Während der geschichtskulturelle Umgang mit dem Ersten Weltkrieg in der internationalen Literatur ein Thema von Interesse darstellt, wurden solche Perspektiven im Zusammenhang mit der Schweiz bisher noch kaum verfolgt. Diese Lücke schließen Konrad J. Kuhn und Béatrice Ziegler mit dem vorliegenden Sammelband, in dem der geschichtskulturelle Umgang mit der Schweiz im Ersten Weltkrieg erstmals umfassend thematisiert wird. Das Buch sammelt geschichtskulturelle Spuren und zeigt Inhalte und Formen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, nimmt dabei eine Fülle von unterschiedlichen Erinnerungsträgern in den Blick und stellt dar, in welcher Weise die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg seit den 1920er-Jahren politisch genutzt wurden und wie sie schließlich wieder verloren gingen.
Die schweizerische Bevölkerung blieb vom Kriegsgeschehen im Sinne von Kampfhandlungen verschont und hatte auch keine Gefallenen zu beklagen. Dennoch waren die Auswirkungen des Krieges auch in der Schweiz massiv spürbar: Absatzschwierigkeiten, Probleme mit Lieferwegen, die Notwendigkeit der Verteidigung der Grenzen, Arbeitslosigkeit, aber auch Hunger und Verarmung in breiten Bevölkerungsschichten waren Herausforderungen der Zeit. Dennoch scheint dieser Krieg im kollektiven Gedächtnis der Schweizerinnen und Schweizer weitgehend ein vergessener zu sein. Darauf verweist auch eine Schulbuchanalyse von Michel Schultheiss und Julia Thyroff, die in einem Artikel des Bandes thematisiert wird: In der Mehrzahl der Lehrmittel findet die Schweiz in Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg nicht einmal mehr eine Erwähnung. Wenn Schulbücher als „nationale Autobiographien“ (Wolfgang Jacobmeyer) betrachtet werden, in denen sich sinngebende Narrationen über die Vergangenheit zur Orientierung in der Gegenwart verdichten, so stellt sich die Frage, warum und ab wann die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in der Schweiz für die nachfolgende Generation nicht mehr bedeutend war.
So zeigt sich in mehreren Artikeln des Sammelbandes, dass die mannigfaltigen Spuren der Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg seit den 1930er-Jahren von einer dominierenden Erzählung über den Zweiten Weltkrieg überlagert wurden. Während kurz nach dem Krieg noch eine Pluralisierung von Erzählungen in soldatischen Selbstzeugnissen auszumachen ist (Christian Koller), haben sich ab den 1920er-Jahren und besonders ausgeprägt mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland andere Diskurse durchgesetzt. Das kulturelle Programm dieser Zeit bestand in der „Geistigen Landesverteidigung“ mit dem Postulat, sich ganz in den Dienst der schweizerischen Landesverteidigung zu stellen. Diese kulturell-politische Strömung beeinflusste den geschichtskulturellen Umgang mit dem Ersten Weltkrieg für Jahrzehnte.
Béatrice Ziegler zeigt in einem Artikel über die große patriotische Frauengestalt des Ersten Weltkrieges Gilberte de Courgenay, wie im Zuge der Geistigen Landesverteidigung Erinnerungen zielgerichtet und absichtsvoll für politische Zwecke verwendet wurden. In dem 1941 erstmals ausgestrahlten und äußert populären Film über Gilbert de Courgenay, die Tochter eines Wirtshausbesitzers, reflektieren sich staatliche Vorstellungen der Zeit, wie sich Frauen in Kriegszeiten einbringen sollten. Im Zuge einer „Nationalisierung von Frauen“ wurde erwartet, dass Frauen sich selbstlos für das Wohlergehen der Soldaten einsetzen. Über die „Soldatenmutter“ Gilberte de Courgenay, die dies filmisch inszeniert nicht nur vorbildlich, sondern auch mit freudiger Selbstvergessenheit tut, wurde gezielt in diesem Sinne an die weibliche Bevölkerung der Schweiz appelliert. Das ist der Grund, wieso diese Erzählung über den Ersten Weltkrieg im Jahr 1941 Sinn stiftete. In diesem Zusammenhang wurden zur Förderung einer geschlossenen Schweizer Identität damals auch schon aktuelle Themengebiete wie beispielsweise die Spannungen zwischen der Romandie und der Deutschschweiz angesprochen, die im Film aber letztlich aufgelöst werden können. Mit „Füsilier Wipf“ (1938) thematisiert Peter Neumann einen weiteren Film, der im Sinne der Geistigen Landesverteidigung in „politischem Dienst“ stand.
