J. Raymond u.a. (Hrsg.): News Networks in Early Modern Europe

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Title
News Networks in Early Modern Europe.


Editor(s)
Raymond, Joad; Moxham, Noah
Series
Library of the Written Word 47
Published
Extent
XXX, 892 S.
Price
€ 232,14
Reviewed for H-Soz-Kult by
Daniel Bellingradt, Institut für Buchwissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Im Jahr 2011 startete „News Networks in Early Modern Europe“ als ein kollaboratives Verbund-Projekt, welches von Joad Raymond (London) initiiert wurde und an dem etwa 50 Expertinnen und Experten mitwirkten. Das wissenschaftliche Netzwerk machte es sich zur Aufgabe, historische Netzwerkstrukturen und -dynamiken des frühneuzeitlichen Nachrichtenwesens in Europa zu beleuchten und methodologische Grenzen und Chancen zu erörtern.1 Dass folglich Netzwerke Netzwerke beobachten, analysieren und thematisieren, gilt auch innerhalb einer interdisziplinär-arbeitenden historischen Kommunikationsforschung seit ein paar Jahren wieder als gewinnbringende Methodik. Insbesondere die Erforschung des frühneuzeitlichen Nachrichtenwesens in Europe ist gegenwärtig geprägt von „Netzwerk-Blicken“ auf Akteursgruppen, Distributionslogiken und Nachrichteninhalte. In summa haben diese Veränderungen dazu geführt, dass das Forschungsfeld aus nationalen Narrativen befreit wurde und man nun – im Sinne einer transnationalen Geschichtsschreibung – auf grenzüberschreitende Aspekte und Verbindungen fokussiert. Der vorliegende, mit fast 900 Seiten Umfang und mehr als 37 Beiträgen ausgestattete Band dokumentiert zum einen die zahlreichen Projektaktivitäten. Zum anderen lässt sich der Band als ein Dokument des sich wandelnden Forschungsfeldes lesen. Zur Erklärung: Aus der alten „Newspaper History“ – im Deutschen „Zeitungsgeschichte“ und bisweilen „Pressegeschichte“ – mit ihrem Hohelied der auf Papier gedruckten und periodisch-erscheinenden Mitteilungsform ist mittlerweile eine breiter konzipierte „News History“, eine Erkundung der Vielfalt innerhalb des Nachrichtenwesens geworden. Mittlerweile werden andere relevante Medien bei der Analyse des Medienverbundes berücksichtigt (wie z.B. Flugpublizistik oder handschriftliche Zeitungen), dynamische Faktoren für Anschlusskommunikationen gesucht und Fragen zur Multimedialität von Mitteilungsformen gestellt. Der Band positioniert sich, teils explizit, inmitten der erwähnten (medien- und kommunikations-)historiografischen Neuorientierungen.

Gegliedert ist der Band in drei Rubriken („Networks“, „Modes“ und „Studies“). In den einführenden Erläuterungen der Herausgeber überrascht die Offenheit darüber, dass die angestrebte Verständigung über Chancen und Grenzen der Forschungsfrage, nämlich wie und mit welcher Methodik man eine frühneuzeitliche „news culture“ analysiert, freimütig aufgegeben worden sei. Stattdessen präsentiere man in der Einleitung neun Thesen, die als „lessons of the research network“ (S. 15) zu verstehen seien. Es verwundert, dass ein solch großangelegtes Drittmittelprojekt anstelle eines theoretischen Impulses oder einer konzeptionellen Ausführung zum Forschungsanliegen und deren -kontexten mit Beobachtungen zur Projektforschung aufwartet.

