Moses I. Finley (1912–1986) ist in der aktuellen Forschung zur antiken Wirtschaftsgeschichte sowie zur antiken Sklaverei immer noch einer der wirkmächtigsten Althistoriker. Insbesondere die Bücher-Meyer-Kontroverse hat Finley auf Seiten der „Primitivisten“ hauptsächlich durch sein 1973 erschienenes und danach immer wieder aufgelegtes und in verschiedene Sprachen übersetztes Buch „The Ancient Economy“ geprägt. Ferner ist Finleys ebenso polemische wie energische Kritik an dem Sklavereiprojekt der Mainzer Akademie zu nennen – eine Kritik, die sich besonders auf Joseph Vogt bezog. Wichtig sind aber auch Finleys zahlreiche Arbeiten zur griechischen Geschichte, wobei die Studien zur Demokratie besondere Beachtung fanden. Anlässlich des 100. Geburtstages, den der 1986 verstorbene Finley 2012 gefeiert hätte, fand an der Columbia University eine Konferenz statt, aus welcher der hier zu besprechende Band resultiert. In diesem sind nach einer kurzen Einführung durch den Herausgeber (S. 1–4) acht Aufsätze gesammelt, die sich besonders der politischen Entwicklung Finleys widmen, der als Opfer des McCarthyism Ende 1952 die Rutgers University in New Jersey verlassen musste. Die Publikation möchte, so Harris in der Einleitung, einen Beitrag zu Finleys „early political and semi-political activities, particularizing and contextualizing, as well as to the understanding of his writings about Greek and Roman politics“ (S. 2) leisten.
Über Finleys Zeit in Amerika war in Europa lange kaum etwas bekannt. Daniel P. Tompkins (Moses Finkelstein and the American Scale: The Political Formation of Moses Finley, 1932–1955, S. 5–30) befasst sich mit diesen „first four decades“ (S. 5) und zeichnet die akademische sowie politische Entwicklung Finleys nach; so werden etwa seine Verbindungen mit der sogenannten Frankfurt School (S. 18f.) oder – weniger bekannt – mit dem American Russian Institute (S. 27) beleuchtet. Seth R. Schwartz (Finkelstein the Orientalist, S. 31-48) geht der Frage nach, warum sich Finley kaum der Geschichte des antiken Judentums gewidmet hat. Schwartz arbeitet zunächst die Geschichte der Familie Katzenellenbogen in Osteuropa auf, aus welcher Finleys Mutter Hannah (Anna) entstammte (S. 36–40). Finleys Großvater, Rabbi David-Tevel Katzenellenbogen, wirkte bis 1930 unter anderem in St. Petersburg, seine Mutter ging etwa um 1908 nach Amerika. Ein Bruder Hannahs wurde 1938 inhaftiert und starb vier Jahre später im Arbeitslager von Solikamska; ein Halbbruder wurde ebenfalls 1938 festgenommen und erschossen. Ein weiterer Halbbruder emigrierte nach Berlin; wann dies geschah, bleibt jedoch offen (S. 39). Wieviel Finley von dem Schicksal seiner Familie wusste, kann nicht eruiert werden. Schwartz vermutet aber, dass zwei Angaben bei Momigliano1 und Vidal-Naquet2, nach welchen Finley von Rabbi Meir von Padua bzw. von Rabbi Liva ben Bezalel von Prag abstamme (S. 37), auf persönliche Mitteilungen Finleys zurückgehen könnten, was – so Schwartz – darauf hinweise, dass er sich mit seiner Familiengeschichte beschäftigt habe (S. 40). Sicher ist, dass Finley eine jüdische Erziehung und Ausbildung durchlief und dadurch auch Kenntnisse der hebräischen und aramäischen Sprache gehabt haben dürfte (S. 40–44). Ein Mangel an entsprechenden Sprachkenntnissen scheidet für Schwartz ebenso wie ein biographischer Grund als Erklärung für die Nicht-Beschäftigung mit dem antiken Judentum aus. Vielmehr sieht er die lückenhafte Überlieferung aus dem Orient (S. 46) sowie – im Falle des Buches „The Ancient Economy“ – die strukturelle Anlage des Werkes als Grund für ein Auslassen des Nahen Ostens: „By eleminating ‚the orient‘ Finley could conflate Greece (meaning Athens) and Rome into a single neat, clear and powerful account“ (S. 47). Dass Finley fragmentarische und dokumentarische Quellen kaum schätzte, muss man – deutlicher als Schwartz dies tut – mit Verweis auf seine geringschätzigen Ausführungen über die papyrologische Überlieferung betonen.3
