F.-W. Kersting u.a. (Hrsg.): Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven


Herausgeber
Kersting, Franz-Werner; Zimmermann, Clemens
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 77
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
330 S., mit SW-Abb.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralph Richter, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, Erkner

Für Karl Marx und Friedrich Engels war die Trennung von Stadt und Land der deutlichste Ausdruck kapitalistischer Arbeitsteilung. Beides galt es zu überwinden.1 Das Diktum der Angleichung von Stadt und Land bildete fortan die Folie für Modernisierungstheorien, denen zufolge sich gesellschaftlicher Fortschritt an der Nivellierung des Unterschiedes zwischen beiden Teilräumen ablesen ließ. Als eine späte Folge herrscht insbesondere in der Stadtsoziologie und der Kulturgeographie die Überzeugung, dass sich durch die ubiquitäre Ausbreitung urbaner Lebensstile das Land immer mehr der Stadt angleiche. Die Begriffe Stadt, Land und Suburbia sind obsolet geworden, so fasste Peter Dirksmeier 2009 den Common Sense in der Stadtforschung zusammen.2

Damit ist in groben Strichen die Situation beschrieben, in der sich die Historiker Franz-Werner Kersting und Clemens Zimmermann mit ihrem Sammelband „Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert“ zu Wort melden. Im Unterschied zum (vermeintlichen) Common Sense können Kersting und Zimmermann jedoch – und hieraus bezieht der Band eine zentrale Motivation – für das 20. Jahrhundert keine Nivellierung zwischen Stadt und Land erkennen. Schon die Unterschiede in Siedlungstypik und sozialen Milieus, in der Ausstattung mit hochklassigen Arbeitsplätzen und Kulturangeboten machten Differenzen zwischen Stadt und Land evident (S. 20). Das Land stehe zwar in einem hierarchischen Verhältnis zur Stadt (S. 16), sei aber angesichts seiner Bedeutung für die Nahrungsmittelproduktion, für die Energiegewinnung, für die Bereitstellung von Bauland, für Erholung und Freizeit sowie mit seinem alternativen Versprechen eines besseren Lebens keinesfalls eine bloße Restkategorie (S. 21). Vor dem Hintergrund von Suburbanisierung, Automobilisierung und Deagrarisierung mögen die Grenzen zwischen Stadt und Land undeutlicher werden. Angereichert um neue Bedeutungen und Funktionen, bleibe das Stadt-Land-Verhältnis als eine gesellschaftliche Leitdifferenz jedoch für das gesamte 20. Jahrhundert relevant (S. 15). Die Stadt-Land-Beziehung könne daher, so formulieren Kersting und Zimmermann das Ziel des Bandes, „für eine allgemeine epochentypische Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts fruchtbar“ gemacht werden (S. 11). Sie wählen dafür einen wechselseitigen Zugriff, der die subjektiven Erfahrungen der Menschen in ihrer Zeit und in ihren Lebensräumen berücksichtigen soll (S. 11f.).

Der Band enthält 13 Beiträge, die auf eine Konferenz des Forschungsverbundes „Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert“ vom Oktober 2012 zurückgehen. Er liefert zugleich Ergebnisse der mehrjährigen Forschungen, die vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster zusammen mit dem Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes unter Leitung der beiden Herausgeber vorangetrieben wurden. Die Beiträge sind fünf Themenfeldern zugeordnet. Auf die Einleitung folgen wissenschaftsgeschichtliche und programmatische Texte, ein Beitrag zu den Folgen kommunaler Gebietsreformen, Texte zum kulturellen Wandel und zu sozialen Bewegungen in Stadt und Land, Aufsätze über visuelle Repräsentationen sowie schließlich Beiträge, die das Stadt-Land-Verhältnis international einordnen sollen.

Der Band bietet vielfältige konzeptionelle und empirische Zugänge, ohne dass Fokus und Anliegen dabei undeutlich würden. Indes gibt es gewisse inhaltliche Einseitigkeiten. Statt des beabsichtigten reziproken, von der Stadt aufs Land und vom Land auf die Stadt gerichteten analytischen Zugriffs dominiert in den meisten Beiträgen die Landperspektive. Die Stadt wird stellenweise zur Restkategorie des Landes, was zweifellos auch seinen Reiz hat. Die Autorinnen und Autoren kommen ausschließlich aus dem deutschsprachigen Raum und legen den Schwerpunkt auf Deutschland (mit Seitenblicken auf die Niederlande, Österreich, Irland und die Schweiz). Selbst wenn das Verhältnis von Stadt und Land namentlich in der angloamerikanischen Forschung kein zentraler Untersuchungsgegenstand ist, so hätte die stärkere Einbeziehung internationaler Wissenschaftler/innen den gewonnenen Einsichten doch breitere Gültigkeit verschafft – oder diese eben relativiert.

Durch fast alle Beiträge zieht sich die Erkenntnis, dass sich Stadt und Land zwar weiter signifikant unterscheiden, aber nicht mehr als Dualismen zu denken sind. Vielmehr entsprächen sie den Polen eines Kontinuums, in dem sich Mischverhältnisse und hybride Ausprägungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts gemehrt hätten. Besonders plastisch wird das in Clemens Zimmermanns Beitrag über „Suburbanisierung“. Das Lebensmodell des Wohnens im Eigenheim jenseits der städtischen und dörflichen Siedlungskerne sei gleichermaßen charakterisiert durch urbane wie rurale Werthaltungen und Praktiken (Pflege von Individualität, transitorisches Verhältnis zum Wohnort, Orientierung an städtischen Trends einerseits; Automobilität, Wohneigentum, Garten andererseits; S. 66ff.). Als ein Megatrend der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwische die Suburbanisierung die Grenzen zwischen Stadt und Land (S. 68).