Die im Folgenden präsentierten neun Thesen sind eine Mischung aus (alt)bekanntem Forschungsstand sowie substantiellen Neu-Einsichten und formieren sich um zwei Deutungs-Pole: zum einen um interpersonale Netzwerke und deren Bedeutungen für die frühneuzeitliche Nachrichtenkommunikation sowie zum anderen um systemische Interpretationen von Netzwerkstrukturen. Weil diese Synthesen von Relevanz sind, seien sie kurz rekapituliert. Erstens wird betont, dass zwischen 1450–1650 in mehreren Territorien relativ unabhängig voneinander „parallel evolutionary processes in the news media“ (S. 7) stattgefunden hätten, die jedoch alle auf Grundlage von überregionalen Kommunikationsmöglichkeiten, -verbindungen und -aktivitäten von Akteuren und Akteursgruppen basierten. Als Keimzelle des periodisch auf Papier (handschriftlich und gedruckt) kommunizierten Nachrichtenangebots wird, zweitens, der diplomatische Austausch in schriftbasierter Form seit etwa 1500 gesehen. Drittens findet Betonung, dass die internationale Kommunikationsvernetzung zu diversen sprachlichen Konventionen (z.B. bestimmter Termini) sowie einer europäischen Sensibilisierung von lexikographischen Verschiebungen und Unterschiedlichkeiten auf Rezipientenebene führte. Die Einrichtung und Existenz von Post- und Botenrouten sei, viertens, die wesentliche infrastrukturelle Grundlage des Nachrichtenwesens gewesen. Hieran knüpft die fünfte These an, die den grenzüberschreitenden Momenten von Nachrichtendistribution eine mentalitätshistorische Bedeutsamkeit zuweist. Dieser Aspekt spielt auf die Auswirkungen eines sich weitenden „Berichthorizontes“ an, so nannte es Cornel Zwierlein, welcher mittelfristig eine paneuropäische Wahrnehmung verstetigte. Die Geschwindigkeit der Nachrichtenverbreitung hatte, sechstens, mit der möglichen und tatsächlichen Geschwindigkeit der Verbreitungsinfrastruktur, der Post- und Botensysteme, zu tun. Siebtens charakterisieren die Herausgeber Großstädte als wichtige Kommunikationsknotenpunkte für das Nachrichtenwesen. Die achte These widmet sich der in fast allen europäischen Territorien festzustellenden Synchronität obrigkeitlicher Regulationsaktivitäten, die als ein relationales Phänomen mit Sogwirkung bewertet wird. Als neunte These wird formuliert, dass es trotz aller Netzwerkstrukturen und -aktivitäten immer auch Lebensräume gab, die bezüglich der Informationszugänglichkeit benachteiligt waren. Verzögerungen, Umgehungen, Auslassungen von „news flows“ ließen eben nicht nur Knotenpunkte („hot spots“) entstehen, sondern auch kommunikative Peripherien.

Die gewählte thesenhafte Präsentation ermöglicht das synthetische Formulieren komplexer Forschungszusammenhänge. Jedoch wird dies nur möglich, weil auf eine Berücksichtigung der relevanten nicht-englischsprachigen Forschungsliteratur fast ausnahmslos verzichtet worden ist. Nichtsdestotrotz verstehen die Herausgeber die Thesen als Grundlage – als „matrix“ (S. 16) – für zukünftige Forschungen. In den 37 folgenden Kapiteln werden vertiefende Einzelaspekte zu den präsentierten Thesen in beeindruckender Vielfalt und empirischer Tiefe behandelt. Ordnende Bezüge zu den Einleitungsthesen jedoch sucht man jedoch vergebens. Da eine Würdigung aller Kapitel hier nicht möglich ist, seien ausgewählte Aspekte von übergreifender Relevanz vorgestellt.

