H. Berghoff, C. Rauh-Kühne: Fritz K.

Titel
Fritz K.. Ein deutsches Leben im zwanzigsten Jahrhundert


Autor(en)
Berghoff, Hartmut; Rauh-Kühne, Cornelia
Erschienen
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thilo Nowack, Historisches Seminar, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Mikrogeschichte ist im Trend. Das hat zweifellos seine Berechtigung, denn die zahlreichen generalisierenden Erklärungen und Thesen zu zeitgeschichtlichen Fragen bedürfen einer eingehenden Prüfung und Spezifizierung anhand von Einzelbeispielen. Ein solches liefern Berghoff/Rauh-Kühne in ihrer Untersuchung über den württembergischen Unternehmer Fritz Kiehn, der von 1885 bis 1980 lebte und somit den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts bewußt erlebte und mitzugestalten versuchte.

Der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Kiehn kam als Zugereister in die Kleinstadt Trossingen, wo er mit Hilfe der ortsansässigen Schwiegermutter - er hatte 'gut geheiratet' - vergleichsweise schnell vom Handlungsreisenden zum Kleinunternehmer aufstieg. Zunächst handelte er mit Büchern, stieg jedoch bald in die Produktion von Zigarettenblättchen ein. Entsprechend seinen Initialen schuf er die Marke 'Efka', die die Grundlage seines Wohlstands bildete und das Herzstück seiner unternehmerischen Tätigkeit blieb. Er profitierte von der Inflation, in der er hohe Kredite günstig zurückzahlen konnte und hatte mit dem Zigarettenpapier ein Produkt, das besonders krisenresistent war, da die Menschen in wirtschaftlichen Notzeiten vermehrt selbstgedrehte Zigaretten konsumierten.

Der wirtschaftliche Erfolg machte ihn schon in den frühen zwanziger Jahren zum zweitgrößten Steuerzahler Trossingens nach dem Musikinstrumentehersteller Hohner, der mit Abstand der größte Arbeitgeber der Stadt blieb. Kiehns unternehmerischer Erfolg war von Anfang an von einem hohen Selbstdarstellungsstreben begleitet. Die Steigerung seines Sozialprestiges blieb sein Leben lang eine seiner Hauptmotivationen. Daß der zugereiste Jungunternehmer schon 1924 eine protzige Villa in Trossingen bezog, erregte unter den alteingesessenen Trossingern jedoch zunächst eher Mißtrauen und Ablehnung als Anerkennung. Die städtische Honoratiorenschaft wollte den kleinbürgerlichen Aufsteiger nicht akzeptieren.

Das sollte sich mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus ändern, zu dem sich Kiehn aus verschiedenen Gründen schon frühzeitig hingezogen fühlte. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, die Verbitterung über die Niederlage Deutschlands, ein ausgeprägter Antisemitismus und seine Wahrnehmung der Weimarer Republik als dekadentes und schwaches politisches System hatten in ihm den Wunsch nach einem 'starken Staat' gestärkt. Deswegen war er schon 1930 in die NSDAP eingetreten und wurde rasch zum Ortsgruppenleiter in Trossingen. Somit waren die Karten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten neu gemischt: Hatte Kiehn bis 1933 bei seinem Streben nach Anerkennung innerhalb Trossingens zahlreiche Demütigungen erfahren, war er im 'Dritten Reich' höchster Parteifunktionär der Kleinstadt. Hohner war nunmehr die "geduldete Randfigur", während Kiehn zum "starken Mann" avancierte [S.158].

Die unternehmerische und politische Karriere Kiehns während des Nationalsozialismus kann in mancher Hinsicht als exemplarisch gelten. Denn sein sozialer Aufstieg hatte weniger mit fachlicher Kompetenz zu tun, sondern basierte vor allem auf einem umfassenden 'kameradschaftlichen Netzwerk'. Es waren vor allem gute persönliche Beziehungen, die einem in der chaotischen nationalsozialistischen Polykratie zum Erfolg verhelfen konnten. Andererseits konnte man in diesem System auch schnell am Abgrund stehen, was Kiehn deutlich zu spüren bekam, als er wegen seiner früheren Freundschaft zu Gregor Strasser beinahe in den Strudel der 'Säuberungen' des 'Röhm-Putsches' geriet und sich nur knapp durch Glück und Lügen retten konnte.

