Titel
Phoenix Europa. Die Moderne. Von 1740 bis heute


Autor(en)
Schulze, Hagen
Reihe
Siedler Geschichte Europas
Erschienen
Berlin 1998: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
€ 74,00
Wolfgang Schmale, Universitaet Wien Institut fuer Geschichte

Hagen Schulze ist in den vergangenen zehn Jahren mit einer Reihe teils knapperer, teils sehr umfangreicher Publikationen zur europäischen Geschichte hervorgetreten. Zu erinnern ist unter anderem an den Band „Staat und Nation“ aus der europageschichtlichen Reihe des Beck-Verlages (1994) sowie, sehr nachdrücklich, an die umfängliche Quellensammlung zur europäischen Geschichte unter maßgeblicher Beteiligung von Ina Ulrike Paul, die im übrigen auch an dem hier zu besprechenden Band mitgewirkt hat. Der Titel „Phoenix Europa“ bezeichnet sehr gut die Grundidee H. Schulzes, nämlich die „Wiederkehr Europas“, die er bereits 1990 in dem Bändchen „Die Wiederkehr Europas“ (ebenfalls Siedler-Verlag) entwickelt und in der Zwischenzeit bei mehreren Gelegenheiten erneuert hat (z.B. in: Friedrich Jahresheft IX, 1991, „Wege nach Europa“, dort S. 29 ff. „Wiederkehr Europas“). Sowohl „Staat und Nation“ wie die Quellensammlung setzen bei der mittelalterlichen bzw. antiken Geschichte Europas an, so daß der vorliegende Band aus der insgesamt vierbändigen „Siedler Geschichte Europas“, der den chronologischen Abschluß bildet, aber zuerst erschienen ist, einen implizit immer wieder spürbaren, weit in die Geschichte Europas zurückreichenden Unterbau besitzt.

Das Vorwort beginnt mit der Feststellung: „Dies ist eine von vielen möglichen europäischen Geschichten.“ Das bedeutet keine salvatorische Klausel, sondern ist eine ebenso zutreffende wie ehrliche Feststellung. Geschichtsschreibung ist Teil der Kultur; die europäische Kultur, darin ist H. Schulze beizupflichten, zeichnet sich durch ein Wechselspiel von Vielheit und Einheit aus. Entsprechend vielfältig werden die zukünftig noch zu erwartenden „Geschichten Europas“ auch sein. Thomas Nipperdey hat in seinem letzten großen öffentlichen Vortrag auf dem Bochumer Historikertag von 1990 die Vielheit in der Einheit und die Einheit in der Vielfalt in der europäischen Geschichte sehr grundsätzlich thematisiert. Es handelt sich dabei auch um ein Grundproblem europäischer Philosophie, nicht nur um ein faktisch historisches. Dies bewußt zu machen, und daß es wohl einer besseren Einsicht folgt, dies in einem positiv-konstruktiven Sinn zu akzeptieren, gehört zu den ideellen Anliegen H. Schulzes. Zwar beschränkt sich Schulze, was den Vergleich der europäischen mit nichteuropäischen Kulturen angeht, auf sehr behutsame Hinweise, aber das Zusammenspiel von Einheit und Vielheit zählt bei ihm zu den wichtigen kulturellen Unterscheidungsmerkmalen. In der Tat wird sich „Europäische Identität“ im Hinblick auf die Zukunft leichter denken lassen, wenn das Prinzip der Vielheit und Vielfalt positiv-konstruktiv akzeptiert wird, als förderlich und nicht als hinderlich angesehen wird.

Die eine von vielen möglichen europäischen Geschichten, die Schulze bietet, bedeutet, daß er sich für die Erzählung des „europäischen Staatensystems und seiner Bestandteile“ entschieden hat. Dies begründet sich wiederum auf der Folie eines im Buch nicht ausgeführten Kulturvergleichs: „Anders als die Staatswesen Asiens, Afrikas und des präkolumbianischen Amerika hat Europa seit dem Spätmittelalter ein funktionierendes Staatensystem ausgebildet – wenn sich einer seiner Bestandteile veränderte, wirkte sich das auf alle anderen aus, während die Stabilität des Ganzen für lange Zeit unerschüttert blieb.“ (S. 10) Der Verfasser bezeichnet das Staatensystem als „Staatenfamilie“, jedenfalls solange, „bis schließlich die voraussetzungslose, rationale Staatskunst, die solches ermöglichte, den politischen Emotionen der industriellen Massengesellschaft zum Opfer fiel. Daraus folgten die europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die Unmündigkeit Europas in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs und schließlich die Neuformierung dieses Staatensystems, die wir derzeit beobachten.“ (S. 10)

