M. Gigase: Le tourisme comme facteur de transformations

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Titel
Le tourisme comme facteur de transformations économiques, techniques et sociales (XIXe-XXe siècles). Tourism as a factor of economic, technical and social transformations (XIXth-XXth centuries)


Herausgeber
Gigase, Marc; Humair, Cédric; Tissot, Laurent
Erschienen
Neuchâtel 2014: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Luzi / Silvia Hess, Historisches Seminar, Universität Luzern

„Rendre au tourisme ce qui appartient au tourisme“ – den Tourismus nicht als Begleiterscheinung der Moderne, sondern als einen Motor des wirtschaftlichen, technischen und soziokulturellen Wandels im 19. und 20. Jahrhundert zu begreifen, ist das Hauptanliegen dieses Sammelbandes. Im Rahmen eines Nationalfonds-Projektes über den Tourismus als Entwicklungsfaktor in der Genfersee-Region organisierten die Historiker Marc Gigase, Cédric Humair und Laurent Tissot im November 2011 ein internationales Kolloquium, um ihre Fragen und Erkenntnisse mit der Rolle des Tourismus in anderen Regionen zu vergleichen. Im Mittelpunkt der Veranstaltung und des daraus entstandenen Sammelbandes steht die Frage, wie der Tourismus die Entwicklung der zeitgenössischen Gesellschaften seit Ende des 18. Jahrhunderts beeinflusst hat.

Im Vorwort legen die drei Herausgeber Gigase, Humair und Tissot dar, dass der touristische Erfolg der Genfersee-Region mehr als eine kontextlose Erfolgsgeschichte ist. Die „industrie des étrangers“, wie sie die Zeitgenossen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nannten, veränderte sich grundlegend und löste ihrerseits Veränderungen aus.

In der ersten von drei Sektionen, jener zu den sozioökonomischen Auswirkungen des Tourismus, zeigt unter anderem John K. Walton im Beitrag „Tourism and industrialization, c. 1730–1914“ anhand von Badeorten in England und Nordspanien, dass das Aufkommen des Tourismus keine bloße Antwort auf die Industrialisierung darstellte, sondern vielmehr von Wechselwirkungen ausgegangen werden sollte. Im Gegensatz zur Industrialisierung, die in den Geschichtswissenschaften intensiv untersucht wurde, erfuhr der Tourismus lange Zeit wenig Beachtung. Das liegt nach Walton auch daran, dass der Tourismus nicht ins Bild moderner Industrien passt. Tourismus sei in weiten Teilen ein nichtfassbares Produkt aus Träumen, Erfahrungen und Gefühlen und somit unmöglich quantifizierbar. Dennoch stimulierte und verbreiterte der Tourismus eine Nachfrage nach neuen Produkten und Erfahrungen. Der Tourismus war und ist eine Industrie. Für touristische Destinationen sei zwar die Übernahme neuester Technologien (Elektrizität und sanitäre Anlagen) aus den Zentren notwendig gewesen. Es sei aber nie ein lediglich passives Reagieren auf Initiativen und Möglichkeiten von außen, sondern ein aktives Engagement gewesen.

In der zweiten Sektion mit dem Titel „Tourismus und die technische Modernisierung von Infrastrukturen“ findet sich der Beitrag von Alexandre Tessier, der die Installation von Aufzügen in Luxushotels in Paris untersucht. Anhand von zwei Hotels, dem Grand Hôtel und dem Grand Hôtel du Louvre, beide kurz nach Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut und charakterisiert durch große Kapazitäten und Komfort, verdeutlicht Tessier, wie die Direktionen der Hotels einerseits einem Innovationsdruck ausgesetzt waren, andererseits die technische Ausstattung als Distinktionsmerkmal verwendeten. Die Hotels boten technischen Innovationen eine Plattform, um einem größeren Bevölkerungsteil bekannt zu werden. Die „grande hôtellerie“ war aber mehr als nur Anwendungsraum, sie war auch ein Labor der Industrialisierung: Die Hotels hatten mancherlei technische und organisatorische Probleme zu lösen – so zum Beispiel die Kälte, die durch die Aufzugschächte in die Gebäude drang, das Entwenden von Speisen oder Sicherheitsmängel, die zu gravierenden Unfällen führten – und wurden so zu Innovationsmotoren. In der Werbung der Hotels hatten die technischen Innovationen zunächst keine Priorität, doch kategorisierten Fremdenführer bald ihre Unterkunftsinformationen danach. Die Akteure der Hotellerie waren sich der Notwendigkeit technischer Neuerungen zur Behauptung im Luxussegment sehr bewusst; nach den Aufzügen kam die Elektrizität, gefolgt von der Warmwasserversorgung. Einen interessanten Befund zieht Tessier aus der Analyse von Gästereaktionen: Gerade die Klagen über mangelhaftes Funktionieren zeigen, dass die Menschen sich sehr schnell an technische Neuerungen gewöhnten und sie sogleich einforderten.

Der dritte Teil des Sammelbandes beschäftigt sich mit dem Tourismus und seinen soziokulturellen Auswirkungen. Philippe Duhamel behandelt die Verflechtung zwischen Tourismus und städtischer Entwicklung als ursprüngliche, eigenständige und anhaltende Beziehung. Weil oft davon ausgegangen werde, dass die Stadt das Resultat des Handels und der Industrie sei, vergesse man, dass die Entwicklung des Tourismus und der Urbanisierung parallel verläuft. Aus einer funktionalen Perspektive beschreibt Duhamel, wie der Tourismus nicht nur zur Urbanisierung beiträgt, sondern Urbanität erst herstellt.