Richard P. Saller (The young Moses Finley and the Discipline of Economics, S. 49–60) geht der Frage nach, inwieweit Finleys frühe Beschäftigung mit der modernen Wirtschaftswissenschaft Einfluss auf seine Entwicklung als Historiker und insbesondere auf „The Ancient Economy“ genommen hat. Finley wies bekanntlich die Anwendbarkeit moderner Wirtschaftstheorie auf antike Verhältnisse entschieden zurück, was ihn jedoch nicht daran hinderte, moderne Termini aus der Ökonomie in abstrakter Semantik in seiner Darstellung zu gebrauchen. Saller zeigt, dass sich bereits in dem 1993 erstmals von Brent Shaw4 publizierten „dissertation fellowship proposal“ von 1947, welches im Nachlass von Heichelheim in Toronto entdeckt wurde, entsprechende Begriffe in den „Headlines“ fassen lassen, die später in „The Ancient Economy“ von Finley bearbeitet und entwickelt worden sind, so etwa „The Market (in its economic, not physical sense)“ oder „Bookkeeping practice and theory“ (S. 51). Bekanntlich handelt es sich um inhaltliche Aspekte, die Finley später für die Antike in Abrede stellte. Saller bemerkt zutreffend: „The point is that already in 1947 Finley was committed to a negative approach to defining Greek practices and values in economic activity“ (S. 52). Schon damals hatte Finley eine Perspektive eingenommen, die er später ausführlich ausarbeiten sollte: Er zeigte hauptsächlich, was antike Wirtschaft nicht gewesen sei, indem er die Differenzen zur Moderne klar markierte. Woher diese frühen Einflüsse stammen, die letztlich neoklassischen Wirtschaftsansätzen entsprechen, kann Saller plausibel aufzeigen. So sind Edward Seligman, Werner Sombart und Joseph Schumpeter noch vor Karl Polanyi als prägend für den jungen Finley anzusehen. Diese vermittelten ihm etwa „a sharp contrast between pre-capitalist and capitalist institutions long before Finley participated in the Polanyi seminar at Columbia“ (S. 60). Ferner dürfte Finley bereits durch Seligman mit der oikos-Konzeption Karl Büchers vertraut gemacht worden sein.
Ellen Schrecker (Moses Finley and the Academic Red Scare, S. 61–78) bearbeitet und kontextualisiert in ihrem spannenden Aufsatz minutiös die Ereignisse des Jahres 1952, die zu Finleys Entlassung an der Rutgers University führten. Am 28. März des Jahres musste Finley zu einer Anhörung vor dem „Senate Internal Security Subcommittee“ (SISS) erscheinen. In der lediglich zwölf Minuten dauernden Anhörung verweigerte Finley unter Berufung auf den fünften Zusatzparagraphen der Verfassung, der vor Selbstbelastung schützt, eine Antwort auf die Frage, ob er jemals Mitglied in der Kommunistischen Partei gewesen sei. Die Verweigerung hatte zunächst keine Folgen; selbst als Finley im August von Karl Wittfogel und William Canning denunziert wurde, passierte nichts (S. 63). Im Herbst wurde jedoch auch Simon Heimlich, Professor an der Rutgers University, vorgeladen. Er verweigerte jegliche Antwort, was in der Folge einen enormen öffentlichen Druck auf die Universität und ihren Präsidenten Lewis Webster Jones erzeugte. Dieser initiierte ein „special advisory committee of trustees, alumni, and faculty members under Tracy Voorhees“, um das Verfahren zu untersuchen und die Universität „against any possible subversive influences“ sowie „the rights of Professor Heimlich“ (S. 69) zu schützen. Die Kommission tagte im September und Oktober insgesamt viermal, erzielte aber keinesfalls ein Ergebnis im Sinne von Jones’ Äußerung, sondern artikulierte Zweifel daran, ob Finley und Heimlich nach Verweigerung einer Antwort unter Berufung auf den „Fifth Amendment“ weiterhin als Lehrkräfte der Universität tragbar seien. Ein „Special Faculty Committee of Review“ (S. 70) wurde ausgewählt, um die Angelegenheit weiter zu untersuchen, während sich der öffentlich Druck bis in den Dezember zusehends steigerte. Schließlich sollten Finley und Heimlich bis Ende des Jahres erneut vor dem SISS erscheinen und sämtliche Fragen beantworten, andernfalls müssten sie die Universität verlassen – was schließlich auch geschah. Schrecker referiert nicht nur den Hergang des ganzen Verfahrens, sondern kontextualisiert auch den „Fall Finley“ durch umsichtige Erläuterungen zum Verhalten des Universitätspräsidenten Jones und Ausführungen zu ähnlichen Fällen – so den bekannten „Hollywood Ten“, die 1948 inhaftiert wurden (S. 68).