Hans-Walter Schmuhl zeigt in seinem Beitrag über Eingemeindungen ländlicher Vororte in die Stadt Bielefeld, dass auch die Gebietsreformen der 1970er-Jahre ihren Anteil an der Verflüssigung von Stadt-Land-Grenzen hatten. Die Ausweitung der Stadtgrenzen habe die vormaligen Landbewohner/innen keinesfalls zu Städter/innen gemacht. Die doppelte Orientierung ins Umland wie zum Stadtkern sei Kennzeichen einer hybriden Sonderidentität, in der sich der „Blick auf die Stadt vom Land her und [der] Blick auf das Land von der Stadt her übereinander blendet“ (S. 108).

Wie sehr sich im Zuge der Medialisierung und des Aufstiegs der Jugendkulturen im 20. Jahrhundert Stadt-Land-Beziehungen intensivierten und wie dennoch distinkte Aneignungsformen fortbestehen, zeigt Gunter Mahlerwein in seinem anregenden Beitrag über den Wandel musikalischer Praxis in Dörfern. Neben der Übernahme allgemeiner (jugend)musikalischer Trends (etwa der Beatmusik) erkennt der Autor weiterhin „gravierende Unterschiede zwischen städtischem und ländlichem Musikleben“ (S. 135), was er an der landspezifischen Rezeption von Rock-, Blues- und Folkmusik sowie am Fortbestehen des Musikvereinslebens in Dörfern festmacht. Gehe es in der städtischen Jugendmusikkultur primär um die Distinktion gegenüber der Elterngeneration und anderen Gruppen, diene die musikalische Praxis auf dem Land nach wie vor auch der generationenübergreifenden sozialen Integration (S. 134).

Jenseits dieser durch Praktiken und Materialisierungen produzierten und stabilisierten Stadt-Land-Beziehungen bildet die Analyse des Konstruktionscharakters der Stadt-Land-Differenz eine zweite Zugriffsweise auf den Gegenstand. Dass wir es nicht mit einer substanzialistischen Unterscheidung zu tun haben, macht etwa Benno Gammerl am Beispiel des Bedeutungswandels von Stadt und Land für die Emanzipation homosexueller Lebensweisen deutlich. Während homophile Zeitschriften der frühen Bundesrepublik das Land durchaus als einen Raum schwuler, später auch lesbischer Selbstverwirklichung charakterisierten, änderte sich das medial vermittelte Bild in den 1970er- und 1980er-Jahren. Das Land stand fortan eher für Unfreiheit und Ausgrenzung, während die Stadt medial wie praktisch zunehmend als Ort der Emanzipation in Erscheinung trat (S. 159–164).

Überhaupt zählt zu den interessanten Einsichten des Bandes, dass sich die Stadt-Land-Unterscheidung nicht aus sich selbst heraus erklärt. „Country and city are very powerful words“, so zitieren Ernst Langthaler und Ulrich Schwarz in ihrem Beitrag Raymond Williams, um zu ergänzen, dass sich beide Begriffe erst im Kontext weiterer Kategorienzuschreibungen wie männlich – weiblich, Natur – Kultur oder Heimatverbundenheit – Wurzellosigkeit erklärten (S. 261). Langthaler und Schwarz zeigen die intersektionale Bedeutung der Differenz eindrucksvoll an den Geschlechterzuschreibungen in österreichischen Landzeitschriften der 1950er-Jahre. Reproduktive Arbeit in den Bereichen Fortpflanzung und Ernährung wird dort sowohl der Bäuerin als auch dem Land zugeschrieben. Die Begriffspaare Stadt – Land und männlich – weiblich erscheinen als sich gegenseitig sowie die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes stabilisierende Kontraste (S. 261), wie auch Julia Paulus in ihrem Aufsatz über die Bedeutung von Stadt und Land für die Emanzipationsbewegung von Frauen in den 1970er- und 1980er-Jahren unterstreicht (S. 139–142).

Insgesamt liegt mit dem Band ein inspirierendes und schlüssiges Werk vor, das einen wichtigen Beitrag zum Überdenken der vielfach behaupteten Nivellierung von Stadt und Land liefert. Annahmen über lineare Urbanisierungsprozesse sowie die einseitige Fokussierung auf Agrarwirtschaft und Industrie haben Vorstellungen einer vollständigen Entdifferenzierung verstärkt, die im Lichte sich wandelnder Bedeutungen und Funktionen, wie sie der Sammelband präsentiert, kaum haltbar sind. Das Stadt-Land-Verhältnis erweist sich darüber hinaus als eine aufschlussreiche Kategorie für die historische und vergleichende Gesellschaftsanalyse. In zukünftigen Arbeiten könnte die Differenz noch stärker als „wechselseitige Ressource der kulturellen Selbstdefinierung“ (Kersting, S. 42) wie auch als Zentrum-Peripherie-Konstellation in ihrer je spezifischen Funktion für Gesellschaften untersucht werden.3 Für die disziplinäre Beschäftigung mit Stadt und Land bleibt die – nicht neue – Erkenntnis, dass dualistische Unterscheidungen in Stadt- und Agrargeschichte oder Stadt- und Landsoziologie überholt sind.

Anmerkungen:
1 Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie [1845/46], in: dies., Werke, Bd. 3, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1969, S. 5–530, hier S. 50.
2 Peter Dirksmeier, Urbanität als Habitus. Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land, Bielefeld 2009, S. 11.
3 Vgl. Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“ (Hrsg.), Mythos Mitte. Wirkmächtigkeit, Potenziale und Grenzen der Unterscheidung „Zentrum / Peripherie“, Wiesbaden 2011.