Mit seinem neuen Buch legt der Militärhistoriker Edward J. Erickson eine Studie über die Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) im späten Osmanischen Reich vor. Im Kern behandelt er die Armenierdeportationen während des Ersten Weltkriegs. Sie jähren sich inzwischen zum hundertsten Mal und sind aufgrund der Völkermordkontroverse nach wie vor umstritten. Durch die militärhistorische Herangehensweise an die Thematik unterscheidet sich Erickson grundlegend von der bisherigen Literatur, die das Vorgehen der regierenden Partei für Einheit und Fortschritt – gemeinhin als Jungtürken bekannt – mit politischen, sozialen oder ideologischen Motiven zu erklären versuchte. Erickson hingegen argumentiert, dass die Deportationen der Armenier in Ostanatolien 1915 das Resultat eines militärischen Entscheidungsprozesses waren. Mit „Ottomans and Armenians” legt er die Synthese seiner bisherigen Publikationen vor.
Ericksons Erkenntnisinteresse umfasst im Wesentlichen drei Fragen: Warum reagierte die jungtürkische Regierung auf eine landesweit antizipierte armenische Revolte mit Deportationen? Warum wurde dieses Vorgehen in Ostanatolien rigoros umgesetzt? Warum wurde die Mehrheit der Armenier in den westlichen Provinzen – einschließlich Konstantinopel – von dieser Maßnahme ausgenommen? Diese Fragen seien bisher nicht zufriedenstellend beantwortet worden.
Zunächst schlägt Erickson einen Bogen ab dem Berliner Kongress (1878) bis zum Ersten Weltkrieg. Er beschreibt die Transformation der Aufstandsbewegungen im Osmanischen Reich. So konzentrierten sich Unruhen traditionell meist auf bestimmte Stämme oder auf einzelne Anführer und ihre Anhänger. Diese klar identifizierbaren Gruppierungen erhoben sich in der Regel aufgrund der hohen Steuerbelastung oder gegen die Aushebung zum Wehr- oder Kriegsdienst. Sie wurden von den osmanischen Truppen gezielt bekämpft. Die im 19. Jahrhundert gegründeten revolutionären Organisationen der Mazedonier (das heißt Bulgaren) und Armenier unterschieden sich jedoch grundlegend. Sie arbeiteten konspirativ und verfolgten eine politisch-nationale Agenda, insofern als sie die territoriale Autonomie oder einen unabhängigen eigenen Staat anstrebten – und hierbei vor politischen Attentaten und terroristischen Akten nicht zurückschreckten. Durch die zunehmende Vermischung von Revolutionären und Zivilbevölkerung kam es im Zuge der Niederschlagung von Revolten zu undifferenzierter und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung.
Ferner erläutert Erickson, dass die Osmanen ihre Strategie regional differenzierten: Auf dem Balkan – wo ein Großteil des Heeres stationiert war – formierten sie provisorische Detachements. In Ostanatolien, das heißt im überwiegend kurdisch-armenischen Siedlungsgebiet, führten sie in Anlehnung an die Kosaken-Verbände Russlands die kurdischen Hamidiye-Regimenter ein. An der Peripherie des Reiches, das heißt im Jemen und in Albanien, unternahmen die Osmanen langwierige und erfolglose Feldzüge. In Libyen schließlich führten sie selbst einen Guerilla-Krieg gegen die italienischen Invasoren. Erickson hält fest, dass sich der militärische Handlungsschwerpunkt im Osmanischen Reich zunehmend auf die Aufstandsbekämpfung verlagerte. Die gesammelten Erfahrungen prägten nachhaltig eine ganze Generation von Soldaten – unter anderem die Jungtürken, von denen viele als Militärs zunächst Revolten bekämpften und 1908/09 schließlich selbst rebellierten und den Sultan stürzten.
In seiner Studie vergleicht und analysiert Erickson auch die zeitgenössischen Strategien und Taktiken der westlichen Mächte in ihren Kolonien. Hierbei untersucht er das Vorgehen der Spanier auf Kuba, der Amerikaner auf den Philippinen und der Briten in Südafrika. So deportierten die Spanier (ab 1896) die Zivilbevölkerung Kubas in „concentration camps“ (S. 2), das heißt in Sammel- bzw. Auffanglager. Sie bezweckten dadurch unter anderem der Guerilla den Nachschub abzuschneiden und die Rekrutierung weiterer Kämpfer zu verhindern. Das brutale Vorgehen auf Kuba war einer der Gründe, warum die USA Spanien den Krieg erklärten. Allerdings wendeten die Amerikaner auf den Philippinen (ab 1901) vergleichbare Taktiken an – ebenso die Briten gegen die Buren in Südafrika (ab 1900). Erickson konstatiert, dass die westlichen Mächte an der Wende des 19. Jahrhunderts eine effektive – wenn auch rücksichtslose – Blaupause für die erfolgreiche Bekämpfung von Aufständischen schufen.
