B. E. Vick: The Congress of Vienna

Titel
The Congress of Vienna. Power and Politics After Napoleon


Autor(en)
Vick, Brian E.
Erschienen
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Ruhkopf, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Auch 200 Jahre nach seiner Beendigung bleibt der Wiener Kongress Gegenstand historiographischer Auseinandersetzung. Während zunächst diplomatie- und politikgeschichtliche Darstellungen dominierten1, bahnen sich bereits seit einiger Zeit vermehrt kulturgeschichtliche Studien mit neuen Fragestellungen und unterschiedlichen Ergebnissen den Weg in die (Forschungs-)Öffentlichkeit.2 Zumeist folgen diese Arbeiten jedoch dem trennenden Grundsatz, dass alles, was nicht Kulturgeschichte sei, Politikgeschichte sein müsse und umgekehrt. Hier hebt sich die in zehnjähriger Forschungsarbeit entstandene, zweite Monographie des US-Historikers Brian E. Vick, „The Congress of Vienna. Power and Politics after Napoleon“ positiv ab. Denn Vick strebt eine originelle Verknüpfung an, indem er das ‚Tanzen‘ und politische Ringen in Wien als miteinander verschränkte und sich gegenseitig beeinflussende Dimensionen des Kongresses versteht.

Für die Überlegung, was die „political culture“ Wiens für die diplomatischen Verhandlungen auf dem Wiener Kongress bedeutete, und was umgekehrt der Wiener Kongress über die politische Kultur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zu offenbaren vermag, hat Vick Archivalien und weiteres Quellenmaterial aus nahezu 30 Archiven, Bibliotheken, Museen, Bildergalerien und Münzkabinetten in den USA und Europa ausgewertet. Diese breite Quellenauswahl untersucht Vick mit einem methodischen Ansatz, der medien- und netzwerktheoretische sowie kulturwissenschaftliche Zugriffe einschließt. Er ermöglicht die Analyse der Verschränkung von Diplomatie und Kultur durch die Betrachtung der Interaktionen zwischen Diplomaten, Staatsvertretern und Mitgliedern der kulturellen Elite in der „sociability“ der Salon- und Unterhaltungsszene und des Meinungsaustausches in Zeitungen und Pamphleten (vgl. S. 6–8). Dabei stellt Vick die gegenseitige direkte und indirekte Beeinflussung beider Felder deutlich heraus: „The worlds of culture and society were suffused with politicized messages, and those of political culture and diplomacy played out on these cultural and social fields.” (S. 20)

Das Buch ist in zwei Teile aufgeteilt. Sektion I, bestehend aus drei Kapiteln, stellt die Untersuchung der verschiedenen Ebenen jener politisch-kulturellen Sphäre Wiens ins Zentrum. Das erste Kapitel, „Peace and Power in Display“, nimmt die Festkultur in den Blick und zeigt, wie monarchische Herrschaft in militärischer und zugleich religiöser Symbolik bei öffentlichen Umzügen gekennzeichnet und rezipiert wurde (zum Beispiel der Einzug Zar Alexanders I. und König Friedrich Wilhelms III. in Wien in Begleitung Kaiser Franz‘ I., vgl. S. 21–25). Die Akzeptanz der Öffentlichkeit durch die Monarchen, wie es beispielsweise in der Inkorporation von Zivilregimentern in den militärischen (Herrscher-)Paraden deutlich wird, löste nach Vick eine stärkere politische Identifikation der Öffentlichkeit mit dem Herrscherhaus aus. Die Identitätsvermischung durch die Nähe und Präsenz der Monarchen auf den Volksfesten steigere dies noch. Darstellungen des Kongresses in der Erinnerungskultur vermittelten diese Doppelverbindung ebenfalls: Repräsentationsanspruch habe sich mit Identitätssymbolen traditioneller Herkunft in der neuen, öffentlichen Rezeptionskultur verbunden.

