. Um das indirekte Reden über den Nationalsozialismus und die frühere Nation deutlich zu machen, wäre es besser gewesen, Wolfrum hätte diesen verborgenen Antrieb mitanalysiert. Die Problematik von historischer Erinnerung in der Bundesrepublik wäre in ihrer Ambivalenz damit deutlicher hervorgetreten. Denn gerade die Kontroversen seit den 80er Jahre haben ja gezeigt, daß der Nationalsozialismus keineswegs ferne Vergangenheit wird, auch wenn die Bundesdeutschen - vor oder nach 1989 - sich ihrer bundesdeutschen Identität sicherer werden. Die vermittelte Aktualität des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik bleibt allemal prägender als ein zum "Großmythos" (S. 356) stilisierter 17. Juni.

Wolfrums fleißige Studie zeichnet detailliert die verschiedenen Phasen der politischen Instrumentalisierung des 17. Juni nach und beschreibt jeweils ausführlich das "rechte" und das "linke" Lager in ihrem Verhältnis zum 17. Juni und damit zum Wert der Nation in der Bundesrepublik. Er unterscheidet vier Phasen, die er wie folgt skizziert:

1. Bis 1953 hätte sich die frühe Republik auf der Suche nach Traditionssträngen befunden, am Ende sei dann der "Gedächtnisort 'Tag der deutschen Einheit' etabliert" (S. 347) gewesen. Da Wolfrum alles aus dem Blick einer intentional operierenden Geschichtspolitik betrachtet, spricht er von schließlicher Etablierung - wo doch die Ereignisse des 17. Juni als unerwartetes Geschehen eine unverhoffte Lösung des symbolischen Defizits der frühen Bundesrepublik ermöglichten. "Geschichtspolitik" war hier vor allem das rasche Aufgreifen der Situation, befördert durch die politische Opposition der SPD gegenüber der Westintegration.

2. Seit 1953 bis Mitte der 60er Jahre habe es einen "Kult" um die Nation gegeben. Die vielfältigen Formen dieser massenhaften Inszenierungen - oft noch ganz in der Tradition und auch in den Formen der 'Volksgemeinschaft' - wiederentdeckt zu haben, ist einer der Vorzüge von Wolfrums Studie. In der Nachkriegszeit findet sich eben nicht nur protestantische Schuldreflexion und linke Demonstrationskultur (Stichwort: Ostermärsche), sondern auch ein Kult um die Nation. Nach dem Mauerbau flaute dieser Kult dann rasch ab. Damit begann jene Zeit, in der der Feiertag des 17. Juni von mehr und mehr Bundesdeutschen als überholt, als Pflichtübung und als fast schon peinliche Veranstaltung angesehen wurde.

3. Wolfrum verortet in den rund zehn Jahren von Mitte der 60er Jahre bis 1974 die Etablierung eines eigenen bundesrepublikanischen Staatsbewußtseins und einer linken Sonderwegsthese. Geschichstbewußtsein sei nun nicht mehr über Ritualisierungen, sondern "über politische Diskurse gestaltet" worden (S. 353). Salopp gesagt: man marschierte nicht mehr und veranstaltete auch keine Stafettenläufe zur Grenze, sondern hörte sich statt dessen nur noch die Gedenkreden an.

4. Abgelöst wurde diese Zeit durch eine Polarisierung, indem die Konservativen (Stichwort "Wende") seit 1982 eine Normalisierung des nationalen Selbstverständnisses befördern wollten. Nach 1989 sei der 17. Juni, so Wolfrum, dann der wichtigste historische Bezugspunkt geworden, mit welchem die ehemaligen DDR-Bürger die ihnen gestohlene "Erfahrung von Einigkeit und Recht und Freiheit" (S. 356) ausdrückten. Deshalb auch könne der 17. Juni die Traditionen von Revolution und Nation vereinen und eben - als neuer "Großmythos" (S. 356) - die Erinnerung der Bundesrepublik prägen. Warum der 17. Juni 1990 so problemlos als Feiertag abgeschafft werden konnte und warum nur wenige sich an das Ereignis noch erinnern - diese naheliegenden Fragen stellt sich Wolfrum indes nicht.