Die entscheidende Epochenschwelle ist folglich in der Entstehung der industriellen Massengesellschaft zu sehen, als deren Schlüsselereignis der Erste Weltkrieg zu erachten ist. Unterhalb dieser großen Epocheneinteilung werden kleinere Epochenschnitte angesetzt: 1740-1792 vom Überfall auf Schlesien durch Friedrich II. bis zu Napoleon; 1792-1815 als revolutionär-napoleonische Epoche; 1815-1871 vom Wiener Kongreß bis zur deutschen Reichsgründung; 1871-1914, betitelt als „Nationen und Reiche“; 1914-1939, betitelt als „Marsch in den Abgrund“; 1939-1949: „Ein Kontinent brennt aus“; 1949-1990 von der „Rekonstruktion“ Westeuropas bis zu den „samtenen Revolutionen“ von 1989/1990. Eine Art Nachwort – „Das neue Europa ist das alte Europa“ – beschließt, einige Thesen des Vorworts aufgreifend, den Text. Es folgen 11 Seiten Anmerkungen, ein Personenregister sowie das Verzeichnis der zahlreichen (nicht numerierten) Abbildungen.

Das Buch wendet sich nicht an den Forschungs- und Wissenschaftsbetrieb, sondern an ein historisch vorgebildetes Publikum. Es liefert keine neuen Forschungsergebnisse, sondern versucht, aus der immensen Stoff- und Faktenfülle eine „europäische“ Geschichte entstehen zu lassen. Es gehört zweifellos zu den schwierigsten Problemen einer europageschichtlichen Darstellung, nicht der Verlockung nebeneinander gestellter nationaler Geschichten im europäischen Raum zu erliegen. Der Verfasser geht immer von allgemeineuropäischen Phänomenen aus, auf deren räumliche bzw. nationale Nuancierungen jeweils aufmerksam gemacht wird, und bietet dazu Vertiefungen nationalgeschichtlicher Aspekte unter Einbeziehung ihrer jeweiligen transnationalen Verkettung. Permanente Schwerpunkte sind dabei England, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich (vor allem bis 1918) sowie Rußland/Sowjetunion und Polen, die übrigen Staaten werden gleichfalls, aber wesentlich knapper, behandelt – was sachlich im Rahmen der von Schulze privilegierten Grundperspektive der Geschichte des Staatensystems richtig ist. Allgemeineuropäische Gesellschafts-, Wirtschafts- und Kulturtransformationen werden gleichfalls skizziert, dazu kommen selbstredend transatlantische und kolonialismus- bzw. imperialismusgeschichtliche Perspektiven. Die zahlreichen Abbildungen werden von z.T. mehrspaltigen Erläuterungen begleitet, die weitere, oft sehr detaillierte Vertiefungen einzelner Aspekte beinhalten und somit den laufenden Text ergänzen, ohne dessen Fluß zu unterbrechen.

Neben dem zu lösenden und gelösten Problem der Darstellung gelingt Schulze eine vorurteilsfreie und von einseitigen Gewichtungen weitgehend freie Erzählung. Natürlich erwartet man das von einem Berufshistoriker, trotzdem ist die Feststellung nicht banal. Einseitige Gewichtungen, die keineswegs Vorurteilen entspringen müssen, sind gang und gäbe, sie erfolgen daraus, dass man nicht alles wissen kann, nicht alles gleich beherrschen kann, dass man thematische Vorlieben entwickelt und seine Steckenpferde hat. Schulzes Vorliebe ist die politische Geschichte des europäischen Staatensystems, die er auch gerne zugibt, innerhalb dieser Vorliebe wird man ihm aber nicht vorwerfen können, thematische Steckenpferde zu reiten. Man muss Schulzes Darstellung mit anderen gängigen europäischen Geschichten vergleichen, um zu sehen, dass ihm trotz aller einerseits unvermeidlichen, andererseits sicher auch individuellen Auswahlen, eine Art Lehrstück gelungen ist.

Es drängen sich freilich einige Einwände und Fragen auf. Zunächst geht es um wichtige Formalien. Dass sich kein Sach- und Ortsregister findet, zeugt womöglich von verlegerischem Geiz. Dem anvisierten Publikum wäre das jedoch allemal zu gönnen und sicherlich auch zuzumuten. Dass das geht, beweist die sechsbändige Propyläen Geschichte Europas, die ein sehr gutes Register besitzt und bekanntermaßen seit Jahren für das Taschengeld von 99 DM angeboten wird. Die Anmerkungen bei H. Schulze belegen im Prinzip nur die Zitate im Text. Soweit nicht direkt Ausgaben von Primärquellen zitiert werden sondern Forschungsliteratur, fällt auf, dass diese oft älteren Datums ist. Da das Buch mit keiner Auswahlbibliographie versehen wurde, könnte der mißverständliche Eindruck entstehen, als habe es bei zentralen Themen seit Jahren keinen nennenswerten Forschungsbeitrag mehr gegeben. Das schließt nicht den Vorwurf ein, der Vf. habe bei seiner Darstellung nicht den jeweils aktuellen Forschungsstand zu erkunden gesucht. Während der erzählende Text gut lektoriert wurde, enthalten die Bildlegenden manche Schnitzer. Zwei Beispiele: In der Bildlegende S. 410, letzter Satz, stimmt die Chronologie nicht (Wortlaut: „Im Oktober 1944 wurde der Massenmord angesichts der vorrückenden Sowjetarmee eingestellt, die das Lager am 27. Januar 1944 befreite.“ Es war der 27. Januar 1945). Papst Johannes Paul II. wurde nicht 1974, wie es in der Bildlegende S. 449 heißt, sondern 1978 zum Papst gewählt. Über die Legenden selber läßt sich natürlich streiten. Auch nur ein Beispiel: S. 70 wird eine Abbildung mit dem Titel „Straßenbau in Frankreich, Mitte des 18. Jahrhunderts“ gezeigt. Im letzten Satz der Legende steht, dass für den Straßenbau „hauptsächlich Gefängnisinsassen herangezogen wurden.“ Das klingt nun etwas eigenwillig, hatten doch vorwiegend die Bauern für den nationalen Straßenbau die „corvée royale“ zu leisten – für die ärmeren bedeutete dies Arbeitsleistung, für die vermögenderen, dass sie Geld zahlten. Vielleicht soll sich der Satz gar nicht auf Frankreich beziehen, das bleibt aber unklar.