Ein schamloser Anbiederungskurs, den Kiehn gegenüber verschiedenen NS-Funktionären verfolgte, war begleitet von einer geradezu peinlichen Selbstinszenierung, mit der er sich zum 'König von Trossingen' machte. Zur Förderung seines Sozialprestiges mimte der an Musik eigentlich vollkommen uninteressierte Kiehn den Verehrer der Opern Richard Wagners und präsentierte sich sogar auf den Bayreuther Festspielen. In Trossingen gab er sich als der großzügige und wohlwollende Patriarch, was ihm nach dem Krieg den Ruf einbrachte, er sei ein 'humaner Nazi' gewesen. Seine politische Macht - wenn sie auch immer im provinziellen Rahmen blieb - verstand er auch in konkrete Vorteile für sich umzumünzen, etwa bei der Bereicherung an jüdischen Unternehmen. Hinsichtlich der 'Arisierung' unterstützt das Beispiel Kiehns die These Frank Bajohrs, daß sich die Arisierungspraxis vor allem durch Korruption und Nepotismus auszeichnete. Zudem paßt Kiehns besonders offensives Bemühen, jüdische Betriebe zu übernehmen, gut zu Bajohrs Erkenntnis, daß es gerade die jüngeren und weniger etablierten Unternehmen waren, die sich am jüdischen Eigentum bereichern wollten.1

Kiehns Karriereknick und sozialer Prestigeverlust nach 1945, seine vierjährige Haft und seine darauffolgende Rückkehr in die bundesdeutsche Gesellschaft durch 'Entnazifierung', Rehabilitierung, 'kommunikatives Beschweigen' und Umdeuten der NS-Vergangenheit haben ebenfalls beispielhaften Charakter. Kiehn stilisierte sich ex post zum NS-Gegner und zum Freund und Wohltäter der Juden. Plötzlich wurde die frühere Freundschaft zu Gregor Strasser wieder ins Feld geführt und aus dem ehemaligen NS-Aktivisten Kiehn wurde rückblickend ein Opfer des Nationalsozialismus.

Mit seiner politischen Karriere war es jedoch vorbei. Zwar hatte er noch Kontakte zu 'alten Kameraden', brachte diese auch zum Teil in seinem Betrieb unter, was nicht unbedingt zum wirtschaftlichen Vorteil des Unternehmens war, von rechtsextremen Positionen hielt er sich fortan aber sehr fern. Im Vordergrund standen nunmehr seine unternehmerische Tätigkeit, die Familie und das ständige Bemühen, seine Reputation zu steigern.

Allerdings blieb Kiehns Erfolg als Unternehmer in den 50er und 60er Jahren bescheiden. Angetrieben von seiner Profilierungssucht verfolgte er vollkommen konzept- und strategielos das Fernziel, 1000 Arbeitskräfte in seinem Betrieb zu beschäftigen. So kaufte er planlos Unternehmen auf, ohne ein sinnvolles Diversifizierungskonzept zu verfolgen und erlebte entsprechende Fehlschläge.

In Trossingen etablierte sich nach dem Krieg wieder die 'alte Ordnung' aus der Zeit vor 1933. Kiehn fand sich damit ab, hinter Hohner nur noch zweiter Mann zu sein, konnte er doch froh sein, überhaupt wieder akzeptiert zu werden. In seinem ständigen Drang nach Höherem trat er dem Lions Club bei, suchte die Nähe zur CDU und baute sogar Kontakte zu Regierungskreisen auf. Er forcierte seine gesellschaftliche Reputation durch eine intensive Spendentätigkeit, durch die er unter anderem an die Ehrendoktorwürde der Universität Innsbruck kam, und gab sich als Mäzen und Kunstförderer. Sein großer Wunsch, das Bundesverdienstkreuz zu erhalten, ging jedoch nicht in Erfüllung. Statt dessen stand er am Ende seines Lebens infolge seiner kostspieligen Selbstinszenierungen vor einem hohen Schuldenberg.

