Detlev Mares u.a. (Hrsg.): Das Jahr 1913

Cover
Title
Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs


Editor(s)
Mares, Detlev; Schott, Dieter
Extent
288 S.
Price
€ 27,99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Nina Reusch, Universität Stuttgart, Historisches Institut

Das Jahr 1913 geriet spätestens zu seinem hundertjährigen Jubiläum 2013 in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen wie öffentlichen Interesses – als das letzte Vorkriegsjahr, als Ende einer Epoche, die "nicht allmählich unterging, sondern ein Jahr später in einen Weltenbrand mündete" (S. 7). Dabei wird das Jahr 1913 meist unter Eindruck des unmittelbar folgenden Kriegsausbruchs betrachtet, wird nach den zahlreich vorhandenen Vorzeichen der folgenden Katastrophe gesucht. Der Blick bleibt eine Rückschau, gelenkt durch das Wissen um die weiteren Entwicklungen.

Dieser Retrospektive stellen Detlev Mares und Dieter Schott, Herausgeber des Sammelbandes, einen Blick auf 1913 gegenüber, der das Jahr als "Zeit der Möglichkeiten" sieht, "deren Potentiale durch die Wirklichkeit in ungeahnte Richtungen geschleudert wurden" (S. 19). Dies bedeutet, den Blick nicht durch die Perspektive auf den Krieg zu verengen, sondern eine prinzipielle Offenheit der Entwicklungen anzunehmen. So nimmt der Sammelband das Jahr 1913 als eine Zeit in den Blick, in der verschiedenste Denkrichtungen und Kulturphänomene nebeneinander und miteinander existierten und interagierten, als eine Zeit, die ein weites Kontinuum von Optimismus und Aufbruchsstimmung bis hin zu pessimistischen Perspektiven auf die Moderne und die Zukunft in sich trug.

Dieser sehr diverse Blick auf die deutsche Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg, der Widersprüche und Reibungspunkte aufzeigt, wird durch die thematische Vielfalt der Beiträge gespiegelt und ermöglicht. Anspruch der Herausgeber ist dabei nicht, ein vollständiges und gesamtgesellschaftliches Panorama aufzuzeigen, sondern vielmehr "punktuelle Tiefenbohrungen" vorzunehmen, "die die Widersprüchlichkeiten der Zeit an einzelnen Phänomen und Prozessen aufzeigen und dabei die Narrative von Modernität und Krise am konkreten Beispiel auf ihre Tragfähigkeit hin überprüfen" (S. 12). Dabei ist die thematische Einteilung in die Abschnitte "Lebensräume – Zeithorizonte – Zeitdiagnosen", "Nation und Identität" sowie "Aufbrüche der Vorkriegszeit" nur mäßig strukturierend, könnten doch die meisten Beiträge gleich unter zwei oder alle drei Abschnitte gefasst werden. Die einzelnen Beiträge nehmen verschiedenste kulturelle und gesellschaftliche Phänomene in den Blick; was sie eint ist, dass sie Auseinandersetzungen mit der Veränderung der Welt untersuchen. Dabei ziehen sich zahlreiche Themen durch die Beiträge – ich greife an dieser Stelle vier davon auf: die Auseinandersetzung mit der Moderne, die Themen Nation und Nationalismus, die Frage nach Klassen- und Genderperspektiven, sowie die Referenz auf weitere Publikationen rund um das Jahr 1913.

Christoph Dipper widmet sich der "Entdeckung der Moderne" in Kunst und Wissenschaft. Wie divergierend die Auseinandersetzung mit jener Moderne in der Praxis war, wird in verschiedenen Beiträgen deutlich. So ordnet etwa Jürgen Reulecke die Jugendbewegung in den Kontext anderer zivilisationskritischer Reformbewegungen ein, während der Beitrag von Werner Durth aufzeigt, wie positiv und aufbruchsbejahend Modernität in Abgrenzung zum Historismus in der Architektur gelesen wurde. Dass das zivilisationskritische Krisenbewusstsein oftmals auf verzerrten Wahrnehmungen fußte, zeigt Dieter Schott sehr eindrücklich am Beispiel der Entwicklung europäischer Großstädte: Dem kritischen zeitgenössischen Blick auf die Großstadt stellt Schott die Zivilisierung der Städte durch Kanalisation, Wasserversorgung und Elektrizität entgegen, die dazu führten, dass die Stadt um 1913 geringere Sterblichkeitsraten und bessere hygienische Bedingungen aufweisen konnte als die ländliche Welt.

Mehrere Beiträge zeigen auf, dass die Debatten und Kulturphänomene in Deutschland um 1913 stark von Auseinandersetzungen mit der (deutschen) Nation geprägt waren. Fragen von Nationalismus und vom Verhältnis von Nation und Region wie auch von Nation und übernationalen Zusammenhängen durchziehen die meisten Beiträge des Sammelbands.

Friedemann Schmoll zeigt auf, dass der deutsche Heimatschutz zwar spezifisch nationale Eigenarten und völkische Elemente aufwies, aber sich zugleich in eine globale Naturschutzbewegung eingliederte, die in Reaktion auf Modernisierungsprozesse und das neue Bewusstsein der Endlichkeit natürlicher Ressourcen entstand. Dem Verhältnis von nationalen und übernationalen Zusammenhängen widmet sich auch Walter Mühlhausen aus ganz anderer Richtung. Der Frage folgend, ob die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 als Wendepunkt oder Markstein der SPD-Politik zu deuten sei, zeigt er, dass die deutsche Sozialdemokratie zwar eine führende Rolle in der Internationale einnahm, zugleich aber das internationale Bekenntnis eher ein symbolpolitisches war. Spätestens mit ihrem Generationswechsel um 1913 habe die Parteiführung auf eine reformorientierte Innenpolitik und auf eine starke Parteiorganisation gesetzt.

