F. Rehlinghaus: Die Semantik des Schicksals

Titel
Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg


Autor(en)
Rehlinghaus, Franziska
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Fechner, Historisches Institut, Fernuniversität in Hagen

Dem Konzept des Schicksals einen Platz in der Geschichtswissenschaft zu verleihen – so lässt sich das Anliegen der Bochumer Dissertation von Franziska Rehlinghaus formulieren. Anhand von (fast ausnahmslos) deutschsprachigen, publizierten Quellen vom 17. Jahrhundert bis 1914 gelingt es ihr zu zeigen, "dass es sich beim Schicksal um einen neuzeitlichen Grundbegriff handelt, der wesentlich für die Standortbestimmung des modernen Individuums in Welt und Gesellschaft ist" (S. 13). Der große Reiz der Arbeit besteht darin, dass Rehlinghaus präzise aufzeigen kann, wie sehr der Begriff des "Schicksals" changiert. Mal ist er als greifbares, politisches Argument in öffentlichen Debatten anzutreffen, mal fungiert er als bewusst unbestimmter Platzhalter im historischen Kausalitätengefüge und rückt nahe an Konzepte wie dasjenige des "Zufalls". Die Basis bilden, bewusst unterhalb des Höhenkamms und meist abseits serieller Quellen, Texte einer mittleren Ebene der Diffusion, wobei auch literarische Texte in die Analyse einbezogen werden. Dabei wird vor allem die begriffsgeschichtliche Methode Koselleck’scher Prägung angewendet.

Die Untersuchung eines so breiten Konzepts über annähernd drei Jahrhunderte hinweg kann trotz der Beschränkung auf eine Quellensprache selbstredend nur exemplarisch erfolgen. Der erste der vier gewählten Untersuchungsbereiche befasst sich mit der frühen Neuzeit. Nur in diesem Fall bestimmt eine bloße Epoche die Gliederung, sonst sind auch thematische Schwerpunkte unmittelbar ersichtlich. Bei der Gliederung des überbordenden Stoffs wird, ein geschickter Griff, die Systematisierung aus der Zeit selbst hinzugezogen. Im Abgleich von neun allgemeinen oder philosophischen Lexika des 18., teils auch frühen 19. Jahrhunderts legt Rehlinghaus fünf Schicksalskategorien fest, und zwar das „Fatum astrologicum“, „stoicum“, „spinozisticum“, „christianum“ und „turcicum“ (S. 47–51). Anhand dieser Grobgliederung werden an sich nicht unbekannte Erörterungen über die Astrologiekritik und den Aufstieg der Physikotheologie neu kontextualisiert, wobei besonders aufschlussreich ist, dass anhand des Wortes "fatum" Theologen des Atheismus überführt werden konnten. Weiterführend sind die Erörterungen zum "fatum turcicum" als Angelpunkt im frühneuzeitlichen Orientalismusdiskurs. So habe eine spezifisch türkische (oder gar gesamtislamische) Fatalität Eingang in die europäische Vorstellung vom Orient gefunden, die sowohl bewunderte Todesverachtung als auch verwerfliche Tatenlosigkeit umfassen konnte.

Greift dieser Teil gewinnbringend schon tief in den Bereich der polemischen Quellen, werden in den anschließenden Untersuchungen zum "dämonischen Schicksalsbegriff der Romantik" überzeugend und innovativ unter anderem satirische Texte ausgewertet, allen voran das Drama "Der Schicksalsstrumpf" der "Brüder Fatalis" von 1818 (S. 212f., vgl. auch S. 234). Seitenblicke dieser Art führen vor Augen, wie semantische Nuancen und Debatten, wie sie etwa im Gefolge von Schillers "Braut von Messina" stattfanden, auch auf einer rhetorisch deftigeren Ebene verhandelt wurden. Mögen die Autoren heute (und teils auch damals) weniger bekannt sein, so können doch solche Parodien der heutigen Leserschaft verdeutlichen, welche überraschenden Reaktionen die Schwemme deutscher Schicksalstragödien zwischen 1810 und 1825 hervorrief. Besonders überzeugend werden die auf literarischen Quellen basierenden Erkenntnisse mit der Realgeschichte zur Zeit der napoleonischen Umbrüche in Bezug gesetzt. Dadurch legt Rehlinghaus offen, welche Faktoren in der Zeit selbst als wirkmächtig angesehen wurden und wie sehr die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts von der Vorstellung durchdrungen waren, im Korsen das personifizierte Schicksal zu sehen – ein nicht zuletzt hinsichtlich der möglichen Rückschlüsse auf die Form der Historiographie lohnendes Unterfangen.

