Die vorzustellende Studie wurde im Frühjahr 2014 von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als volkskundliche Dissertation angenommen. Sie verfolgt das Ziel, Entstehungszusammenhänge, Wahrnehmungen, Deutungen und Funktionszuschreibungen der Heimatsammlungen der deutschen Vertriebenen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu analysieren. Unter Heimatsammlungen versteht die Autorin Cornelia Eisler „Räume des Gedenkens, der Vergegenwärtigung vergangener Geschehnisse und der Selbstdarstellung spezifischer Erinnerungsgemeinschaften“ (S. 11). Im Kern geht es um das, was landläufig unter dem Schlagwort „ostdeutsche Heimatstuben“ bekannt ist oder vielmehr war. Wie Eisler zu Recht betont, ist dieses Medium der Erinnerungskultur der Vertriebenen im Bewusstsein der Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Und auch bei den organisierten Vertriebenen selbst haftete dem Begriff offenbar zunehmend etwas Verstaubtes an, sprach doch Erika Steinbach, die damalige Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), 1998 davon, diejenigen irrten, die glaubten, die Vertriebenen „taugten nur noch als Dekorationsstücke in Heimatstuben“ (S. 562).
Im Zeitraum von 1946 bis 2010 entstanden nach den Recherchen der Autorin mehr als 590 Heimatsammlungen, von denen über 400 noch bestehen – vorwiegend in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Zahl dieser Sammlungen in gewisser Weise phasenverschoben zur Entwicklung der Vertriebenenverbände wuchs. Zwar bilden die 1950er- und 1960er-Jahre, wie Eisler zeigen kann, einen ersten Gipfel (vgl. die entsprechende Grafik auf S. 100), weil der BdV bzw. dessen Vorläuferorganisationen und deren Mitgliedsverbände in dieser Zeit auf dem Zenit ihres politischen und gesellschaftlichen Einflusses standen. Doch wurde der quantitative Höhepunkt der Heimatsammlungen erst in den 1980er-Jahren erreicht, als jene Verbände bereits deutlich an Bedeutung eingebüßt hatten, ihre Kulturarbeit vor dem Hintergrund des Bonner Regierungswechsels von 1982/83 aber noch einmal eine Nachblüte erlebte. Sogar nach 1990 kam es zur Gründung weiterer Heimatsammlungen – nicht zuletzt als Folge der Wiedervereinigung, die den Neuaufbau von Verbandsstrukturen des BdV in den neuen Bundesländern und, unterstützt durch öffentliche Mittel, den Aufbau einer spezifischen Kulturarbeit dort ermöglichte.
Bei Eislers Dissertation handelt es sich zweifellos um eine Pionierstudie, war der bisherige Forschungsstand, wie die Autorin eingehend darlegt, doch sehr überschaubar. Angesichts der Fülle des vorliegenden Archivmaterials musste Eisler allerdings Schwerpunkte setzten: Sie konzentrierte sich deshalb vor allem auf die einschlägigen Bestände des Bundesarchivs und der Staatsarchive derjenigen Länder, die in besonderer Weise von der Aufnahme der Vertriebenen betroffen waren (das heißt Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein). So gelingt es ihr, die bundes- und landespolitischen Rahmenbedingungen ihres Themas gut herauszuarbeiten. Für die konkreten kommunalpolitischen Aspekte hat sie dagegen Fallbeispiele analysiert: die Patenschaft Memel und die Memelsammlung in Mannheim, die Patenschaften Brüx und Komotau und die Brüxer Heimatstuben in Erlangen sowie die Patenschaft und Heimatsammlung Leobschütz in Oldenburg. Bereits diese drei Beispiele verdeutlichen den engen Zusammenhang von Heimatsammlungen und Patenschaften zwischen Kommunen und lokalen Vertriebenenorganisationen, ein bisher ebenfalls nur wenig untersuchtes Feld der Vertriebenenintegrationsforschung.
Die Akteneinsicht bezüglich der Vertriebenenverbände gestaltete sich schwieriger als bei den originär staatlichen Akten: Das Archiv der Bundesorganisation des BdV befindet sich inzwischen im Bundesarchiv Koblenz, ist bisher aber nur unvollständig erschlossen (ein aussagekräftiges Findbuch fehlt); gleiches gilt für das Archiv der Landsmannschaft Ostpreußen in Ellingen. Das Archiv der Landsmannschaft Schlesien im Haus Schlesien in Königswinter scheint, so die Mitteilung an Eisler, keine einschlägigen Akten mehr zu besitzen. Dieser Befund deckt sich mit Erfahrungen anderer Forscher – etwa aus jüngerer Zeit Christian Lotz –, die ebenfalls feststellen mussten, dass die Landsmannschaft Schlesien offenbar in erheblichem Umfang Akten aus der Zeit vor 1980 aus Platzgründen entsorgt hat. Derartige Fälle werfen ein bezeichnendes Licht auf die desolate Archivsituation bei vielen Vertriebenenorganisationen, die mangels Personal bzw. wegen fehlender Finanzmittel häufig kein professionelles Archivwesen besitzen. Eine wichtige Ausnahme stellt hier lediglich das Sudetendeutsche Archiv dar, welches sich inzwischen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München befindet. Unverständlich ist, dass der Autorin vom nordrhein-westfälischen Landesverband des BdV offenbar die Einsicht in seine Archivbestände verwehrt wurde. Unproblematisch war dagegen die Nutzung der wichtigen einschlägigen Bestände des Gerhart-Hauptmann-Hauses (vormals „Haus des deutschen Ostens“) in Düsseldorf. Ergänzend führte Eisler zudem Interviews mit Zeitzeugen und Experten.