Kiehn verfolgte zeit seines Lebens weder in seinen politischen noch in seinen unternehmerischen Aktivitäten eine Strategie oder eine Idee. Seine Hauptmotivation lag allein im blinden Streben nach Prestigegewinn. In seiner politischen Tätigkeit ging es ihm nicht darum, bestimmte Ideale in die Tat umzusetzen, sondern er wollte an die Spitze der lokalen Honoratiorenschaft gelangen. Mit seinem Unternehmen verfolgte er keine langfristige Geschäftsstrategie sondern war - besonders seit den fünfziger Jahren - nur noch auf Expansion aus.

Ursachen hierfür sind sicher im psychologischen Profil des aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Underdogs zu sehen. Diese Überlegung wird von den Verfassern aber leider nur gestreift. Es ist bedauerlich, daß Berghoff/Rauh-Kühne den Motivations- und Verhaltensmustern Kiehns nur ansatzweise auf den Grund gehen und etwa Herkunft, Kindheit und Sozialisation kaum in den Blick nehmen. Dieses Defizit mag auf die mangelnde Quellensituation zurückzuführen sein. Dennoch berührt der hier gewählte Forschungs- und Interpretationsansatz die Generationentheorie, wie sie etwa von Detlev J.K. Peukert und Ulrich Herbert vertieft wurde, ohne sie konkret aufzugreifen.2

Ebenfalls auffällig ist die außerordentlich geringe wirtschafts- bzw. unternehmenshistorische Komponente der Untersuchung. Das Hauptinteresse der Verfasser gilt dem teilweise intriganten politisch-gesellschaftlichen Wirken Kiehns, hinter dem die Figur des Unternehmers etwas in den Schatten tritt. Das wirft die Frage auf, ob damit in der Biographie Kiehns nicht ein wesentlicher Aspekt unterbelichtet bleibt.

Aber auch das kann an der Quellensituation liegen, womit der letzte Kritikpunkt angesprochen ist: Die Leserschaft wird darüber informiert, daß Berghoff bei seinen Forschungen über Hohner auf zahlreiche Quellen zu Kiehn stieß und das vorliegende Buch somit gewissermaßen als ein 'Nebenprodukt' zur Habilitationsschrift heranwuchs. Eine kritische Darlegung des der Arbeit zugrundeliegenden Materials fehlt jedoch ebenso wie ein ausführliches Verzeichnis der ungedruckten Quellen.

Davon abgesehen ist das Buch jedoch außerordentlich lesenswert: Die Verfasser leisten mit ihrer Arbeit einen hochinteressanten Beitrag zu verschiedenen Fragekomplexen der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, wie etwa der Funktionsweise des polykratischen NS-Systems, der 'Arisierungs'-Praxis oder der Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten in die bundesdeutsche Gesellschaft. Hier bietet der mikrohistorische Blick anschauliche Beispiele, mit denen bislang bestehende Theorien unterfüttert und spezifiziert, zum Teil in Frage gestellt werden. Berghoff/Rauh-Kühne nehmen dabei eindeutig Stellung: Die Darstellung - etwa des Umgangs Kiehns mit seiner NS-Vergangenheit - ist durchaus wertend, was nicht nur legitim, sondern auch sehr begrüßenswert ist.

Berghoff/Rauh-Kühne zeichnen das Bild eines schwer zu greifenden Mannes, der sein Leben lang keine echten Freunde, sondern nur Seilschaften und Zweckbekanntschaften hatte, der im Nationalsozialismus Provinzpolitiker blieb, es trotz größter Mühen nie zum Großindustriellen brachte und dennoch irgendwie ein erfolgreicher Unternehmer war, der sich am Ende durch seine Profilierungssucht in hohe Schulden gestürzt hatte. Man sieht das Bild eines schwachen, 'mediokren' Mannes, von dem man nicht so recht weiß, ob es einen abstößt und empört, oder ob man Mitleid mit ihm haben soll. Vieles an der Person Kiehn bleibt unklar, was nicht an der Darstellung der Verfasser liegt, sondern seiner Persönlichkeit zu entsprechen scheint. Das ist zweifellos die Stärke des Buches, das keine einfachen Erklärungsmuster anbietet, sondern Fragen offen läßt, wenn es keine klaren Antworten geben kann.