Alice Kessler-Harris (Dilemmas of Resistance, S. 79–92) widmet sich ebenfalls dem McCarthyism, dessen berühmtestes akademisches Opfer Finley war, und fragt nach Verhaltensstrategien von vermeintlichen oder tatsächlichen linken Intellektuellen in der McCarthy-Ära. Finleys Schicksal wird mit dem anderer Intellektueller (so Vera Shlakman, Owen Lattimore oder Lillian Hellman) verglichen. Für den althistorischen Leser ist der Aufsatz sehr hilfreich, da er einen tiefen Einblick in den zeitgeschichtlichen Hintergrund ermöglicht, vor welchem die Ereignisse von 1952 zu sehen sind.
Mit zwei zentralen Werken Finleys befassen sich Paul Cartledge (Finley’s Democracy/Democracy’s Finley, S. 93–105) und William V. Harris (Politics in the Ancient World and Politics, S. 107–122). Cartledge untersucht Finleys 1973 erschienenes Buch „Democracy Ancient and Modern“, das aus einem Vortrag resultierte, den Finley 1972 an der Rutgers University hielt. Es war sein erster Besuch an der Universität nach dem Verlust der Stelle 1952. Cartledge kann darlegen, dass Finley die Ereignisse, die zu seiner Entlassung führten, in seinem Vortrag bzw. Buch spiegelt. Die Widmung „To My Friends and Students at Rutgers University 1948–52“ kann als äußeres Indiz hierfür angesehen werden. Harris befasst sich mit der 1983 publizierten Monographie „Politics in the Ancient World“. Er kann unter anderem feststellen, dass die Darstellung der athenischen Demokratie idealisiert und mit Finleys eigener Biographie sowie der Situation in Amerika verbunden war: „It was at once an expression of hope in democratic forms of government (in Aristotle’s sense)“ (S. 122). Sie sei eine Reaktion auf die 1952 erfolgte Enttäuschung seiner Hoffnung, die er in die moderne Demokratie gesetzt habe. Schließlich habe „the extremely ugly face of the Hooverist state in 1952“ dazu geführte, dass sich Finley eine „secure academic fortress“ (S. 122) gesucht habe. Die Beiträge von Cartledge und Harris zeigen so, wie die biographische Zäsur des Jahres 1952 in Finleys wissenschaftlichem Werk Niederschlag gefunden hat.