Dass die Darstellung trotz der beschriebenen Notwendigkeit einer Schwerpunktsetzung bei der originären Archivarbeit den Anspruch erheben darf, verallgemeinerungsfähigere Aussagen zu machen, resultiert aus der systematischen Auswertung von nahezu 500 Heimatsammlungen durch die Verknüpfung quantitativer Methoden und qualitativ-interpretativer Verfahren im Rahmen eines vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM; bis 2013 Bernd Neumann) geförderten Projekts zur bundesweiten Dokumentation der Heimatsammlungen unter der Leitung von Silke Göttsch-Elten. Im Kontext dieses Projekts entstand Eislers Dissertation. Ausgewählte Sammlungen hat die Autorin zudem persönlich in Augenschein genommen und damit auch Aspekte der teilnehmenden Beobachtung berücksichtigt. Dass einzelne Heimatsammlungen dennoch fehlen, ist bei einem Projekt dieser Größenordnung wohl nicht zu vermeiden: So vermisst der Rezensent etwa die Heimatstube des Riesengebirgler Heimatkreises Trautenau e.V. in Würzburg.1
Träger des Aufbaus der Heimatsammlungen waren Eislers Recherchen zufolge vor allem Angehörige von Vertriebenenorganisationen. Die Bandbreite der Interessen der konkreten Akteure reichte hierbei von spezifisch landsmannschaftlich-folkloristischen über heimatkundliche Motive, die teilweise auch einen beruflich-professionellen Hintergrund hatten, bis hin zu heimatpolitischen Zielsetzungen. In dieser letzteren Perspektive hatten die Sammlungen den Zweck, die Erinnerung an die alte Heimat vor allem in der Hoffnung auf deren Rückgewinnung wachzuhalten. Eine wichtige Funktion besaßen die Heimatsammlungen insbesondere für den Prozess des Ankommens in Westdeutschland, da sie, so Eisler, die Sehnsucht nach der Heimat kanalisierten. Angesichts der vielfältigen Zurückweisungen, die die Vertriebenen in der neuen „kalten Heimat“ (Andreas Kossert) erfuhren, half die gleichsam partikulare Identitätspflege bei der Neuorientierung.
In diesem Zusammenhang weist die Autorin auch darauf hin, dass gerade die Betonung des „Deutschtums“ der alten Heimat nicht zuletzt als Reaktion auf die vielfältigen Diskriminierungen der Vertriebenen in der frühen Bundesrepublik gesehen werden muss. Hinsichtlich der den Heimatsammlungen zugrundeliegenden bzw. durch diese konstruierten Geschichtsbilder vermag sie ferner zu zeigen, dass hier Elemente der Volkstums- und Grenzlandideologie der Zwischenkriegszeit unter neuen Vorzeichen eine Fortsetzung fanden. Nachdrücklich arbeitet Eisler heraus, dass die politische Unterstützung für Aufbau und Pflege der Heimatsammlungen in der frühen Bundesrepublik vor dem Hintergrund des Bestrebens der politisch Handelnden zu sehen ist, die Klientel der Vertriebenenverbände an sich zu binden – dies auch deshalb, weil die heimatpolitischen Forderungen der Vertriebenen keine Aussicht auf Realisierung hatten. Das erklärt, warum entsprechende öffentliche Fördermaßnahmen selbst nach dem Abschluss der Ostverträge bzw. nach der endgültigen völkerrechtlichen Anerkennung der „Potsdamer Grenzen“ Deutschlands durch die Regierung Kohl noch fortgesetzt wurden. Die Unterstützung der Kulturarbeit der Vertriebenenverbände hatte hier ganz offensichtlich eine kompensatorische Funktion.
Deutlich wird, dass das den Heimatsammlungen zugrundeliegende Konzept nur bedingt erfolgreich war. Deren wichtigem Beitrag zur Neubeheimatung der Vertriebenen steht die nicht zu leugnende Tatsache gegenüber, dass die noch bestehenden Heimatsammlungen einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Nicht ganz zu Unrecht weist Eisler darauf hin, dass diese Entwicklung auch die Folge von Selbstausgrenzungsmechanismen ist, die ihre Wurzeln in der praktischen Politik der Vertriebenenverbände und dem für sie typischen Partikularismus haben. Bedauerlich ist jedoch, dass Eisler die Ziele der Vertriebenenverbände zu pauschal in einem „konservativ“, „nationalkonservativ“ bzw. „rechts“ apostrophierten politischen Spektrum verortet. Demgegenüber gerät aus dem Blick, dass die weltanschaulich-politische Bandbreite in den Vertriebenenverbänden vor allem in der frühen Bundesrepublik wesentlich größer war. Alle Parteien bemühten sich in den 1950er- und 1960er-Jahren um die Vertriebenen und ihre Organisationen; insbesondere tat dies auch die SPD. Nicht ohne Grund waren in den 1960er-Jahren zwei BdV-Präsidenten SPD-Politiker (Wenzel Jaksch und Reinhold Rehs; letzterer wechselte 1969 zur CDU). Diese alten Bindungen wurden auch nach den Auseinandersetzungen um die Ostverträge nie völlig gekappt, so dass etwa die BdV-Präsidentin Erika Steinbach bei ihrem Vorhaben, ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu schaffen, ab den 1990er-Jahren daran wieder anknüpfen konnte. Doch soll dieser Kritikpunkt die Verdienste von Cornelia Eislers Arbeit keineswegs schmälern.
Anmerkung:
1 <http://www.trautenau.de/tr_riesengebirgsstube_ueberblick.htm> (07.06.2015).