Drei typische Konstellationen von Stadt und Tourismus treten hervor: Zum einen fallen die „touristifizierten“ (historischen) Stadtzentren auf, die nach einer längeren ökonomischen Krise im 19. Jahrhundert wiederentdeckt werden, etwa in Brügge oder Venedig. Nizza oder Benidorm wiederum sind Orte, die von ihrer Anbindung an bekannte Reiserouten profitieren und durch den Tourismus eine Urbanisierung erfahren. Und drittens gibt es Kurorte – am Meer oder in den Bergen –, die sich mit Attributen des alltäglichen Lebens (Bahnhof, grössere Hotels) ausstatten und so zu einem städtischen Raum werden. Dabei kommt bei Duhamel die soziokulturelle Komponente nicht zu kurz. Er betont die Wichtigkeit der Weltausstellungen für Paris, wie dies heute Fußball-Weltmeisterschaften und Olympische Sommerspiele seien. Städtische Reorganisationen werden so direkt oder indirekt mit dem Tourismus verbunden. Bei den Kurorten verweist Duhamel in klassisch wirtschaftshistorischer Manier auf demographische Konsequenzen des Tourismus. Häufig sei eine Bevölkerungszunahme festzustellen, wodurch Orte kommunale Unabhängigkeit gewinnen könnten. Das demographische und städtische Wachstum der Ortschaften, das dem Tourismus zu verdanken sei, könne mit der Zeit aber auch eine Emanzipationen vom Tourismus zur Folge haben, sodass sich die Politik zunehmend an anderen Fragen orientiere.

Die Genfer Historikerin Valérie Lathion beschreibt in „Quand le touriste devient bienfaiteur. Alpinistes anglais et guides de montagne suisses au XIXe siècle“, wie im 19. Jahrhundert englische Bergsteiger aus philanthropischen Motiven die Angehörigen verunfallter Bergsteiger mit Geldzahlungen unterstützt haben. 1877 stürzten die drei Bergführer-Brüder Knubel aus St. Niklaus im Wallis auf einer Tour am Lyskamm in den Tod. Ihre Kunden sammelten daraufhin unter anwesenden Touristen, aber auch in England eine beträchtliche Summe Geld, die sie den Familien Knubel übergaben. Solche punktuellen finanziellen Engagements für die sozial ungleichen Begleiter im „Playground of Europe“ gaben in den 1880er-Jahren dem Schweizerischen Alpen Club den Impuls, eine Versicherung zugunsten von Bergführern einzurichten und zu bewerben. Unfälle beim Bergsteigen waren aus den ersten Lebensversicherungen ausgeschlossen. Tragische Unfalltode von Bergführern lösten Diskussionen aus, wie die Bergführer, die außerhalb der Saison als Bauern wenig verdienten, gegen Unfall und Tod versichert und zu einem Versicherungsabschluss motiviert werden könnten. Auch eine bessere Ausbildung und einheitliche Tarife waren Teil dieser Diskussion. Valérie Lathion betont, dass die Geldspenden englischer Alpintouristen Ende des 19. Jahrhunderts die lokale Bevölkerung, die Alpenclubs und auch das Versicherungswesen, das sich immer mehr spezifizierte, beeinflussten.

Die Zeitgeschichtshistorikerin Anne-Marie Granet-Abbisset aus Grenoble widmet ihren Beitrag „Tourisme et pluriactivité: Les nouveaux saisonniers des stations alpines depuis les années 1960“ der saisonalen Arbeit von den 1960er-Jahren bis zur Gegenwart. Granet-Abbisset arbeitet mit Quellen aus den Handelskammern und Gemeindearchiven in den französischen Westalpen, die das Phänomen der Mehrfachbeschäftigung der ansässigen Bevölkerung und der Saisonarbeit von Arbeitsmigranten – auch inländischer Herkunft – ab den 1960er-Jahren sichtbar machen. Beide Arbeitsformen sind viel älter, blieben aber in den Archiven, der Presse, den Bildern dieser Orte und den Selbstdeklarationen der Personen nahezu unsichtbar. Granet-Abbisset geht davon aus, dass die beiden Phänomene bis heute stark unterschätzt und von Statistiken ungenügend erfasst werden. Die Saisonarbeit sei aber ein grundlegendes Element dieser Ökonomien und verändere die Berggebiete auch demografisch. Gerade in Alpenorten, die sowohl eine Winter- wie auch eine Sommersaison aufweisen, nehmen die Saisonniers vermehrt festen Wohnsitz. Die Saisonniers und Mehrfachbeschäftigten, die heute im Tourismus in den Alpengebieten arbeiten, stellt Granet-Abbisset als heterogene Gruppe dar, die mit unterschiedlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und dabei vielleicht auch Entwicklungen des Arbeitsmarkts „im Flachland“ vorwegnehmen.

Insgesamt bietet der Band eine solide Beschäftigung mit dem Tourismus aus wirtschaftshistorischem Blickwinkel und unter Einbeziehung soziokultureller und technikgeschichtlicher Aspekte. Weitere Essays beschäftigen sich mit dem Automobiltourismus, der Skifirma Rossignol, Gesundheitstourismus oder mit Eisenbahnbauten. Die Fallstudien stammen nicht nur aus dem französischsprachigen Raum, sondern beschäftigen sich auch mit Italien, den USA und Österreich. Das Anliegen, über den Tourismus als bedeutenden Faktor im komplexen Zusammenspiel des wirtschaftlichen, technischen und sozialen Wandels nachzudenken, wird mit unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen umgesetzt.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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