„Selling the Congress“ – der Titel des zweiten Kapitels ist gut gewählt. Hier beschreibt Vick detailliert, wie sich Diplomatie und Kongress die facettenreiche materielle Kultur in Wien (und die internationale Presse europaweit) zunutze machten. Es entstanden Portraits auf Porzellan und Medaillons, Spielkarten und Panoramaansichten von Schlachten und dem besetzten Paris, Inszenierungen des brennenden Moskaus 1812 in mechanischen Theatern. Vick betitelt diese Kreuzung zwischen aristokratischer Repräsentation und öffentlicher Reaktion treffend als „political consumption“ (S. 66). Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Selbstbildnis Alexanders I., auf Tabakboxen und Teetassen in Szene gesetzt, beim Zaren selbst oder anderen politischen Funktionären das diplomatische Kalkül wirklich beeinflussen konnte. Hingegen überzeugt Vicks Darstellung, dass bei der Presse sowohl staatliche als auch private Akteure beiderseits Handlungsspielräume besaßen, was sich zum Beispiel in der Nutzung zeitungsübergreifender „citation networks“ von staatlicher Seite zeigte (vgl. S. 100–102) oder in den Grenzen und Umgehungsmöglichkeiten der Zensur (vgl. S. 106).
Methodisch am interessantesten beginnt das dritte Kapitel, „Salon Networks“. Netzwerktheoretisch informiert, fasst der Autor die Wiener (und paneuropäische) Salonkultur als Kommunikationsplattform auf, verbunden durch Beziehungen und Bekanntschaften von Gästen und Gastgebern. So hätten die Salons auch eine politische Einflussposition erlangt, denn hier konnten staatliche Agenten politische Meinungen jenseits der Konferenzen wahrnehmen und ihre Stärke abschätzen, genauso wie Argumente für ihre Sache in den öffentlichen Diskurs einführen. Politische, konfessionelle, oder ‚nationale‘ Differenzen hätten dabei nicht zum Ausschluss geführt – eher trafen hier Staatsmänner, Geistliche und Grandseigneurs gern und gezielt aufeinander. Frauen, die salonnières, nahmen hierbei eine aktive Rolle ein, sowohl in der Kontaktvermittlung als auch in der Konfliktverhütung durch die Erzeugung der richtigen Gesprächsatmosphäre, wobei sie sich nicht selten auch selbst in politische Debatten einmischten, wie Vick quellennah zeigen kann.

Mit Beginn der zweiten Sektion wechselt der Fokus des Buches. Nun behandelt Vick diplomatische Verhandlungen, sowohl über bekannte wie auch eher unbekannte oder unterschätzte Themen des Kongresses. Dabei durchziehen die Ergebnisse der ersten Hälfte des Buches die Analyse, was den Einfluss der „influence politics“ (S. 7) auf die Diplomatie hervorhebt.

Kapitel Vier, „Negotiating Religion“, beleuchtet die religiöse Dimension der Diplomatie auf dem Wiener Kongress. Interessant ist hier vor allem der Kampf um jüdische Rechte: Vick zeigt, dass sowohl jüdische Vertreter wie auch deren Gegner die Salonnetzwerke und Medien nutzbar machen konnten, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und das Thema so zum Teil der Verhandlungen werden zu lassen. Extraeuropäische Themen stehen in Kapitel Fünf, „Europe and the Wider World“, im Zentrum. Über verschiedene Kommunikationskanäle entwickelte sich die britische Abolitionismus-Debatte zum strategischen Referenzpunkt in den Verhandlungen mit Frankreich (vgl. S. 197f.) und verband sich mit dem Kampf gegen die Barbareskenstaaten, unter anderem dargestellt am Beispiel der (letztlich erfolglosen) Meinungskampagne des Admirals Sir Sidney Smith (vgl. S. 215f.).