Thai Jones (Un-Athenian Affairs: I. F. Stone, M. I. Finley and the Trial of Socrates, S. 123–141) beschäftigt sich mit der Darstellung und Bewertung des Sokrates-Prozess durch Finley, der 1960 einen vielbeachteten Aufsatz mit dem Titel „Was Socrates guilty as charged?“ für das „Horizon Magazine“ verfasste, und den jüdischen Journalisten Isidor Feinstein Stone, der insbesondere durch seine im Eigenverlag ab 1953 erschienene Zeitung „I. F. Stone’s Weekly“ bekannt geworden ist. Ebenso wie Finley gehörter er dem linken politischen Lager an, was ihm in der McCarthy-Ära 1950 einen Platz auf der „Blacklist“ verschaffte. In den 1970er-Jahren wandte sich Stone der Alten Geschichte zu, machte einen Abschluss in antiken Sprachen an der Universität von Pennsylvania und publizierte 1988 ein Buch über den Prozess gegen Sokrates, welches bis heute mehrfach nachgedruckt wurde und auch in einer deutschen und niederländischen Übersetzung erschienen ist.5 1983 trafen sich Stone und Finley in England, um über Stones Buchprojekt zu sprechen. Für Finley war der Prozess gegen den Philosophen letztlich aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Umstände in der Zeit nach 404 v.Chr. ein Zufall, eine Kombination aus der inneren Spannung in Athen und Sokrates’ persönlichem Auftreten. Nach Jones hatte Finley aber gezeigt, „that the atmosphere was rife in 399 B.C. for a witch-hunt“ (S. 132). Bezüge zu Finleys Biographie sowie den Ereignissen der McCarthy-Ära deuten sich lediglich an. Stone ging einen Schritt weiter: Er bot, wie Jones ausführt, in seiner Darstellung und Analyse des Prozesses mehr zeitgeschichtliche Anspielungen. Den Prozess interpretiert er vor dem Hintergrund von „three political earthquakes“ (S. 139), dem oligarchischen Umsturz 411, der Herrschaft der 30 404/03 und der Unterdrückung antidemokratischer Gegner 401 v.Chr., und deutet Sokrates als ersten Märtyrer für Rede- und Meinungsfreiheit (S. 140). Jones’ Vergleich zwischen Finley und Stone, deren Lebenswege große Ähnlichkeiten aufweisen, bereichert nicht nur das Verständnis der angesprochenen Publikationen zum Sokrates-Prozess, sondern verdeutlicht auch die Zeitgebundenheit der beiden Autoren.
Ein abschließendes Fazit zu diesem Band über „Moses Finley and Politics“ kann nur äußerst positiv ausfallen: Die hier versammelten Aufsätze, deren inhaltliche Vielfalt an dieser Stelle nur angedeutet werden konnte, werfen neues Licht auf die Biographie Finleys und erlauben in vielfacher Hinsicht ein besseres Verständnis seines Werkes.6
Anmerkungen:
1 Arnaldo Momigliano, Essays on Ancient and Modern Judaism, Chicago 1994, S. 203ff. Verweisen darf man auch auf Arnaldo Momigliano, Vorwort zu M. I. Finley, Problemi e metodi di storia antica, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 3: Die moderne Geschichtsschreibung der Alten Welt, hrsg. v. Glenn W. Most, Stuttgart 2000, S. 362 sowie die bei Karl Christ, Neue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990, S. 295, Anm. 1 angegebene Literatur.
2 Pierre Vidal-Naquet, Mémoires, Bd. 2: Le trouble et la lumière, 1955–1998, Paris 1998, S. 172.
3 Vgl. Moses I. Finley, The Ancient Economy. Updated Edition with a Foreword by Ian Morris, Berkeley 1999, S. 191 oder Moses I. Finley, Ancient History. Evidence and Models, London 1985, S. 33f. u. 36. Zu Finleys Distanz gegenüber den Papyri vgl. auch Roger S. Bagnall, Evidence and Models for the Economy of Roman Egypt, in: Joseph G. Manning / Ian Morris (Hrsg.), The Ancient Economy. Evidence and Models, Stanford 2005, S. 187–204 sowie Joseph G. Manning, The Relationship of Evidence to Models in Ptolemaic Economy (332 BC – 30 BC), in: Manning / Morris, Economy, S. 163–186, hier S. 164f.
4 Brent Shaw, The early development of M. I. Finley’s thought: The Heichelheim dossier (including an original MSS of M. I. Finley), in: Athenaeum 81 (1993), S. 177–199.
5 Isidor F. Stone, The trial of Socrates, London 1988; Het proces Socrates, Baarn 1988; Der Prozess gegen Sokrates, Wien 1990.
6 Zwei Literaturhinweise darf man ergänzen: Helmuth Schneider, Finley, Moses I., in: Der Neue Pauly Suppl. 6, 2012, Sp. 401–405 sowie Martina Tschirner, Moses I. Finley. Studien zu Leben, Werk und Rezeption, Diss. Marburg 1994, die aber insbesondere durch den hier besprochenen Aufsatz von Richard P. Saller überholt wird.