C. Nübel: Durchhalten und Überleben an der Westfront

Titel
Durchhalten und Überleben an der Westfront. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Nübel, Christoph
Reihe
Zeitalter der Weltkriege
Erschienen
Paderborn 2014: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
481 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Susanne Brandt, Institut für Geschichtswissenschaften II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die Westfront als Raum zu begreifen, so lautet Christoph Nübels Ansatz, führt zu neuen Einsichten über die Erfahrungen der Soldaten. Im Zentrum seines Erkenntnisinteresses stehen die Kriegserfahrung und die Veränderung der Wahrnehmung der Soldaten durch den Kriegseinsatz und die damit verbundenen räumlichen Veränderungen (S. 6). Wie passten sich die Soldaten an – und wie hat die Institution Militär den Anpassungsprozess zu lenken versucht? Konkret hat der Verfasser fünf Kriegsschauplätze ausgewählt: Flandern, die Somme, die Champagne, Verdun und die Vogesen sind Gebiete, an denen im Verlauf der Kriegsjahre große Materialschlachten, aber auch zunächst der Wettlauf zum Meer stattfanden. Diese Regionen sind laut Nübel die Angelpunkte der Kriegführung gewesen (S. 23).

Seine Quellen sind umfangreich und vielfältig: sowohl Militärakten, aber auch Berichte der Soldaten, Fotoalben, Tagebücher, Briefe, 53 Nachlässe, außerdem Fotografien, Zeichnungen, Karten sowie veröffentlichte Erlebnisberichte finden Eingang in seine Untersuchung. Nübels Erkenntnisinteresse berührt verschiedene Forschungsfelder (z.B. Biopolitik, Bild- und Raumgeschichte) sowie Nachbarwissenschaften (z.B. Philosophie, Volkskunde). Mit der Literatur kennt sich der Verfasser ausgesprochen gut aus, er hat die Arbeiten, die in seine Studie einfließen, intensiv durchgearbeitet, das zeigt sich an der kundigen Diskussion um Ansätze und Ergebnisse (das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst rd. 70 Seiten). Letztlich – und das gesteht der Verfasser ein – sind die Nachlässe sehr disparat (S. 18), nicht nur in Bezug auf den Umfang, so meine Meinung. Viele Dokumente spiegeln Einzelstimmen und individuelle Erfahrungen wider, die Nübel auch in umfangreichen Zitaten zu Wort kommen lässt. Dagegen spricht nichts, wenn aus den Quellen viele Stimmen sprechen, muss der Forscher sie nicht in ein Korsett drücken, das übereinstimmende Erfahrungen herauspresst. Dennoch ist die analysierende Kraft des Verfassers gefordert. Selbst wenn er der Vielfalt der Stimmen Rechnung trägt – welche Erkenntnisse bietet der Autor seinen Lesern?

Nübel hat seine Arbeit klar gegliedert, drei große Kapitel und prägnante Zusammenfassungen am Ende der Kapitel sind sehr leserfreundlich. Die Hauptkapitel widmen sich der Umwelt, dem Gelände und der Landschaft. Im ersten größeren Kapitel zeichnet er die Lebensbedingungen im Frontgebiet nach. Hier erfährt der Leser einiges über die Mühsal des Entwässerns der Stellungen, aber auch über die Verletzungen, die durch die Nässe im Schützengraben entstanden sind. Einmal mehr wird man überzeugt, dass nicht nur die gegnerische Artillerie, Scharfschützen und Giftgas eine Bedrohung für die Soldaten darstellten. Die Darstellung der zahlreichen Erkrankungen wie Ruhr, Ausschläge und Erfrierungen führt die alltägliche Mühsal, unter denen die Kämpfer litten, deutlich vor Augen. Und Nübels These, dass die Soldaten die Umweltbedingungen als schlimmere Belastung empfanden als die Kampfhandlungen selbst, überrascht wenig (S. 97). Am Ende des Kapitels wendet sich Nübel der Frage zu, inwieweit das Schlachtfeld die Soldaten erzog. Die Mehrzahl der von ihm ausgewerteten Schriften, auch schon aus den Jahren vor 1914 und bis auf die Ebene der offiziellen Kriegszeitungen, propagierten, dass das Aushalten der harten Bedingungen im Schützengraben den Kämpfern helfe, die Verweichlichung der Friedensjahre zu überwinden. Ob „seine“ Soldaten das ebenso empfanden, erfahren wir nicht. Vage fasst der Autor zusammen, dass ein solches Programm das Sprechen über die Kriegserlebnisse strukturieren konnte und den Diskurs in der Nachkriegszeit prägte (S. 97).