Das vom berühmten Soldatensänger und Volksliedsammler Hanns in der Gand gesammelte Liedgut wird von Karoline Oehme-Jüngling zum Thema gemacht. Der Sänger mit polnischen Wurzeln gilt als wichtigster Protagonist der Unterhaltung von Soldaten an der Grenze während dem Ersten Weltkrieg. Die Autorin zeigt, dass in der Zeit des Ersten Weltkrieges nicht ausschließlich in engen nationalstaatlichen Grenzen gedacht wurde. Gand zeichnet Lieder auf, wenn sie von Schweizerinnen und Schweizern gesungen wurden, wobei bei genauerer Untersuchung zahlreiche transkulturelle Aspekte sichtbar werden. Viele Lieder waren an keine nationalstaatlichen Grenzen gebunden.
Natürlich dürfen auch die Bildpostkarten, die derzeit einiges an Forschungsaufmerksamkeit erfahren, in einem Band über die Geschichtskultur der Schweiz im Ersten Weltkrieg nicht fehlen. Giuliano Bruhin zeigt, dass die Postkarten einen Eindruck dessen geben, was die Soldaten an der Grenze beschäftigte und wie sie ihr Leben dort gestalteten. Millionenfach von der Grenze nach Hause geschickt, finden sich auf diesen Karten oft Sujets, welche die Schweiz als neutralen und karitativen Staat inszenieren.
Des Weiteren werden unter anderem mit Denkmälern (Konrad Kuhn), politischen Reden (Andreas Kley), Tageszeitungen (David Tréfàs), Kinderzeichnungen (Anna Lehninger) und Kinder- und Jugendliteratur (Pirmin Meier) zahlreiche Medien, in denen sich Geschichtskultur manifestiert, in den Blick genommen. Der Band zeigt, dass nach der Periode der Geistigen Landesverteidigung, ab den 1960er-Jahren, die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg an identitätsbildender Funktion eingebüßt hat, explizit kaum mehr thematisiert und der Erste Weltkrieg dadurch zu einem vergessenen Krieg wurde. Den Autorinnen und Autoren ist es gelungen, den Ersten Weltkrieg in der Schweiz aus der Vergessenheit zu holen und durch das Sammeln geschichtskultureller Versatzstücke bestehende Narrative zur Schweiz im Ersten Weltkrieg aufzuzeigen.
Welche unterrichtspraktische Relevanz hat der Band? Innerhalb des geschichtsdidaktischen Diskurses wurde in den letzten Jahrzehnten mit Nachdruck auf die Notwendigkeit der Beschäftigung mit Geschichtskultur im Unterricht hingewiesen. Um historisch denken zu lernen, sollten im Geschichtsunterricht nicht nur Re-Konstruktionsprozesse, also das Arbeiten an Quellen zur Konstruktion historischer Narrationen, vollzogen werden. In einer von Geschichte überladenen Welt werden Schülerinnen und Schüler ständig mit fertigen Geschichten über die Vergangenheit konfrontiert. Aus diesem Grund stellt die Anbahnung von De-Konstruktionskompetenz als zentrale Operation des historischen Denkens von Schülerinnen und Schülern eine Notwendigkeit im Geschichtsunterricht dar. Das kritische Hinterfragen der Manifestationen von Geschichtskultur und das Erkennen von Intentionen und Perspektiven in historischen Darstellungen jeder Art kann das Bewusstsein um die Möglichkeit der politischen Instrumentalisierung von Geschichte schärfen. In diesem Sinne bietet der Band einiges an Materien, die nach entsprechender Aufbereitung auch im Geschichtsunterricht zur Anregung von genuin historischen Denkprozessen Anwendung finden können. Insbesondere jene Medien, in denen sich die politische Instrumentalisierung von Erinnerungen im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung spiegeln, scheinen in dieser Hinsicht für den Geschichtsunterricht geeignet zu sein. Darüber hinaus stellt die von Kuhn und Ziegler verfasste Einleitung auch eine fundierte Einführung in das Thema Geschichtskultur für interessierte Lehrerinnen und Lehrer oder auch Studierende dar.