Titel
Stad i rörelse. Stadsomvandlingen och striderna om Haga och Christiania


Autor(en)
Thörn, Håkan
Erschienen
Stockholm 2013: Atlas akademi
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
186 SEK
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Kuchenbuch, Institut für Geschichte, Universität Gießen

Håkan Thörn zeigt in seiner dichten Analyse von Stadtumwandlungsprozessen im Göteborger Sanierungsgebiet Haga und in der „Freistadt Christiania“ in Kopenhagen, wie sich Stadtbewohner mehr oder weniger erfolgreich Regulierungsversuchen von Behörden, Staat und Investoren widersetzt haben. Göteborger Aktivist/innen stoppten Mitte der 1970er-Jahre das Vorhaben von Stadtplanungsamt und kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, den Arbeiterstadtteil Haga durch Totalabriss zu „sanieren“. Die Bewohner Christianias wehren sich bis heute gegen Versuche, die Freistadt, die sich auf Basis von Einheitsbeschlüssen selbst regiert und sogar eine eigene Verfassung gegeben hat – sie legalisierte unter anderem den Verkauf weicher Drogen –, gänzlich zu „normalisieren“. Und das, obwohl diese Normalisierung von der rechtsliberalen Venstre-Regierung Anders Fogh Rasmussens ab 2004 geradezu obsessiv angestrebt wurde. Thörn schreibt aber keine Whig-History „von unten“. Er will zeigen, wie stark sich stadtpolitische Regulierungsversuche verändert haben. Von der geradezu disziplinären Absicht der Zwischenkriegszeit, hygienisch für bedenklich befundene Stadtteile ganz zu ersetzen, führt ein langer Weg zur (neo)liberalen Rekonstruktions- und „Aufwertungs“-Praxis der 1990er-Jahre, deren Befürworter manches Argument der Bewahrungsinitiativen aufgriffen.

Unter Einbeziehung verschiedener Quellentypen – Interviews, Expertengutachten, Poster, Flugblätter und Parlamentsprotokolle – zeichnet Thörn gerade für die Geschichte Hagas eine komplexe Auseinandersetzung nach. Wieder und wieder veränderten sich die Fronten und Allianzen zwischen Bürgerinitiativen, Denkmalschützern, Wohnungsbaugesellschaften, Stadtregierung und Parteien, bis 1975 wie ein Deus ex Machina die staatliche Denkmalschutzbehörde (Riksantikvarieämbetet) die verbliebenen Bauten des Viertels unter Schutz stellte und zur ihrer Reparatur viel Geld fließen ließ. Haga stand zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrzehnten im Zentrum der Stadterneuerungsdebatte. Der radikalfunktionalistische Stadtplaner Uno Åhrén und der aufstrebende Nationalökonom Gunnar Myrdal (zwei Personen, die als typische Vertreter des schwedischen social engineering zu betrachten sind1) hatten bereits 1933 in einer für die staatliche Wohnungspolitik richtungweisenden statistischen Studie die Flächensanierung des Stadtteils angeregt, übrigens nicht ohne Hinweise auf die sexuelle Devianz seiner Bewohner. Heute blicken Aktivisten der „Haga-Gruppe“, die um den Erhalt der Bauten gekämpft hatte, mit gemischten Gefühlen zurück auf ihren eigenen Beitrag zur Bewahrung des Viertels, das einmal als Slum voller Obdachloser und Alkoholiker verschrien, aber bei Künstlern und Studenten sehr beliebt war. Zwar sind die Mieten in Haga nicht unbezahlbar, aber es sind nur wenige Altbewohner in dem Viertel geblieben, das Reiseführer mittlerweile wegen seiner „Cosyness“ und einzigartigen Shoppingerlebnisse preisen. Tatsächlich führt Thörn das Unbehagen darauf zurück, dass gerade den „Bewegungsintellektuellen“ unter den Abrissgegnern der 1970er-Jahre (die nicht selten Verbindungen zur Architekturfakultät der Göteborger Technischen Hochschule aufwiesen) zwar die Gefahr bewusst war, dass Mietpreissteigerungen infolge von Renovierungen des Altbaubestands zur Verdrängung der einkommensschwachen Bevölkerung Hagas führen könnten. Sie hatten aber Mitte der 1970er-Jahre im sozialdemokratisch dominierten Stadtparlament vor allem mit der Argumentation Gehör gefunden, es gelte, mit den hölzernen „Landshövdingehus“ der Jahrhundertwende, für die Haga bekannt war, auch ein Zeugnis der lokalen Arbeiterkultur zu bewahren.