Das dritte Schlaglicht wird auf die Paulskirche geworfen. Anhand einer systematischen Auswertung der "Stenographischen Berichte über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung" wird deutlich, welche Rolle der Schicksalsbegriff bei der Stiftung von kollektiver Identität 1848/49 spielt, wobei das Konzept der "Providenz" als Argument und Topos stets parallel läuft. Auch hier oszilliert das Schicksal zwischen Grundfeste und Luftnummer. Einerseits verwenden Abgeordnete jeglicher Couleur den Begriff dazu, "sich mittelbar oder unmittelbar der Legitimation, Kompetenz und Zuständigkeit des Parlamentes zu versichern" (S. 273), wurde dieser desgleichen "zu einem wirksamen Instrument politischer Sprache, stiftete er doch Identifikation und Identität, indem er bestimmte, wer partizipieren durfte und wer nicht" (S. 289). Doch blieb allzu oft unklar, wie das "Schicksal" eigentlich zu konkretisieren sei. Rehlinghaus kann sich so der Frage widmen, in welchen Momenten überhaupt verlangt wurde, den Begriff des Schicksals inhaltlich zu füllen (z. B. S. 277, 289).

Ein Sprung um ein halbes Jahrhundert führt zur Verdichtung des Schicksalsbegriffs zwischen 1890 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, unter Auswertung von neun einschlägigen Zeitschriften und den Titeln aus einer zeitgenössischen Bibliographie aus dem Umfeld der Völkischen Bewegung (S. 301, Anm. 291). Einmal mehr entfaltet der Schicksalsbegriff seine Wirkung durch Widersprüchlichkeit, hier im Spannungsfeld zwischen Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus. Die Erkenntnis, dass bei der Völkischen Bewegung die gefürchtete Rassenmischung als Movens der Geschichte gesehen wurde, wird unmittelbar mit dem "Schicksal" in Verbindung gebracht, denn "[j]eder Einzelschritt dieses rassischen Verfalls durch die Moderne wurde in der Sprache der Völkischen in den Schicksalsbegriff gekleidet" (S. 308). Nicht zuletzt wurde gar ein Schicksalsglaube der Germanen hinzuspekuliert.

Die abschließende Untersuchung zu einer Verinnerlichung des Schicksalsbegriffs liest sich am besten kontrastiv zum Romantik-Kapitel (S. 362f.). Insgesamt konstatiert Rehlinghaus, beginnend bei Herder, eine Verlagerung des Ursprungs des Schicksals in den menschlichen Charakter. Somit waren Schicksal und Charakter keine Gegenbegriffe mehr. Die damit einhergehende Lösung von den transzendenten Ursprüngen des Schicksalsbegriffs wirkte sich ebenfalls auf religiöse Diskussionen aus.

Die Achillesferse jeglicher Untersuchung großer Begriffe ist die Quellenauswahl, so auch hier. Am unangreifbarsten gehen die Kapitel zur Paulskirche und zur Völkischen Bewegung vonstatten, da ein klar definiertes Korpus das Rückgrat bildet. Die anderen Kapitel gehen eher explorativ vor, wobei das sehr knappe Kapitel zur "Auswahl der Quellen" (S. 31–33) eher wie eine Pflichtübung wirkt. Gewiss wurden noch umfangreiche Quellenmassen (teils erfolglos) gewälzt, bevor die nun feststehende Auswahl getroffen wurde. Deutlichere Hinweise auf das Auslaufen von Schicksalsdiskursen in gewissen Sachbereichen, Textgattungen oder Wissenschaftszweigen hätten den Blick dafür geschärft, in welchen historischen Situationen der Schicksalsbegriff relevant ist und wann weniger, abseits von den vier letztlich gewählten Haupttreffern. Auch hätten auf diese Weise Nachbarkonzepte besser in den Blick genommen werden können, gibt doch die Autorin selbst zu, wann die gesellschaftliche Diskussion weniger vom "Schicksal" als vielmehr von "Freiheit" oder "Zukunft" handelt (S. 217, 228, 295–297).