Das inhaltlich spannendste und zugleich kontroverseste ist das vorletzte Kapitel, „Between Reaction and Reform“. Vick lehnt den Dualismus Reform/Reaktion ab und plädiert für eine zusätzliche Zwischenkategorie (vgl. S. 235f.), die er der Mehrheit der Kongresspolitiker bescheinigt. So gibt es am Ende keine grundsätzliche Ablehnung des Konstitutionalismus mehr3, die Frage auf dem Kongress war vielmehr, wie man ihn am effektivsten für die Stabilisierung der Gesellschaft und der monarchischen Herrschaft nutzen konnte. Noch dazu kann Vick überzeugend deutlich machen, dass der existente Diskurs des Nationalen noch nicht als Ausschlussmechanismus gedacht wurde, sondern sich vielmehr durch eine Annäherung über lokale und regionale Loyalitäten erzeugte (vgl. S. 266ff., insb. S. 274.).4 Das finale Kapitel, „Poland, Saxony, and the Crucible of Diplomacy“, versteht Vick als Prisma für die Themen und Thesen des Buches. Das vermeintliche Musterbeispiel für Machtpolitik dynamisiert sich hier zu einer (teilweise öffentlichen) Auseinandersetzung um Religion und Nationalität, die auf Festen, in Salons und Clubs, Zeitungen und Pamphleten von Männern wie Frauen diskutiert wurde und die geheimen Konferenzen nicht unberührt ließ: Dichte Verbindungen zwischen den beiden gegnerischen Allianzen und möglich gewordene Kompromisse führten schließlich zu einer Lösung. Vick kann überzeugend zeigen, dass die Streitfrage unter Einbeziehung der sie umgebenden „political culture“ wirklich zu einem mehrdimensionalen Schmelztiegel wurde.

Vicks Ergebnisse lassen das Bild des Wiener Kongresses wesentlich bunter und vielfältiger werden. Er bietet auch überzeugende Ansätze, die politischen Entscheidungsprozesse im beginnenden 19. Jahrhundert als weitaus mehr als nur aus Geheimkonferenzen und machtstrategischen Überlegungen bestehend zu verstehen. Es gelingt ihm, seine Gesamtthese anhand seiner Quellenarbeit (an wenigen Stellen vielleicht fast zu beispielreich) überzeugend darzulegen. Mit einem empirischen Beweis, inwiefern die politische Kultur um den Wiener Kongress die Verhandlungen beeinflusste, kann Vick aber letztlich nicht dienen – oftmals fügt er deshalb auch ein vorsichtiges „perhaps“ ein. Alle Einzelbeobachtungen, vor allem die der ersten drei Kapitel, sind jedoch durch Quellen fest untermauert und dürften dazu beitragen, die politische Geschichte des Wiener Kongresses sowie die Fragen nach Nationalität, Geschlecht und Kommunikationskultur im 19. Jahrhundert neu und mit anderem Blick zu diskutieren. Das ist das Verdienst dieses Buches.

Anmerkungen:
1 Am eindrücklichsten hierzu nach wie vor die Studie von Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763–1848, Oxford 1994.
2 Vgl. die Auswahl und Besprechung neuerer Studien bei Wolfgang Behringer, Rezension zu: Reinhard A. Stauber, Der Wiener Kongress, Wien 2014; Reinhard A. Stauber / Florian Kerschbaumer / Marion Koschier (Hrsg.), Mächtepolitik und Friedenssicherung. Zur Politischen Kultur Europas im Zeichen des Wiener Kongresses, Berlin 2014; Brigitte Mazohl / Karin Schneider / Eva Maria Werner, Europa in Wien. Who is Who beim Wiener Kongress 1814/15, Wien 2015; Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014; Hazel Rosenstrauch, Congress mit Damen. Europa zu Gast in Wien 1814/1815, Wien 2014; Thomas Just / Wolfgang Maderthaner / Helene Maiman (Hrsg.), Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, Wien 2014; Alexandra Bleyer, Das System Metternich. Die Neuordnung Europas nach Napoleon, Darmstadt 2014; Christa Bauer / Anna Ehrlich, Der Wiener Kongress. Diplomaten, Intrigen und Skandale, Wien 2014; Thierry Lentz, 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, München 2014; Hannes Etzlstorfer, Der Wiener Kongress. Redouten, Karoussel und Köllnerwasser, Wien 2014; Adam Zamoyski, 1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress, München 2014; Heinz Duchhardt, Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2015; Mark Jarrett, The Congress of Vienna and its Legacy. War and Great Power Diplomacy after Napoleon, London 2014, in: H-Soz-Kult, 02.09.2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26597 (27.01.2017).
3 Ein ähnliches Argument zur gegenseitigen Akzeptanz von Monarchie und Republik mit Bezug zu den Verhandlungen in Wien macht auch Dieter Langewiesche, Kongress-Europa in global-historischer Perspektive, in: ZWG 16 (2015), S. 11–29.
4 Was die Forschungen von Celia Applegate, A Nation of Provincials, The German Idea of Heimat, Berkeley 1990 für das 19. Jahrhundert bestätigt.

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