Was hat das Semesterticket mit Friedrich Barbarossa zu tun? Wenn man Hartmut Boockmann folgen will, einiges. Denn als der Kaiser im Jahre 1155 die Bologneser Rechtsstudenten mit Rechten und Freiheiten ausstattete, garantierte er ihnen unter anderem die sichere An- und Abreise zum bzw. vom Studienort. Die heutzutage an einigen Universitätsorten gewährte Möglichkeit, durch die Immatrikulation das Anrecht auf eine verbilligte Benutzung der örtlichen Verkehrsmittel zu erwerben, stelle insofern nichts anderes dar als einen Restbestandteil der akademischen Freiheit im mittelalterlichen Sinne.
In seinem unnachahmlichen, anekdotenhaften Erzählstil führt der 1998 verstorbene Göttinger Historiker Hartmut Boockmann den Leser in elf Kapiteln durch die Geschichte der europäisch-mittelalterlichen "Erfindung" schlechthin: der Universität, und zwar vorwiegend am Beispiel der deutschen Universitäten. Er beginnt vor ihrer Entstehung, bei der literarischen Bildung an Kloster- und Domschulen, und geht in vier Schritten von den Anfängen der Universitäten in Paris und Bologna im 12. Jahrhundert über die Stiftung der ersten Universität auf mittelalterlichem Reichsgebiet in Prag (1348) zunächst bis zu den Gründungen des späteren 14. und des 15. Jahrhunderts vor. 16 deutsche Universitätsgründungen gab es bis 1502 (Wittenberg), so viele wie erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wieder. Ein Kapitel lang wird verharrt, um Studium, Studenten und Professoren um 1500 zu beleuchten, bevor es über das Zeitalter von Reformation und Humanismus weitergeht zur Betrachtung der drei Reformgründungen in Halle (1694), Göttingen (1734/37) und Berlin (1810). Den Universitäten im 19. Jahrhundert ist ein ganzes Kapitel gewidmet, ebenso eines der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Zweiten, ein weiteres den Universitäten in der SBZ/DDR und das letzte denen in den Westzonen und in der alten Bundesrepublik.
In diesen chronologischen Durchlauf ist ein thematischer Zugriff integriert, der zumindest bis zum neunten Kapitel durchgehalten wird. Gründungssituation, Verfassung, wirtschaftliche Ausstattung, Studentenzahlen, Studienprogramm, Reformbemühungen sind die in jeder Epoche wieder behandelten Gegenstände. Damit verfolgt Boockmann jedoch keineswegs einen vergleichenden Ansatz. Für ihn steht bereits von Beginn an fest, dass in Deutschland bis 1967 die Universität in ihrer urprünglichen Gestalt bestanden habe, wie sie um 1200 "erfunden" worden sei, während sich die heutige Universität von der des Jahres 1967 erheblich unterscheide. Gleichwohl stelle die Geschichte jeder einzelnen Universität ein Kontinuum dar wie auch der Typus insgesamt (S. 4).