Anmerkungen:
1 Bajohr, Frank: 'Arisierung' in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburg 1997, S. 245, 306 f.
2 Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 25-31; Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, 2. durchges. Aufl., Bonn 1996, S. 42-50.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Thilo Nowack <t.nowack@uni-bonn.de>, Historisches Seminar der Universität Bonn, Abteilung Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
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Entgegnung auf Thilo Nowacks Rezension über Berghoff/Rauh-Kühne
Autoren sollten Wertungen von Rezensenten nicht kommentieren. Jedoch müssen sie widersprechen, wenn Buchbesprechungen falsche Tatsachenbehauptungen in den Raum stellen und die Orginalität von Forschungsleistungen wahrheitswidrig in Zweifel ziehen.
Thilo Nowacks Rezension des Buches von Hartmut Berghoff und Cornelia Rauh-Kühne, "Fritz K. Ein deutsches Leben im 20. Jahrhundert" (DVA, Stuttgart/München 2000) erschien am 2. Juni 2000 in H-Soz-u-Kult. Nowack spekuliert über den jeweiligen Beitrag der beiden Buchautoren, indem er behauptet, "die Leserschaft wird darüber informiert, dass Berghoff bei seinen Forschungen über Hohner auf zahlreiche Quellen zu Kiehn stieß und das vorliegende Buch somit gewissermaßen als 'Nebenprodukt' zur Habilitationsschrift heranwuchs".
Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist, dass es sich um eine eigenständige und völlig neue von Cornelia Rauh-Kühne und Hartmut Berghoff gemeinsam erforschte und gemeinsam geschriebene Studie handelt. Aus unserem Vorwort geht hervor, dass die Kiehn-Biographie aus sehr unterschiedlichen, dort näher präzisierten Forschungskontexten beider Autoren hervorging. Die Beschäftigung Cornelia Rauh-Kühnes mit der Person Fritz Kiehns begann schon vor der Fertigstellung der Habilschrift von Hartmut Berghoff ("Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857-1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte", Schöningh, Paderborn 1997), in der bereits auf Seite 425 auf Rauh-Kühnes Recherchen Bezug genommen wird. Obwohl es in einigen wenigen Kapiteln partielle Überschneidungen beider Bücher gibt, handelt es sich um grundsätzlich andere Themen und methodische Ansätze. Hätte Nowack das Archivverzeichnis beider Bücher verglichen, wäre er z B. darauf gestoßen, dass neun von 22 Archiven, die wir für das Buch "Fritz K." konsultiert haben, im Hohner-Buch nicht erwähnt sind. Auch aus den übrigen Archiven wurden in mehrjähriger Forschungsarbeit neue Bestände ausgewertet. Auch wurden zahlreiche ausführliche Interviews mit Zeitzeugen geführt.
Daneben vermittelt Nowack seinen Lesern den Eindruck, unser Buch beschreibe den Lebensweg eines ehemaligen Ortsgruppenleiters. Offensichtlich ist dem Rezensenten entgangen, dass Fritz Kiehn nach 1933 zu einem führenden Wirtschaftsfunktionär der NSDAP in Württemberg aufstieg. Kiehn war 1932-1945 Reichstagsabgeordneter der NSDAP, leitete nach 1933 zwei Industrie- und Handelskammern sowie die Württembergische Wirtschaftskammer, er drang 1938 in den elitären "Freundeskreis Reichsführer-SS" vor und gehörte im Range eines SS-Obersturmbannführers dem Persönlichen Stab Himmlers an. Derselbe Kiehn, von Beruf Unternehmer, stand Anfang der 1950er Jahre im Zentrum eines der ersten großen Subventionsskandale der frühen Bundesrepublik, nachdem ihm die Württembergische Regierung einen Millionenkredit zum Ausbau seines durch Restitionsforderungen geschrumpften Firmenimperiums gewährt hatte. Seit Mitte der fünfziger Jahre pflegte Kiehn enge Kontakte zu den Spitzen von FDP und CDU bis hinein ins Kabinett Adenauers. Das sind die wesentlichen Inhalte unseres Buches, die Nowack in seiner Rezension nicht eines Wortes würdigt.
Bei unserem Buch handelt es sich um eine gleichberechtigte Gemeinschaftsarbeit zweier Autoren, die in mehrjähriger Forschungsarbeit umfangreiche, bislang noch nicht ausgewertete Quellenbestände sichteten und analysierten. Wir verwahren uns gegen die rufschädigende Behauptung der Sekundärauswertung bereits an anderer Stelle publizierter Materialien.

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