T. Allert u.a. (Hrsg.): Plessner in Wiesbaden

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Titel
Plessner in Wiesbaden.


Herausgeber
Allert, Tilman; Fischer, Joachim
Erschienen
Wiesbaden 2014: Springer VS
Anzahl Seiten
218 S., 38 Abb.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Schürmann, Institut für Pädagogik und Philosophie, Deutsche Sporthochschule Köln

Man kann diesen Sammelband in vierfacher Weise lesen. Zunächst ist er einfach ein Politikum. Es handelt sich um den Begleitband zur Einrichtung eines „Wiesbadener Helmuth Plessner Preises“. Die Etablierung eines solchen Preises, der 2014 erstmals verliehen wurde, hat gute Gründe hinter sich (S. 201ff.), macht sich aber bekanntlich nicht von allein und bedarf der Hebammendienste, zum Beispiel in Gestalt des vorgelegten Bandes. Zum Zweiten liefert das Buch Biographisches zu Plessner (geboren 1892 in Wiesbaden, gestorben 1985 in Göttingen), freilich zum Teil in Form von Wiederabdrucken, gelegentlich auch eher anekdotisch. Wer ernsthaft an der Biographie Plessners interessiert ist, wird eher zu den einschlägigen Monographien von Kersten Schüßler (2000), Christoph Dejung (2003) und vor allem Carola Dietze (2006) greifen (nähere Verweise darauf im Vorwort, S. 10, Anm. 2). Hervorhebenswert ist hier der Beitrag von Jan Glastra van Loon, der jetzt als Originalbeitrag erscheint, aber auf einen Vortrag beim 1. Internationalen Helmuth Plessner Kongress zurückgeht, der im Jahr 2000 in Freiburg stattfand. Dieser Beitrag steht wohl dafür ein, was es heißt, ein guter Lehrer zu sein. Damals, in Plessners Groninger Zeiten, bedeutete das noch etwas anderes, als es der heutige Geist an Universitäten will. Plessner würde heute so gut wie sicher mit fliegenden Fahnen durch alle Lehrevaluationen rauschen. Van Loon meint es zustimmend, keineswegs krittelnd: „Das alles[, was Plessner lehrte,] war mir nicht mit einem Schlag klar. Es kann einem auch nicht in der Weise klar werden. Es wurde auch nicht so präsentiert, als ob das möglich wäre.“ (S. 125)

Die dritte mögliche Lesart des Bandes liegt darin, ihn als Erläuterung, Plausibilisierung, Begründung, Manifestation einer systematischen These zu befragen: „Denker haben ihre Orte“ (S. 9) – so beginnt der Band, und dies ist auch eine der zentralen Begründungsfiguren für den eingerichteten Preis: „Denker brauchen konkrete Denkorte, um ihre hochfliegenden, freischwebenden universellen Theorien zu entwickeln.“ (S. 201) Man weiß nicht ganz genau, wie ernst und wörtlich das zu nehmen ist. Ist es der Hinweis, dass Denker nicht im Nirgendwo leben? Diese Banalität könnte sicherlich an manchen Orten und zu gewissen Zeiten einen ernsthaften und einzuklagenden Gehalt haben, analog zu dem Hinweis, dass Denker keine Gehirne im Tank, sondern leibhaftige Wesen sind. Aber interessant würde es doch erst dort, wo das nicht nur ein Verweis auf eine nötige Realisierungsbedingung ist, sondern eine unhintergehbare Modulation des Denkens behauptet, sei es qua Leiblichkeit, sei es qua Ortsgebundenheit. Was aber könnte das in Bezug auf „konkrete Denkorte“ heißen? Ist hier der Verweis auf „konkrete“ Denkorte nicht von vornherein zu konkretistisch? Man mag erwägenswert finden, ob Denker irgendwo zu Hause sein müssen, um kreativ sein zu können. Aber was soll es heißen, dass sie in konkreten Städten zu Hause sein müssen, um nicht überfliegend zu denken? Kann man etwa nicht unterwegs zu Hause sein? Sind Nomaden prinzipiell ätherische Denker? Ist es per se eine Qualität, nie aus Königsberg rausgekommen zu sein? Hängt es etwa nicht an anderen Konstellationen, ob hartnäckige Sesshaftigkeit ein Glück oder Unglück für die Güte des Denkens wird?