Die Plazierung der Abbildungen kann nicht zufriedenstellen; oft haben Bilder und fortlaufender Text überhaupt nichts miteinander zu tun. Wiederum nur ein Beispiel (von sehr vielen): S. 124 findet sich eine Farbabbildung, die Claude Monets Bahnhof Saint-Lazare aus dem Jahr 1877 reproduziert. Im Text wird auf den umliegenden Seiten das Ende des französischen Ancien Régime und der Beginn der Revolution abgehandelt. Auch die Bildlegende schlägt naturgemäß keine Brücke zum Text. S. 265 bis 268 werden drei Farbabbildungen zum tschechischen Kurort Karlsbad gezeigt, eine über eine Doppelseite reichend. Abgesehen davon, dass Bilder und umliegender Text nichts miteinander zu tun haben (Karlsbad wird an anderer Stelle im Text erwähnt) und dass die Legenden sozio-kulturelle Informationen beinhalten, stellt sich die Frage der Gewichtung der Illustrationen in dem Band. Kritische Aussagen zum Bild als historischer Quelle sind nach Auffassung des Rezensenten auch in einem Publikumsband angebracht.

Was die inhaltlichen Ausführungen des Textes angeht, wäre mancher Widerspruch, manches Fragezeichen möglich. Zwei von rund 50 Fragezeichen, die sich beim Lesen ergaben, seien herausgegriffen: Kann man so einfach sagen, daß in der frühen Neuzeit „Monarch, Adel und Geistlichkeit ... das Recht, nach dem Europa sich ordnet, (setzten)“ (S. 26)? Die sozialhistorische Rechtsgeschichte hat da doch auch andere Ergebnisse gezeitigt, so einfach waren die Verhältnisse nicht. Die Stelle wird hier herausgegriffen, weil sie zeigt, dass in mancher Beziehung H. Schulze über die neue Forschung einfach hinweggeht; die politische und rechtliche Kultur der frühen Neuzeit barg wesentliche Elemente von Grund- und Menschenrechten, Mitbestimmung, Gewaltenteilung und auch von Demokratie in sich. Ausdrücklich nicht gemeint ist damit die Bill of Rights usw., die H. Schulze selbstverständlich erwähnt, sondern es ist ausdrücklich die politische und rechtliche Kultur gemeint, die entscheidend vom „gemeinen Volk“ geprägt wurde. Es soll zumindest als Frage aufgeworfen werden, wieviel Darstellung an politischer und rechtlicher Kultur auch dann nötig ist, wenn es bevorzugt um das europäische Staatensystem gehen soll.

Fraglich erscheint dem Rezensenten die relative – wohlgemerkt: relative! – Vernachlässigung der Geistes- und Mentalitätsgeschichte der Europavorstellungen im 20. Jahrhundert. Die daran so reiche Zwischenkriegszeit bleibt in dieser Beziehung auffällig blass; das Europadenken im Widerstand wird nur äußerst knapp angeführt, obwohl es hoch entwickelt war und – das ist in einer Rezension nicht auszuführen – den Mutterboden für die Integrationspolitik der Nachkriegszeit lieferte. Natürlich weiß H. Schulze das alles, aber nach Meinung des Rezensenten hätte gerade die gewählte Generalperspektive des Staatensystems eine stärkere Präsenz der Entwicklung politischer Europamentalitäten in der Erzählung nach sich ziehen müssen. Vielleicht ist da der Grundidee von der Wiederkehr Europas, vom Phoenix aus der Asche, etwas geopfert worden? Im Vorwort wie am Schluß schreibt H. Schulze, dass Europa „keine geographische, sondern eine kulturelle Wirklichkeit“ sei, dass es ein „kollektiver imaginärer Entwurf“ sei. Dem stimmt der Rezensent ausdrücklich zu – aber das wurde in dem vorliegenden Buch nur am Rande nachgewiesen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension