Maria Fiebrandt untersucht den Konnex zwischen Umsiedlungspolitik, medizinischer Versorgung und Erbgesundheitspolitik bzw. Rassenhygiene während der Umsiedlung „Volksdeutscher“ aus Südtirol sowie Ost-und Südosteuropa während des Zweiten Weltkriegs. Gestützt auf eine breite Quellenbasis analysiert sie die verschiedenen Umsiedlungsaktionen „Volksdeutscher“ in vergleichender Perspektive. Fiebrandt nimmt hierbei den gesamten Umsiedlungsprozess von der Erfassung in den Siedlungsgebieten, dem Transport und der Unterbringung der „Volksdeutschen“, der „Durchschleusung“ und Einbürgerung durch die Einwandererzentralstelle bis hin zur Ansiedlung in den Blick.
Die Arbeit beginnt mit der Reflexion des Erfahrungshorizontes deutscher Volksgruppen im Ausland sowie der Entwicklungslinien von Rassenhygiene und Erbgesundheitspolitik vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Besonderes Augenmerk liegt auf der Herausbildung gesundheitspolitischer Strukturen sowie der Popularisierung rassenhygienischer Diskurse und Denkstrukturen innerhalb der deutschen Volksgruppen am Fallbeispiel der Bessarabiendeutschen. Ärzte, aber auch Lehrer und Geistliche wirkten als Multiplikatoren und schufen eine Akzeptanz für rassenhygienische und eugenische Ideen innerhalb der Volksgruppe, wobei es sich hier nicht um eine Kopie der Diskurse in Deutschland handelte, sondern die Volksgruppenvertreter eigene Interessen verfolgten, die sie auch während des Umsiedlungsprozesses vertraten. Sie waren nicht nur „Objekte“ der NS-Siedlungsplaner, sondern nahmen gezielt Einfluss, indem sie z.B. zur Vorbereitung der Umsiedlung eine „Geisteskrankenliste“ erstellten (S. 616).
Im zweiten Teil stehen politische und institutionelle Rahmenbedingungen der verschiedenen Umsiedlungsaktionen im Mittelpunkt. Fiebrandt beschreibt die bei der gesundheitlichen Betreuung der Umsiedler mitwirkenden Organisationen und Institutionen – wenig bekannt ist z.B. die zentrale Funktion der Reichsärztekammer – sowie Personen in leitender Funktion. Die vielfältigen biografischen Informationen zeigen neben dem Erfahrungshintergrund der Akteure professionelle und persönliche Netzwerke sowie Prozesse von Macht- und Kompetenzkonsolidierung. Dargestellt wird dies z.B. anhand des Werdegangs von Hellmut Haubold, der von Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti 1940 zur zentralen Figur hinsichtlich der gesundheitlichen Betreuung „volksdeutscher“ Umsiedler ernannt worden war.
Der dritte Teil der Arbeit befasst sich mit Selektionssituationen und -mechanismen während der einzelnen Umsiedlungsetappen. Noch vor der Umsiedlung wurden „Kranke“, zu denen, der „Biologisierung des Sozialen“ entsprechend, auch sozial auffällige „Volksdeutsche“ zählten, erfasst und in gesonderten Transporten ins Deutsche Reich gebracht. Psychisch Kranke gelangten jedoch in der Regel nicht wie ihre Familienangehörigen in die Lager der Volksdeutschen Mittelstelle oder die Ansiedlungsgebiete, sondern wurden direkt in psychiatrische Anstalten im Deutschen Reich und ab Mitte 1940 in die drei zuvor leer gemordeten Heilanstalten des „Warthegaus“, Warta, Tiegenhof und Gostynin, eingewiesen. Hinsichtlich der vorausgegangenen Ermordung der polnischen Psychiatriepatienten könne, so Fiebrandt im Widerspruch zu Götz Aly1, jedoch nicht von einem kausalen Zusammenhang zur Aufnahme von „volksdeutschen“ Psychiatriepatienten gesprochen werden: „der Platz stand vielmehr schon bereit, als die Umsiedlungsakteure über die Unterbringung der volksdeutschen Patienten mit der lokalen Gesundheitsverwaltung zu verhandeln begannen“. (S. 624)
Im Verlauf der Transporte verloren viele kranke Umsiedler dauerhaft den Kontakt zu ihren Familienangehörigen. Fiebrandt sieht hierin eine der Hauptursachen dafür, dass psychisch kranke Umsiedler aus Südost- und Osteuropa – im Gegensatz zu Umsiedlern aus Südtirol, die im vierten Teil der Arbeit untersucht werden – in die „Euthanasie“ im Rahmen der „Aktion T4“ einbezogen wurden. Aufgrund des Stopps der „Aktion T4“ im August 1941 wurden die Umsiedler zwar nicht mehr in einer der „T4-Tötungsanstalten“ ermordet, fielen aber den späteren Tötungen durch Medikamente und der systematischen Unterernährung in den Psychiatrien zum Opfer. Aber auch Umsiedler, die von der Einwandererzentralstelle während der „Durchschleusung“ in einem „hochkomplexen“ und während der Umsiedlungsaktionen professionalisierten Selektionsvorgang (S. 617) nach unter anderem rassenhygienischen Kriterien positiv beurteilt, eingebürgert und in den begehrten „neuen Ostgebieten“ angesiedelt worden waren, konnten in die Mühlen der NS-Erbgesundheitspolitik geraten. Eindrücklich zeigt Fiebrandt dies am Beispiel eines Umsiedlers, der nach einem Suizidversuch auf Betreiben seines Sohnes in der Psychiatrie untergebracht wurde. Der Umsiedler hatte auf die für ihn unerträgliche Situation, auf einem Hof zu leben, von dem die vormaligen polnischen Besitzer vertrieben worden waren, mit einer Depression reagiert (S. 393). Durch die Einweisung in die Anstalt lief er Gefahr, in die Patientenmorde einbezogen zu werden.