Dem Verhältnis nationaler und regionaler Identitäten widmet sich Birte Förster im Kontext des hundertjährigen Völkerschlachtjubiläums 1913. Am Beispiel Hessen-Darmstadt, das auf französischer und damit auf der "falschen" Seite an der Schlacht teilgenommen hatte, zeigt sie, wie regionale Identitäten konflikthaft mit nationalen standen und wie beide integriert werden konnten.

Die Frage nach räumlichen Perspektiven gibt Hinweise darauf, an welchen Stellen die thematische Zusammenstellung des Bandes den Blick verengt: Die Diversität der Beiträge kann zwar ein Panorama verschiedenster kultureller und gesellschaftlicher Phänomene aufmachen, konzentriert sich allerdings dabei auf jene Teile der Gesellschaft, die sich aktiv mit Modernität und gesellschaftlichem Wandel auseinandersetzten. Dies bedeutet, dass der Band größtenteils eine städtische Perspektive spiegelt, die allzu oft auch eine bürgerliche ist. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Krisen- und Modernitätsdiskursen, mit denen sich der Band auseinandersetzt, um bürgerlich-urbane Kulturphänomene handelt, ist die thematische Verengung des Sammelbands natürlich plausibel. Dennoch wäre etwa ein Beitrag, der sich jenseits bürgerlicher Ideen von Heimatschutz mit der ländlichen Welt befasst, als Gegengewicht zur urbanen Perspektive wünschenswert gewesen.
Es ist allerdings das Verdienst vieler Beiträge, den Blick zu öffnen, und Klassen- wie Gender-Perspektiven integral mitzudenken.

So arbeitet Noyan Dinçkal das Spannungsverhältnis von militaristischer Herrschaftsrepräsentation und dem subversiven Potential der Sportsverbände bei den Einweihungsfeierlichkeiten des Deutschen Stadions in Berlin sowohl in seinen Klassen- als auch Genderaspekten heraus. Elke Hartmann zeigt auf, wie stark der deutsche Griechenlandmythos an das humanistische Gymnasium geknüpft und damit bildungsbürgerlich geprägt war. Und Angelika Schasers Beitrag untersucht die Genese und Bedeutung der ersten deutschen Frauenbewegung und macht deutlich, dass die bahnbrechenden Erfolge der (bürgerlichen) Frauenbewegung in den Bereichen der Bildung, Berufstätigkeit und politischen Partizipation bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erzielt werden konnten.

Zwei Publikationen, die sich beide um das Jahr 1913 drehen, sind Referenzen mehrerer Beiträge: Es handelt sich zum einen um eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft im Jahr 1913, herausgegeben vom Mediziner und Publizisten David Sarason1, die zeitgenössische Perspektiven auf das Jahr 1913 aufzeigt und daher als vielseitig verwendete Quelle dient. Zum anderen setzen sich einige Beiträge des Sammelbands mit der populärhistorischen Annäherung an das Jahr 1913 durch Florian Illies auseinander.2 Illies’ Buch, das schnell zum Bestseller wurde, ist ein gutes Beispiel für die Popularität des Vorkriegsjahres und das Interesse an jener Zeit über die Kreise der Fachwissenschaft hinaus, aber auch für die teleologisch geprägte Auseinandersetzung mit dem Jahr 1913, die den Blick schon auf den folgenden Kriegsausbruch richtet. Dippers Verweis auf Illies’ Einseitigkeit (S. 96) dient dabei vor allem der Selbstvergewisserung einer komplexer denkenden Fachwissenschaft. Differenzierter ist Schasers Zugang, der danach fragt, inwiefern die Geschichtswissenschaft andere Fragen stellen kann und muss als die Populärgeschichte (S. 232).

Das Konzept des Sammelbands, einen Einblick in ein Jahr zu bieten, das einen Wendepunkt der europäischen Geschichte darstellt, dabei aber den Blick nicht auf diese zukünftige Entwicklung zu verengen, ist vielversprechend und wird in den Beiträgen sehr durchdacht umgesetzt. Der Krieg ist in den einzelnen Beiträgen zwar präsent, bestimmt aber nicht die Analysen. Die thematisch diverse Zusammenstellung des Bands sorgt trotz punktueller Verengungen für einen breiten und ergebnisoffenen Blick auf die Gesellschaft des Kaiserreichs um 1913. Dass die Beiträge die kulturhistorisch ausgerichtete Grundintention des Sammelbands mit sozialhistorischen Ansätzen kombinieren, tut dem Gesamtpanorama äußerst gut und zeigt, wie fruchtbar beides sich verbinden lässt. Alles in allem bietet der Sammelband spannende, vielseitige und reflektierte Einblicke in eine Umbruchszeit, die aktuelle Fragen und Ansätze der Forschung aufnehmen und in denen auch das Lesevergnügen nicht zu kurz kommt.

Anmerkungen:
1 David Sarason (Hrsg.), Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig 1913.
2 Florian Ilies, 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2012.