Das zweite große Kapitel widmet sich dem Gelände, der Taktik und Ausbildung im Stellungskrieg. Besonders instruktiv ist sein Fallbeispiel (obwohl auch die Kapitel sehr informationsgesättigt sind). Am Beispiel des 15. Bayerischen Infanterieregiments bei Neuville-Saint-Vaast im Jahr 1916 zeichnet Nübel nach, dass die meisten Soldaten nur eine geringes Wissen über das Gelände ihres Abschnittes und wohl auch nur Geringes Interesse daran hatten (S. 178f.). Dem gegenüber stand das Bemühen der militärischen Führung, die Soldaten über die räumlichen Dimensionen zu informieren. Dahinter stand die Überzeugung, dass strategisches Wissen die Kampfmoral erhöhe (S. 180). Damit eng verbunden ist die Frage, wie sich die Soldaten in ihren Stellungen orientierten. Nübel verweist auf die – vor allem von Fotos hinlänglich bekannten – Namen hin, die Soldaten nicht nur den Schützengräben, sondern auch markanten Punkten in der Landschaft gaben. Die Soldaten vergaben unter anderem Namen aus der Heimat ihres Regiments (Altonaer Gang), nach ihrem Abzug wurden viele Namen von den Nachrückenden geändert, was eine verwirrende Vielfalt an Bezeichnungen nach sich zog. Der Plan der Führung, einheitliche Bezeichnungen (1. Stellung, 2. Stellung, Stützpunkt, Verkehrsgraben) einzuführen, scheiterte (S. 184). Für eine sichere Bezeichnung bei Meldungen und Befehlen ebenso wie für die Orientierung war ein solches Durcheinander alles andere als zuträglich. Nübel betont, dass sich schon im Verlauf des Krieges die Erkenntnis durchgesetzt habe, dass das Verständnis für das Terrain nur bedingt erlernbar sei, sondern auch von der Veranlagung abhing (S. 204). Sein Fazit am Ende des Kapitels ist, dass im Verlauf des Krieges zu viele Männer an die Front kamen, die aufgrund ihrer Anlagen den Anforderungen und Strapazen des Kampfes nicht gewachsen waren. Weil außerdem viele unzureichend ausgebildete und gebrechliche Männer eingezogen wurden, waren die Verluste in ihrer Gruppe verhältnismäßig hoch (S. 206).

Das dritte große Kapitel behandelt die Westfront als Kriegs-Schauplatz. Nübel kommt zu dem Ergebnis, dass die Soldaten die Landschaft geprägt von ihrer Profession wahrnahmen (S. 212). Allerdings – so Nübel zu seinen Quellen – haben nur wenige Soldaten darüber geschrieben, wie sie die Landschaft wahrgenommen haben (S. 215). Die wichtigste Funktion, die Nübel aus den Quellen herausfiltert, war, dass die Landschaft die Betrachter von den Strapazen des Kampfes entlasten sollte. Die Verbindung zum zivilen Leben sollte nicht abreißen. Insgesamt bietet das Kapitel dem Leser eine Vielzahl unterschiedlicher Wahrnehmungen der Landschaft durch die Soldaten. Dass die Landschaft, wie der Kämpfer sie im Krieg wahrnimmt, sich radikal unterscheidet von demselben Gebiet in Friedenszeiten, hat Kurt Lewin bereits 1917 in der Zeitschrift für angewandte Psychologie auf wenigen Seiten geschildert – Nübel bezieht sich auf ihn, doch viel Neues kann er nicht ergänzen.1 Die Soldaten, aber auch die militärischen Institutionen, so der formuliert der Verfasser eines seiner Ergebnisse, arbeiteten daran, durchzuhalten und die Last des Fronteinsatzes zu verringern (S. 365).

Auf vielen Seiten kann der Leser erkennen, dass Nübel die Kontrolle über sein Thema nicht in die Hände genommen hat. Der Raum, den die Anmerkungen einnehmen, ist groß, geschätzt ist es durchschnittlich mindestens 1/3 der Seite (in kleinerer Schrift), in der weiter diskutiert, erzählt und zitiert wird. Statt vom Autor, der sich über viele Jahre intensiv mit seinem Thema und den Quellen beschäftigt hat, durch das Thema geführt zu werden, gibt es immer wieder Ablenkungen, Seitenwege und eine Überfülle an Informationen. Die Thesen und Ergebnisse stehen in einem Missverhältnis zur Fülle an Informationen und Zitaten. Nach 400 Seiten spannender Lektüre, die immer wieder in interessanten Fragen mündet, fragt sich der Leser, was denn nun die eigentlichen Erkenntnisse über die Erfahrungen der Kämpfer sind? Vielleicht hätte eine fokussiertere Leitfrage die Materialfülle bändigen und konkretere Erkenntnisse bieten können.

Anmerkung:
1 Kurt Lewin, Kriegslandschaft, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie 12 (1917), S. 440–447.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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