Die Ergebnisse der neueren sozialgeschichtlichen Forschung zur Universitätsgeschichte bezieht Boockmann nur an den Problempunkten ein, für die eine erläuternde Beschreibung nicht mehr ausreicht, also vor allem zur Erklärung der Gründungssituationen sowie der Anzahl und der Lebensumstände von Universitätsbesuchern. Zahlreiche Fragen werden zwar aufgeworfen, aber nicht hinreichend beantwortet. So wird als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der "modernen" neuzeitlichen Universität gegenüber der im Mittelalter begründeten das fehlende eigene Vermögen benannt. Die neuzeitlichen Universitäten wurden und werden aus der Staatskasse alimentiert. Doch verfügten beispielsweise auch Wien (1366/84) und Heidelberg (1386) im Mittelalter lediglich über kirchliche Pfründen und Einkünfte aus landesherrlichen Zolleinnahmen, so dass Kirche und Fürst jederzeit auf diesem Wege Druck ausüben konnten. Der Unterschied zu den späteren Gründungen liegt wahrscheinlich darin, dass diese Güter größtenteils Stiftungsdotationen darstellten und so einem gewissen rechtlichen Schutz unterlagen. Bekanntlich waren die deutschen Universitäten des Mittelalters sämtlich Stiftungen. Hier hätte man also fragen können, ob diese Konstruktion bei den neuzeitlichen auch noch eine Rolle gespielt hat. Im beigegebenen, Bibliographie genannten Literaturverzeichnis vermisst man denn auch einige Titel, die bis 1998 bereits erschienen waren. Es wurde zwar teilweise aktualisiert, birgt aber Fehler und Inhomogenitäten.1
Das Schwergewicht der Darstellung liegt - verständlich bei einem Mediävisten - auf dem Mittelalter. Umso beachtlicher erscheint der weite Ausgriff bis in die Jetztzeit, wobei Boockmann für die Zeit seit den fünfziger Jahren auch auf eigene Beobachtungen zurückgreift. Aus seinen persönlichen Erfahrungen heraus erklärt sich vermutlich auch seine kritische Haltung zu den Studentenprotesten Ende der sechziger Jahre. 1968 und seine Folgen sind ein, wenn nicht gar der Angelpunkt des Werkes. Indem Boockmann den Blick immer wieder auf das Detail oder die einzelne Person lenkt, erläutert er wie beiläufig das Allgemeine, fragt nach echten oder nur scheinbaren Kontinuitäten im Universitätsbetrieb und spürt lustvoll und scharfzüngig dessen Paradoxien auf. Die häufig bemühte akademische Freiheit etwa, die man heute versteht als die Möglichkeit, ohne staatlichen Eingriff zu forschen, zu lehren und zu lernen, hat zwar eine wörtliche Entsprechung in der "libertas scholastica", von der schon an den mittelalterlichen Universitäten die Rede ist. Es besteht jedoch insofern eine Diskrepanz im Bedeutungsgehalt der beiden Begriffe, als die mittelalterliche Version für akademische Privilegien, also Sonderrechte, stand. Dazu gehörten z.B. das Recht, sich zusammenzuschließen und sich eigene rechtliche Normen zu geben, sowie eine eigene, universitäre Gerichtsbarkeit. Das ist noch keine neue Erkenntnis. Originell und typisch für Boockmann ist aber folgende Weiterung: Wenn demnach bei den Studentenprotesten seit 1967 immer wieder "Keine Polizei auf dem Campus" gefordert wurde, so mahnten die Demonstranten hiermit bewusst oder unbewusst eine Rückkehr zur akademischen Freiheit im ursprünglichen Sinne an, also zu mittelalterlichen Zuständen. Der pointierte Seitenhieb ist beabsichtigt. Merkliches Vergnügen bereitet ihm die Feststellung des Widerspruchs, dass es in derselben Zeit ausgerechnet an der Freien Universität in Berlin, dieser Gegengründung (1948) zur nunmehr kommunistisch dominierten Friedrich-Wilhelms- ab 1949 Humboldt-Universität, zur Wiederbelebung marxistischer Wissenschaft kam (S. 261).
Der äußerst sparsame Anmerkungsapparat signalisiert die Ausrichtung auf ein breiteres Publikum. Allerdings dürfte auch der Eingeweihte mit Genuß fündig werden. Denn wenngleich nicht alles neu ist, was da ausgebreitet wird, und es wohl eben auch nicht immer sein soll, so bewirkt die Boockmannsche Art zu fragen und dabei die Dinge hin und her zu wenden immer wieder, dass altbekannt Geglaubtes plötzlich in einem anderen Licht erscheint. "Studium generale" etwa heißt heute, dass Biologiestudenten auch einmal eine Philosophievorlesung hören sollen oder Medizinstudenten eine juristische. In der Frühzeit der Universitäten diente der Begriff hingegen zur Unterscheidung vom "studium particulare" und bedeutete, dass die an einem "studium generale" verliehenen Grade überall galten und die dort erworbene Lehrerlaubnis ebenso überall in Anspruch genommen werden konnte.