Aus der Fülle an lesenswerten Fallstudien hört man an einigen Stellen Plädoyers für den zukünftigen Einsatz von „Big Data“. So erinnert beispielsweise Nicholas Brownlees daran, wie wichtig und hilfreich etwa „machine-readable news corpora in the study of news networks in Early Modern Europe“ sein könnten (S. 396). Joad Raymond plädiert gar für einen zukünftigen datafizierten Zugriff auf alle relevanten Daten, die nötig sind, um das „Europe-wide network“ (S. 128) des Nachrichtenwesens belegbar und analysierbar machen zu können. Mit den Möglichkeiten von Einzelforscher-Projekten, klassifiziert als „traditional humanist methods“, könne man nicht einzelne Meldungen u.a. auf ihren (Um-)Wegen durch infrastrukturelle Gegebenheiten (wie Postsystem), soziale Auswahlmomente (journalistische Praxis) und zensurale Muster (territoriale Gesetzgebung und Umsetzung) verfolgen, so Raymond. Ähnliche Großideen entwickeln u.a. auch Brendan Dooley und Ruth Ahnert, wenn sie vorschlagen, bei der Suche nach Spuren von „news transmissions“ zukünftig digitalisierte Bestände mehrerer europäischer Archive gleichzeitig zu berücksichtigen (Ahnert) bzw. umfangreiche Korpora von digitalen Mediensammlungen mittels Suche nach identischen Textbausteinen auf Intertextualitätsmuster hin zu analysieren (Dooley). Auffällig ist bei diesen Big-Data-Zukunftsvisionen die Diskrepanz zwischen dem Aufwand der bevorzugten Analysemethode und den zu erwartenden Forschungsergebnissen. Die Aussicht, durch Drittmittelprojekte zu bekräftigen, was durch Detaileinblicke bekannt ist, erscheint wenig lohnenswert. Welchen Mehrwert hätten solche enorm teuren Forschungen, die z.B. flächendeckend bestätigen würden, dass bestimmte Nachrichtenmeldungen zustande kommen, weil konkrete Postrouten genutzt und von Akteuren gewisse Quellenvorlagen übersetzt, frisiert und weitergeleitet wurden?

Insgesamt ist der Band eine Bereicherung für die interdisziplinäre Medien- und Kommunikationshistoriografie, weil er ein traditionell quellennahes Forschungsgebiet mit theoretischen Impulsen versieht und durch systematisierende Deutungs-Perspektiven bereichert. Jetzt schon demonstriert ein Netzwerkblick z.B. auf die beteiligten Akteure und die Infrastrukturnutzungen, wie wichtig eine weitere wirtschaftshistorische Grundierung der Ökonomie des Nachrichtenwesens sein kann. Der Netzwerkblick eröffnet Einblicke in die Vorfinanzierungen, die Transferkosten – und nicht nur, wie sonst traditionell angegeben die Produktionskosten für den Drucker bzw. Schreiber. Nicht zuletzt böte eine wirtschaftshistorisch fundierte Netzwerkinterpretation von Nachrichtenproduktion, -distribution und -zirkulation ein relativierendes Narrativ zur rein politischen Interpretationen von Publikationen und publizierten Themen. Es ist zu begrüßen, dass neben dem Fokus auf „öffentlichen“ Nachrichtenformen auch klandestine Kommunikationsaktivitäten von sich freiwillig isolierenden Netzwerken – etwa päpstlichen Briefnetzwerken, wie Johann Petitjean ausführt – thematisiert werden. Anregend sind auch die Überlegungen zur Sozialität von Nachrichtenkommunikation, die André Belo ausbreitet. Weniger überzeugen kann hingegen, dass beachtliche Teile der Forschungsergebnisse zum Nachrichtenwesen innerhalb des Expertenkreises keine Berücksichtigung finden. Dass etwa Martin Welke, Holger Böning, Cornel Zwierlein, Gudrun Gersmann oder Oswald Bauer zu vielen Themen bereits publiziert haben, bleibt unerwähnt. Besonders misslich wird es, wenn Theorieangebote und Deutungen, die als Neuentwicklung präsentiert werden, schon existent sind. Anstelle vieler Beispiele: Das vielfach unterstellte und im Detail nachgewiesene systematische Weiterverwerten von Textbausteinen innerhalb des Nachrichtenwesens wird ohne Bezug zu den „Mediensystem“-Forschungen von Johannes Arndt behandelt.2

Anmerkungen:
1 Im 2011 gestellten Forschungsnetzwerk-Antrag (Leverhulme Trust) heißt es zum Forschungsanliegen: „to devise methods for analysing news communication across Europe, to identify and address the problems inherent in studying news culture“. Zitiert nach der Einleitung von Raymond/Moxham, S. 6.
2 Johannes Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750, Göttingen 2013; Johannes Arndt / Esther-Beate Körber (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750), Göttingen 2010.

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