Machen wir die Probe. Joachim Fischer spricht von einer „Kölner Konstellation“ (S. 89ff.). Er meint damit zunächst das werkgeschichtlich ungeheuer bedeutsame, strittige, in Teilen noch immer ungeklärte Aufeinandertreffen von Max Scheler und Helmuth Plessner in Köln, das in Schelers Plagiatsvorwurf an Plessner seinen Höhepunkt fand. Fischer macht aber zugleich darauf aufmerksam, dass solch spannungsvolle Verhältnisse ihre „Vermittlungsversuche“ (S. 90) oder auch „Katalysatoren“ ihrer Entwicklung (S. 91) benötigen. In dieser Rolle tritt nun Nicolai Hartmann in die besagte Kölner Konstellation ein. Der Gewinn einer solchen „Konstellationsforschung“ (mit Verweis auf Dieter Henrich, S. 91, Anm. 5) wird dann im Text reich dokumentiert. Es ist dort mit Händen greifbar, wie wichtig die Texte Hartmanns für Plessners Philosophie waren, und man kann auch herauslesen, wie wichtig Nicolai Hartmann als Person gewesen sein mag. Aber Texte eines Kölners kann man auch im Schwarzwald lesen, und Personen kann man besuchen. Was an dieser Konstellation ist das Eigengewicht des konkreten Denkortes? Ein wenig blitzt es dort auf, wo die Rolle der informellen Kommunikation ins Spiel kommt, also all das, was kommentierend oder gar plaudernd zu Personen und zu Texten gesagt wird, ohne sich in Werken, Sitzungsprotokollen oder Gutachten niederzuschlagen. Die Oralität des Philosophierens ist „vor Ort“ sicher eine andere als von Ort zu Ort. Bei Plessner selbst kann man es lesen: „Das Verdienst, Scheler von der Unsinnigkeit des Plagiatsvorwurfes anhand des Manuskriptes zu überzeugen, gebührt Nicolai Hartmann. Ihm hatte ich das ganze Manuskript vorlesen können. Er kannte es Wort für Wort.“ (Plessner, zit. auf S. 116)

Abgesehen davon, dass Fischer selbst nicht sonderlich auf diese Rolle der Oralität abhebt, und abgesehen davon, dass die Oralität eine bedeutsame Rolle spielt: Inwiefern kann sie eine spezifische Kölner Konstellation begründen? Der von Plessner zitierte Wortlaut stammt aus einem Brief (an Josef König): Ist die Möglichkeit eines persönlichen mündlichen Gesprächs vor Ort die Voraussetzung einer Konstellation, die an einen „konkreten Denkort“ gebunden ist? Und wie steht das im Verhältnis zur Schriftlichkeit eines Briefaustausches mit einem philosophischen Freund, der zudem die Neigung oder Fähigkeit zu exorbitant langen Briefessays als Reaktion auf konkrete Werke besitzt?1 War die Konstellation zwischen dem Kölner Plessner und den beiden Göttingern Georg Misch und Josef König für die Sache der Philosophie Plessners nicht entscheidend viel wichtiger als jene „Kölner Konstellation“? Und selbst dann, wenn man das mit guten Gründen nicht gegeneinander ausspielen will: Was spricht dann noch dafür, dass der „konkrete“ Denkort ausgerechnet derjenige Ort ist, an dem man gerade lebt? Bei Fischer ist die Antwort klar und auch andernorts vielfach dokumentiert2: Die Rede von einer „Kölner Konstellation“ ist keine eigenständige These, sondern ein Vehikel, die Bedeutsamkeit des Gemeinsamen (von Scheler, Plessner, Gehlen u.a.) und des Bestandes der Philosophischen Anthropologie für wichtiger zu nehmen als qualitative Unterschiede innerhalb des gemeinsamen Kerns. Dieses „spannungsvolle Gebilde“ hat sich mittels der Kölner Konstellation „durchgehalten“ (S. 90). Eine stärkere Betonung, und nicht nur additive Reihung (S. 95), der Konstellation mit den Göttingern hätte zwangsläufig die Unvereinbarkeiten mit Scheler und Gehlen pointieren müssen. Deshalb extrapoliert Fischer die Konstellation vor der eigenen Haustür zu einer systematischen These, um die Besonderheit der Rolle der Göttinger für Plessner, nicht aber für Scheler, weiter nicht thematisieren zu müssen.

In der vierten Lesart liefert der Band Material zur immer wieder wichtigen Frage nach dem Zusammenhang von Biographie und Werk: Was weiß man von der Philosophie Plessners, wenn man etwas von seiner Biographie weiß? Nichts, möchte man doch sagen. Dass Würde die zentrale Kategorie seiner Philosophie ist, und dass der Geist großbürgerlichen Fein- und Taktgefühls all sein Philosophieren durchweht, davon kann nur die Lektüre der Texte Plessners überzeugen. Und das bezeugen diese Texte auch dann noch, wenn man nun erfahren hätte, dass Plessner selbst ein kleinbürgerlicher Grobklotz gewesen oder aber in kleingeistiger Enge aufgewachsen wäre. Man kann sich freilich auch dadurch bestätigt fühlen, dass all dem eben nicht so war. So oder so aber sagt es wenig. Ganz sicher besteht kein zufälliger Zusammenhang zwischen dem bürgerlichen Klima des Elternhauses und dem Plessner’schen Loblied auf die Rolle einer taktvollen Öffentlichkeit. Aber es gibt hier eben keine Eineindeutigkeiten. Manche Entwicklungen nahm Plessner zwar unter den Fittichen, aber auch „sehr zum Ärger seines Vaters“ (S. 65). Das war bei Plessner nicht anders als sonst auch – worauf ein Schwerpunktheft der „Philosophischen Rundschau“ über Philosophen-Biographien (Heft 2/2014) unlängst noch einmal eindringlich hingewiesen hat.3

Anmerkungen:
1 Josef König / Helmuth Plessner, Briefwechsel 1923–1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Plessners „Die Einheit der Sinne“, hrsg. von Hans-Ulrich Lessing und Almut Mutzenbecher, Freiburg 1994.
2 Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2008.
3 Inhaltsverzeichnis unter <http://www.ingentaconnect.com/content/mohr/phr/2014/00000061/00000002> (04.03.2015).