Nach der Ansiedlung sollten die gesundheitliche Betreuung der Umsiedler und die Durchführung erbgesundheitlicher Maßnahmen auf die örtlichen Gesundheitsämter übergehen. Allerdings versuchte die Einwandererzentralstelle zunehmend, „erbgesundheitliche Kompetenzen“ über den Prozess der „Durchschleusung“ hinaus an sich zu ziehen. So begann sie ab Anfang 1941, bei erbgesundheitlichen Bedenken ohne Zwischenschaltung örtlicher Stellen des Gesundheitswesens Sterilisationsanträge zu stellen, um effektiv „biologische Gefährdungen“ der „Siedlergesellschaft“ zu minimieren (S. 484), aber eventuell auch aufgrund divergierender gesundheitspolitischer Schwerpunktsetzungen. Während die Einwandererzentralstelle darauf abzielte, eine erbgesunde und rassenreine „Siedlergesellschaft“ zu schaffen, setzte die Gesundheitsverwaltung des „Warthegaus“ ihre Priorität auf eine Erhöhung der deutschen Bevölkerungszahl. „Ausmerzende“ erbpflegerische Maßnahmen in Bezug auf die deutsche Bevölkerung sollten demgegenüber zunächst zurückgestellt werden. Zugleich wurde es zur Erhöhung der deutschen Bevölkerungszahl als unabdingbar betrachtet, die „biologische Kraft des polnischen Volkes“ zu brechen. (S. 388). Im Sinne dieser „völkischen Ausmerze“ wurden im „Warthegau“ auch polnische Kinder ab 1943 in die „Kindereuthanasie“ einbezogen (S. 389).
Der Verdienst der Arbeit ist es, die bisher kaum untersuchte Bedeutung und Funktion von Medizin und Rassenhygiene für Planungen und Praxen der Umsiedlungen unter Einbeziehung von Perspektiven und Handlungsoptionen von Umsiedlungsakteuren und Umgesiedelten herauszuarbeiten. Fiebrandt zeigt die für die „Siedlergesellschaft“ konstituierende Bedeutung der permanent während des gesamten Umsiedlungsprozesses stattfindenden rassenhygienischen Selektion. Zu Recht verweist sie hierbei auf die Notwendigkeit „herrschaftsfunktionaler Kompromisse“ und die Wirkungsmacht pragmatischer und kriegswirtschaftlicher neben „rassischen“ und erbgesundheitlichen Kriterien der Selektionen. Ihre These, Rassenhygiene, Volkstums- und Siedlungspolitik seien im Selektionsprozess in spezifischer Weise verschmolzen und hätten sich insbesondere im „Warthegau“ mit einer „volkstumsbiologischen“ und rassistischen Vernichtungspolitik verbunden mit dem Ziel einer zukünftigen rassenreinen, erbgesunden, homogenen und leistungsstarken „Siedlergesellschaft“ in den „neuen Ostgebieten“, kann sie überzeugend belegen. Kritisch anzumerken ist die dürftig ausfallende Auseinandersetzung mit dem für die Arbeit zentralen Begriff der „Siedlergesellschaft“. Wie beispielsweise ist „Siedlergesellschaft“ in Abgrenzung zu dem von Birthe Kundrus verwendeten Begriff der „großdeutschen Volksgemeinschaft“ zu verstehen?2
Anmerkungen:
1 Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1998.
2 Birthe Kundrus, Regime der Differenz. Volkstumspolitische Inklusionen und Exklusionen im Warthegau und im Generalgouvernement 1939–1944, in: Frank Bajohr / Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009, S. 105–123, bes. S. 117.