Die Zukunft Christianias ist zwar weiterhin ungesichert, wie eigentlich seit Beginn der Besetzung des ehemaligen Militärgeländes am Rande der Kopenhagener Innenstadt 1971. Die Sympathien großer Teile der Stadtbevölkerung sind aber heute aufseiten Christianias, das mittlerweile eine der touristischen Hauptattraktionen der Hauptstadt Dänemarks ist. Unter Hinweis auf ihre Bedeutung als Teil des dänischen Kulturerbes konnten die „Christianiter“ sogar das Argument entkräften, die Freistadt gehöre angesichts des Denkmalcharakters ihrer gründerzeitlichen Armeebaracken aufgelöst. Gerade mit Blick auf diese räumlichen Voraussetzungen hinkt allerdings Thörns (zugegeben: impliziter) Vergleich. Trotz der Parallelität ihrer „territorialen Stigmatisierung“ als Orte voller Drogenkonsum und sexueller „Gefährdungen“ unterscheiden sich die Fälle Haga und Christiania stark. In Göteborg ging es Anfang der 1970er-Jahre um Mieterproteste in einem bewohnten Quartier, das seit mehr als einem Jahrzehnt auf seinen Abriss wartete. Dem stand in Kopenhagen ein verlassenes Gelände gegenüber, für das bei seiner Okkupation keinerlei Nutzungskonzepte vorlagen. Überdies handelte es sich bei den ersten Christianitern um mit allen Wassern der Spaßguerilla gewaschene Medienprofis. Die Besetzer Christianias zeichneten sich von Beginn an durch starke Geschlossenheit im Umgang mit Medien und Politik aus. Sie legten aber auch eine große Bereitschaft zur Kooperation mit den Sozialbehörden, etwa beim Umgang mit Suchtkranken, an den Tag. Gerade letzteres erklärt, warum die Freistadt 1972 offiziell als Sozialexperiment auf Zeit anerkannt wurde, obwohl sie regelrecht die staatliche Souveränität herausforderte. In Göteborg stand dem eine höchst heterogene Akteurs- und Interessenkonstellation gegenüber. Insbesondere eine jüngere, „bildungsfernere“ Kohorte von Haga-Bewohnern, die in den 1980er-Jahren auch einzelne Gebäude besetzte, hatte wenig gemein mit den Bewahrungsaktivisten des vorangegangen Jahrzehnts.

Insgesamt dürfte Haga repräsentativer sein für Auseinandersetzungen um die Innenstädte im Wandel. Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, dass Thörn dem Göteborger Viertel in seinem Buch weit größeren Platz einräumt als seinem dänischen Gegenstück, über dessen Alltagsgeschichte man beispielsweise fast nichts erfährt. Thörn ist Professor für Soziologie in Göteborg; es geht es ihm eher um eine Präzisierung sozialwissenschaftlicher Stadtentwicklungstheorien als um eine lückenlose historische Darstellung. Leider nimmt das oft die Form allzu ausführlicher, überdidaktischer Erörterungen entsprechender Überlegungen von Denkern wie Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu oder Ruth Glass an. Insgesamt argumentiert Thörn dann aber doch plausibel, dass es gilt, differenzierte Blicke gerade auf die liberale Stadtpolitik der letzten Jahrzehnte zu werfen. Die Venstre etwa führte durchaus die Freiheit und Selbstbestimmung der Kopenhagener im Munde, wozu für sie aber auch ein Recht auf Eigentum gehörte, das in Christiania ausgehebelt schien. Vor allem aber setzte sie „Sicherheit“ im öffentlichen Raum vergleichsweise repressiv durch. In Schweden hingegen lässt sich eine gewisse Kontinuität des skandinavischen Konsensmodells beobachten, das solche Zuspitzungen verhinderte, nicht zuletzt durch eine Tendenz zur Absorption des Gegners. Es gehört zu den Stärken seines Buchs, dass Thörn bis in die Biografien einzelner Akteure verfolgt, wie diese zunächst als Gegenexperten antraten (etwa, indem sie Sanierungsbefürworter mit selbst angefertigten Statistiken zur Bewohnerzufriedenheit in Haga entwaffneten) um dann zu Denkmalschutzbeauftragten zu werden. Allerdings, so Thörn, hat die vergangenes Jahr abgewählte bürgerliche Regierung den Gemeinnützigkeitskonsens im schwedischen kommunalen Wohnungsbau aufgekündigt. Und so ist es für ihn nicht ohne bittere Ironie, dass die Sozialingenieure der 1930er-Jahre immerhin so hellsichtig waren, Verdrängungsprozesse infolge von Sanierungen durch wohnungspolitische Instrumente abzufedern – dass also ein essentieller Bestandteil des schwedischen Wohlfahrtsmodells mit der Abrissideologie in direktem Zusammenhang stand.

Gerade, wo es um diese nationalgeschichtlichen Aspekte der Stadterneuerung geht, hätte man sich mehr Blicke über den skandinavischen Tellerrand auf die – auch in wirtschaftlichem Sinne – transnationale Dimension der globalen „Urban Renaissance“ seit den 1980er-Jahren gewünscht.2 Gleiches gilt für die kaum berührte Frage, welche Rolle das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 in Skandinavien spielte oder die vielbeachtete „Behutsame Stadterneuerung“ der Internationalen Bauausstellung in Berlin 1987. Auch ästhetische Aspekte scheinen etwas unterbelichtet; Thörn fragt nicht, seit wann die Bauweise des 19. Jahrhunderts wieder für schön befunden wurde. Schließlich fragt man sich, warum er die vielen Fotografien, die im Buch reproduziert sind, nicht analytisch einbettet. Thörn stellt Fotos der peinlich sauberen, menschenleeren Straßen im Haga der Gegenwart Bildern des modrigen, aber offenbar vom städtischen Leben durchpulsten Viertels der 1960er- und 70er-Jahre gegenüber. Das wirkt wie ein normativer Subplot zur sonst eher ausgewogen Argumentation Thörns, der allerdings, das ist seine Schlusspointe, während der Arbeit an seinem Buch selbst von der „Aufwertung“ seiner Wohnung betroffen war. Insgesamt betrachtet wünscht man Thörn eine englische Ausgabe seines Buchs. Gerade der Fall „Haga“ scheint geeignet, die politische Debatte um Treibende und Getriebene der Gentrifizierung zu differenzieren, die angesichts steigernder Mieten auch in deutschen Städten immer mehr an Fahrt gewinnt. Manche langatmige Erörterung von Bourdieu bis Biopolitik könnte dann zugunsten einer stärkeren Einbeziehung internationaler Vergleiche gestrafft werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal — Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2010; David Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010.
2 Siehe beispielsweise Sebastian Haumann, „Schade, daß Beton nicht brennt …“. Planung, Partizipation und Protest in Philadelphia und Köln 1940–1990, Stuttgart 2011.

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