Doch Boockmann will nicht nur verblüffen. Unter Ausnutzung dieses Effektes sieht er die "Hauptaufgabe des Historikers" darin, "die Andersartigkeit vergangener Gegebenheiten und ihre Ähnlichkeit mit dem, was wir heute haben, in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen und damit eine Orientierung zu ermöglichen, ohne die rationales Handeln nicht gelingen wird". Dass hierfür dringend Bedarf bestehe, zeigten die "Resultate irrationalen - legislatorischen, administrativen, professoralen und studentischen - Handelns" in den heutigen Universitäten (S. 28). - Harte Worte! Tradition als Argument gegen Missstände und blinden Erneuerungsaktionismus? Der in Marienburg (heute Malbork/Polen) geborene Boockmann fand in der Universität so etwas wie eine zweite Heimat. Man spürt seine wohlwollende Verbundenheit mit dieser Institution in jedem Absatz des Buches. Jede Veränderung derselben, die ihm auch nur im entferntesten machtpolitisch bestimmt, bürokratisch oder ideologieverdächtig erscheint, bedenkt er mit beißend ironischer Kritik, die in den letzten beiden Kapiteln die sachlichen Aussagen zu überdecken droht.
Hartmut Boockmann konnte das Buch nicht mehr vollenden, es erschien postum. Zumindest die ersten sieben Kapitel basieren wohl auf den Skripten für eine Vorlesung, die er während seiner Zeit an der Berliner Humboldt-Universität zuletzt im Sommersemester 1994 unter dem Titel "Einführung in die ältere Universitätsgeschichte" gehalten hat. Ein Titel, den man unter Weglassung des Adjektivs getrost auf das gesamte Werk hätte ausdehnen können, doch das hätte wohl zu akademisch und damit wohl nicht publikumswirksam genug geklungen. Nicht nur in diesem Fall wüsste man gern, was wirklich von Boockmann selbst stammt und was von Seiten des Verlages hinzugetan oder abgeändert wurde. Dies ist nicht die "typisch mediävistische" Forderung nach einer textkritischen Edition, sondern im Zeitalter der kritischen Werkausgaben eine Frage des Autorenschutzes. Gerade wenn man sich wie Wolf Jobst Siedler in seinem Nachwort fragt, ob der Autor das Manuskript zu Lebzeiten so aus der Hand gegeben hätte, und den Eindruck hat, dass Boockmann an einigen Stellen "noch einmal Hand angelegt hätte", scheint dies angezeigt. So erschlösse sich z.B., wem denn nun der teils kryptische teils nicht ganz zutreffende Buchtitel oder die etwas holprige Überschrift des ersten Kapitels anzulasten sind. "Die" eine deutsche Universität, wenigstens das zeigt das Buch ganz deutlich, ist eine unzulässige Abstraktion. Denn dann hätte man in einer alle und brauchte sich nicht der Mühe zu unterziehen, jede einzeln und mit anderen vergleichend zu betrachten. Und gewiß hätte Boockmann auch die Tatsache nicht unkommentiert gelassen, dass das Kolleg des Henricus d'Allemania (um 1380) von Laurentius de Voltolina auf dem Umschlag - wahrscheinlich aus nicht nachvollziehbaren ästhetischen Gründen - seitenverkehrt abgebildet wurde.
So bleibt am Ende der Lektüre ein zwiespältiges Gefühl: Hohe Erzählkunst auf der einen, fehlende weitere Forschungsmeinungen und sehr persönliche Sichtweisen auf der anderen, aber diese Spannung muss man als Teil der im Dienst der freien Wissenschaft stehenden Einrichtung Universität wohl aushalten. Soll man das Buch Studenten als Einführung empfehlen? Sicherlich nicht ohne ihm weitere ergänzend zur Seite zu stellen. Aufgrund des annehmbaren Preises und der zahlreichen gut ausgewählten Abbildungen, auf die im Text auch Bezug genommen wird, wird es seinen Weg ohnehin in das studentische Bücherregal finden.
Anmerkung:
1 So z.B. Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. (Zeitschr. f. Hist. Forsch., Beih. 18.) Berlin 1996; und zur Geschichte der Universität Prag im Mittelalter gibt es über die zwei angeführten Aufsätze von Peter Moraw hinaus von diesem selbst Weiteres und Umfangreicheres sowie eine neue Darstellung von tschechischer Seite: Michal Svatos (Red.): Dejiny univerzity Karlovy. Bd. 1: 1347/48-1622. Prag 1995.