Es ist unverkennbar, daß Wolfrum die Bedeutung seines Gegenstandes sehr hoch einschätzt, und auch überschätzt. Das ist vermutlich nicht nur der verständlichen Entdeckerfreude des Forschers geschuldet, sondern auch seinem Versuch, "Geschichtspolitik" als Begriff zu etablieren, als Forschungsthema zu propagieren und als theoretisches Konzept zu konzipieren. Norbert Frei hat jene politischen Entscheidungen in der frühen Bundesrepublik rekonstruiert und mit "Vergangenheitspolitik" jenen politisch intendierten Vorgang beschrieben, der wesentlich dazu beigetragen hat, daß das öffentliche Reden über die nationalsozialistische Zeit nahezu zum Erliegen kam; Peter Reichel hat in "Politik der Erinnerung" skizziert, wie umstritten und politisierbar die Erinnerung an den Nationalsozialismus war, und wie mit der Erinnerung immer auch aktuelle Tagespolitik gemacht wurde. Wolfrums "Geschichtspolitik", von ihm definiert als die Erforschung von "öffentlichen Konstruktionen von Geschichts- und Identitätsbildern, die sich über Rituale und Diskurse vollziehen" (S. 32), geht theoretisch nicht über Reichel hinaus. Auch der Begriff selber findet sich bereits bei Reichel (Peter Reichel, Politik der Erinnerung, München 1995, S. 34). Allen drei Autoren ist indes gemeinsam, daß sie keine Studien über kollektive Erinnerungsprozesse vorlegen; doch erhebt auch nur Wolfrum diesen Anspruch.

Was ihm nicht gelingt, ist den Prozeß gesellschaftlicher Erinnerung - d.h. die soziale Konstruktion von Vergangenheitsbildern und die politische Konkurrenz divergierender Bilder - so zu konzeptualisieren, daß er als kollektiver Vorgang erkennbar und analysierbar wird. Auch seine Analyse bleibt der Interpretation von einzelnen Akteuren und dem Beschreiben der Absichten von politischen Gruppen und Parteien verhaftet. Das macht er gründlich und solide. Doch geht "kollektive Erinnerung" nicht in den Intentionen öffentlicher Akteure auf. Bezeichnend ist es insofern, daß Wolfrum auf den Versuch einer Analyse der Rezeption verzichtet. Er verweist an mehreren Stellen auf Meinungsumfragen, ohne die Ergebnisse aber in seine Analyse wirklich einzubeziehen. Er beansprucht, die politischen Meinungsbildungsprozesse breit zu erfassen, "um den wechselseitigen Einfluß der geschichtspolitischen Planungen "von oben" und die Rezeption durch die Bevölkerung zu ermitteln" (S. 10). An der Syntax dieses Satzes wird sein einseitiger Zugriff deutlich: was als "wechselseitiger" Einfluß anfangs postuliert wird, wird dann nicht als ein gleichberechtigtes, wechselseitiges Verhältnis von Planungen und Wahrnehmungen beschrieben - sondern aufgelöst in ein abhängiges Verhältnis der Planung von oben und "die" Rezeption von unten. Seine Perspektive bleibt letztlich die Sichtweise der parteipolitischen Eliten - ihre Intentionen, ihre Strategien und ihre Handlungsmuster, um Erinnerungsbilder zu beeinflussen zu versuchen.

Die parteipolitische Deutungskonkurrenz und die je wechselseitige Instrumentalisierung des Feiertages durch rechts und links nachgezeichnet zu haben, zeichnen die Arbeit aus. Ebenso die ausführliche Rekonstruktion des Transfers von links nach rechts: denn in den 50er Jahren reklamierte vor allem die SPD den 17. Juni und kritisierte damit die Westintegration der Union (ergänzend wäre hinzuzufügen: und tat sich leichter mit dem nationalen Pathos, da man ein distanzierteres Verhältnis zum Nationalsozialismus gehabt hatte als das bürgerliche Lager); während dann seit der sozialliberalen Ostpolitik die Union den Feiertag benutzte, um der SPD nationale Unzuverlässigkeit vorzuwerfen. Eine Ironie in der Geschichte des 17. Juni ist es, daß Eppler in einer Rede zum 17. Juni im Bundestag 1989 diese beiden Positionen versöhnte - und damit die vollzogene Entpolitisierung des 17. Juni offen zu Tage treten ließ. Die Historie des 17. Juni als Feiertag war damit schon vor dem Kollaps der DDR zu Ende.

Versöhnt schienen damit auch die Kritiker des Feiertages. Denn bereits seit den 50er Jahren ließe sich nicht nur die parteipolitische Instrumentalisierung und die Verwendung als "geschichtspolitisches" Argument nachzeichnen, wie es Wolfrum getan hat, sondern auch die permanente Kritik am Feiertag und die Frage des Feuilletons, ob der Feiertag noch einen Sinn habe, da die meisten ihn ja nur zur Fahrt ins Grüne nützten. Diesen Aspekt des wohltuend pathoslosen und unverkrampften Umgangs mit dem nationalen Symbol blendet Wolfrum aus.