Die thematisch und zeitlich recht weit auseinanderliegenden Kontexte des Hauptteils verlangten eine zweifelsfrei gelungene Einbettung in literaturwissenschaftlicher und linguistischer sowie theologie- und philosophiegeschichtlicher Hinsicht. Lediglich kleinere Hinweise seien hier angebracht, die jedoch den Gesamtertrag keinesfalls schmälern. Zunächst ist nicht völlig schlüssig, mit welcher Begründung das Wortfeld um das Lexem "Schicksal" erweitert wird. "Fatum", "Verhängnis" und "Notwendigkeit" werden hinzugenommen, weil es sich um (gegebenenfalls "zeitspezifische") "Synonyme" handele, "Fatalismus" sei eine "schicksalsaffine Geisteshaltung", "Providenz" und "Kausalität" ein "Parallel- beziehungsweise Gegenbegriff" (S. 24f., ferner S. 90, Anm. 211, S. 101). Da übersetzungstheoretisch der Begriff des "Synonyms" mehr als heikel ist, stellt sich die Frage, warum gerade das "fatum" in den Rang eines solchen gehoben wird, alle übrigen Übersetzungen aber rundheraus abgelehnt werden – und was im Unterschied dazu ein "zeitspezifisches Synonym" oder ein "Parallelbegriff" ist. Es wäre ratsam gewesen, entweder allein das Lexem "Schicksal" mit den engsten Ableitungen zu analysieren oder die engere Auswahl anhand von zeitgenössischen Synonymwörterbüchern besser abzusichern. Eine weitere Unschärfe im Bereich der Lexik ist bei der wortgeschichtlichen Herleitung des Lexems "Schicksal" festzustellen. Laut Rehlinghaus reduzieren "[d]ie neuzeitlichen Wörterbücher des 16. und 17. Jahrhunderts […] die Bedeutungsvielfalt der 'Schickung' drastisch auf maximal zwei Definitionen" (S. 41). Drastisch fällt der Befund allein aufgrund eines hinkenden Vergleichs aus: Den vergleichsweise knapp gehaltenen frühneuzeitlichen Wörterbüchern wird eine mittelalterliche Bedeutungsvielfalt entgegengesetzt, die allerdings modernen Datenbanken zum mittelhochdeutschen Wortschatz sowie dem Lexer und dem Grimm entnommen wird. Aufgrund eines solchen Vorgehens mit zweierlei Maß wäre bei zahlreichen anderen Lexemen ebenfalls ein Schwund der Bedeutungen festzustellen. An wenigen anderen Stellen hätte eine rhetorische Einordnung der Zitate weitergeholfen. Gabriel Riessers auf eine Reichsverfassung gemünzte Bemerkung in der Paulskirche (vgl. S. 265: "Wenn in diesem Falle eine höhere Macht, mag sie der Eine die Vorsehung, der Andere die Macht der Geschichte nennen, das Haus nicht baut, so werden die Bauleute vergebens bauen.") ist weniger offen als von Rehlinghaus vermutet. Aufgrund des direkten Zitats von Psalm 127, 1 ist die alternative säkulare Pforte wohl eher ein Nadelöhr.

Ein Personenregister erschließt den sorgfältig redigierten Band. An mehreren Stellen deutet Rehlinghaus die weiteren semantischen Verlagerungen des Schicksalsbegriffs an. Es bleibt nur zu wünschen, dass weitere Forschungen die Geschichte der Residualkategorie für die Zeit nach dem Augusterlebnis fortschreiben. Wie lohnend die Arbeit sein kann, zeigt das vorliegende Werk vielversprechend.

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