Nachdem Erickson die historischen Rahmenbedingungen aufgearbeitet hat, untersucht er die Zusammenarbeit zwischen der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF) – der bedeutendsten armenischen Partei – und den Jungtürken. Hierbei zeigt Erickson auf, wie beide Parteien bis zum offenen Bruch im Jahr 1912 zunächst zusammenarbeiteten und anschließend miteinander konkurrierten. So festigten die Jungtürken ihre Position bis zur Diktatur – während die ARF mit Hilfe der Westmächte und Russlands versuchte, Einfluss auf die Neugestaltung des Osmanischen Reiches zu nehmen. Zudem reaktivierte und verstärkte sie ihre seit der Jungtürkischen Revolution (1908) passivierten Milizen. Erickson verdeutlicht, in welcher geopolitischen Zwangslage sich die ARF befand, da sich das armenische Siedlungsgebiet auf das Osmanische Reich und Russland verteilte. Die Russen und insbesondere die Jungtürken umwarben die ARF um aktiven militärischen Beistand oder zumindest Neutralität – innerhalb der ARF setzte sich schließlich der pro-russische Flügel durch.
In seiner Analyse hält Erickson fest, dass kein Historiker bisher in der Lage war eine koordinierte armenische Rebellion nachzuweisen. Dies sei jedoch irrelevant. Denn die damalige Informationslage und die Art und Weise wie sich die Ereignisse abspielten, verfestigte bei der politischen und militärischen Führung die Überzeugung, dass eine landesweite Revolte tatsächlich bevorstand. Zudem verliefen die existentiell wichtigen militärischen Kommunikations- und Versorgungsrouten, die die kämpfenden Armeen im Kaukasus, in Palästina und in Mesopotamien versorgten, durch das potentielle Aufstandsgebiet. So griffen die Osmanen auf die Maßnahme der Deportationen zurück und verschickten die Armenier Ost- und Zentralanatoliens in Regionen, wo sie keine Gefahr für die Armeen darstellen würden. Die Anwendung von Deportationen war nach Erickson eine Entscheidung, die von Schwäche anstatt von Stärke getragen wurde. Denn zum einen fehlten die notwendigen Ressourcen für ein groß angelegtes Vorgehen gegen die Rebellengruppen. Zum anderen erwies sich die bisher angewandte Taktik als ineffektiv – wie der Fall der Stadt Van an die Aufständischen im Mai 1915 demonstrierte. So wurde befürchtet, dass sich derartige Ereignisse anderenorts wiederholen würden. Mit diesen Ausführungen beantwortet Erickson die drei Ausgangsfragen seiner Studie. Er interpretiert die Ereignisse als eine an das Vorgehen der Westmächte orientierte Strategie zur Bekämpfung von Aufständen, die zunächst lokal beschränkt und unkoordiniert umgesetzt wurde – und sich zunehmend und systematisch ausweitete.
In seinen Ausführungen legt Erickson unter anderem dar, dass es sich bei der teşkilât-ı mahsusa (Spezialorganisation) um eine militärische – nicht politische – Organisation handelte. Ihre Aufgabe sei es gewesen, in den Grenzregionen unter anderem Revolten zugunsten des Osmanischen Reiches zu entfachen und Spionage zu betreiben. Nach Erickson ist die These unhaltbar, wonach die Spezialorganisation eine geheime Parallelstruktur und das vordergründige Ziel gehabt hätte, die Armenier zu vernichten. Ebenso widerspricht Erickson der Ansicht, dass der gescheiterte Kaukaus-Feldzug zur Jahreswende 1914/15 ein Schlüsselereignis für das spätere Vorgehen gegen die Armenier gewesen sein soll. Zum einen nahmen die armenischen Freiwilligen nicht an der entscheidenden russischen Gegenoffensive teil. Zum anderen erlitten die Osmanen zwar eine empfindliche militärische Niederlage, die III. Armee hatte jedoch circa 33.000 gefallene Soldaten zu beklagen, und nicht – wie bisher angenommen – das bis zu dreifache. Ferner stabilisierte sich danach vorläufig die russisch-osmanische Front entlang der Grenze.
Ericksons Untersuchung endet mit dem Frühjahr 1916, das heißt mit dem Ende der Deportationen. Denn die Vorkommnisse, die sich bis dahin ereigneten und im Deportationsbeschluss gipfelten sind ausschlaggebend für seine Schlussfolgerungen. Durch die militärhistorische Themenbehandlung verengt Erickson den Blick auf die Ereignisse somit nicht, sondern – ganz im Gegenteil – erweitert die Perspektive maßgeblich.