Die Arbeit ist weniger dem beanspruchten Sujet "Geschichtspolitik", sondern mehr einer "Politikgeschichte" des bundesdeutschen Nationalfeiertages verpflichtet. Darin besteht ihr Ertrag. Ihre Qualitäten liegen jedoch nicht in der aufwendig beanspruchten theoretischen Konzeption. Zwar greift Wolfrum auf fast alle Theorieangebote zurück, die zur Zeit in der "new economy" der Erinnerungskultur auf dem Markt sind. Er nähert sich dem 17. Juni als "Gedächtnisort", als "erfundener Tradition", mit kulturanthropologischer Ritualanalyse, untersucht ihn als "Diskurs" [wobei Koselleck erstaunt sein wird, als Verfechter des Diskursbegriffs notiert zu werden - überdies eines Diskursbegriffes, der banalisiert wird zu "gängige, die Vorstellungen bestimmende Redeweisen" (S. 268)]. Nur psychoanalytische Theorieangebote zum Thema Erinnerung werden nicht aufgegriffen.

Zu bezweifeln ist jedoch, ob es glücklich war, säuberlich jedes Kapitel und jede zeitliche Phase mit einem anderen Theorieangebot zu analysieren. Dadurch läßt sich zwar ein klarer Bruch des "Kults um die Nation" in den 50er und 60er Jahren hin zum "nur mehr diskursiv" (S. 267) gebildeten Selbstverständnis seit den späten 60er Jahren konstruieren. Zweierlei spricht aber evident gegen dieses Verfahren. Einerseits kann Wolfrum diese strikte Trennung selbst nicht durchhalten. In einem späteren Kapitel erwähnt er, daß wirksamer als die Geschichtsmuseen Kohls seine "symbolischen Erinnerungsgesten" (S. 338) gewesen seien. Auch Brandts Kniefall in Warschau war sicherlich mindestens so wirksam wie ein irgendwie definierter Diskurs. Andererseits begrenzt auch hier wieder die Ausblendung des Nationalsozialismus als zentralem und problematischen historischem Bezugsereignis (Lepsius) der Bundesrepublik den Horizont der Arbeit. Denn so, wie sich die geringere Symbolisierungs- und Ritualisierungsfähigkeit des 17. Juni seit den späten 60er Jahren auch als zu Tage tretender Bedeutungsverlust interpretieren ließe, könnte man auch der Frage nachgehen, inwiefern das vermehrte öffentliche Reden über und das sich intensivierende Symbolisieren des Nationalsozialismus jene Ersatzformen - wie der 17. Juni eine war - in den Hintergund treten ließ. Durch seinen Ansatz und seine ausschließliche Konzentration auf den 17. Juni ist Wolfrum eine Erörterung dieser komplexen Erinnerungsbezüge aus den Augen geraten.

Als Fazit bleibt: seine Studie rekonstruiert detailliert die parteipolitischen Instrumentalisierungen des 17. Juni. Das jedoch mit "Erinnerung" gleichzusetzen, ist aufgesetzt. Als "bundesrepublikanische Erinnerung" bezeichnet Wolfrum die "volle historische und politische Selbstanerkennung" (S. 346) der Bundesrepublik, die sie 1989 erlangt hätte. Als "Hindernis, sich selbst zu begreifen" (S. 346), hätten das "NS-Erbe" und die deutsche Teilung gewirkt. Was in dieser nebulösen Formulierung verschwindet, ist aber gerade die Bedeutung des Nationalsozialismus für das politische Selbstverständnis der Bundesdeutschen. Das "NS-Erbe" war eben keineswegs ein Hindernis, das irgendwie und irgendwann überwunden werden mußte, sondern ist seit 1945 Bestandteil der politischen Selbstverortung der bundesdeutschen Eliten. Gerade die Kontroversen der 90er Jahre, nach dem Ende der Teilung, zeigen das ja überdeutlich.

Insofern spiegelt Wolfrums Studie fast dieselbe Illusion wider, der die Propagatoren des 17. Juni als Nationalfeiertag verfallen waren: gesellschaftliche Identität und historische Erinnerung in der Bundesrepublik artikulieren zu können, ohne über den Nationalsozialismus reden zu müssen. Nur in diesem Zusammenhang dürfte schließlich auch eine Erklärung dafür zu finden sein, daß sich in den letzten Jahrzehnten das öffentliche Reden über den Nationalsozialismus derart intensiviert hat. Erst als die Bundesdeutschen mehrheitlich ein demokratisches historisch-politisches Bewußtsein ihrer selbst erlangt hatten und damit die Bundesrepublik eine neue symbolpolitische Sprache entwickeln kann, wurde es möglich, den neuralgischen Punkt ihrer historisch-politischen Identität (auch der Nachgeborenen) zum Thema zu machen. Im Prozeß der schwierigen Gestaltung einer staatspolitischen Symbolsprache für die Bundesrepublik, welche das zentrale Bezugsereignis, den Nationalsozialismus explizit miteinbezieht, stehen wir zur Zeit. Doch damit können die Ersatzsymbole öffentlich in Vergessenheit geraten - und Historiker könnten analysieren, inwiefern gerade in dieser Ersatzfunktion die geschichtliche und politische Bedeutung eines heute verblaßten Symbols liegt.

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