In ihrer Studie zur Kartierung der Nationalgeschichte wies Sylvia Schraut 2011 auf ein großes Defizit hin: die erstaunlich geringe fachwissenschaftliche und schulpolitische Aufmerksamkeit, die Atlanten bislang entgegengebracht wurde.1 Sebastian Bode setzt dort mit einer breiten Untersuchung zur „Kartierung der Extreme“ an. Dass es sich bei seiner Gießener Dissertation um eine ambitionierte, weil einerseits groß angelegte und andererseits methodisch reflektierte Studie handelt, wird schon beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis deutlich. In elf Haupt- und zahllosen Unterkapiteln (inklusive Fazit) werden nicht weniger als 365 Geschichtsatlanten untersucht, die seit 1990 in 37 europäischen Ländern erschienen sind. Die räumliche und inhaltliche Dimensionierung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts soll dadurch umfassend beurteilt werden, etwa hinsichtlich der thematischen, chronologischen und topographischen Schwerpunkte, der Narrative sowie der epochalen Bilanzierung. Je nach Untersuchungsperspektive zeichnen sich dabei regionale Besonderheiten abseits des klassischen Ost-West-Unterschiedes ab. Eine zusätzliche didaktische Relevanz soll die Studie durch den Vergleich der friedenspädagogischen Ansätze der Atlanten erhalten.
Die Untersuchung lässt sich in einen empirischen und einen analytischen Teil trennen. Auf den ersten rund 200 Seiten werden die Leserinnen und Leser methodisch reflektiert herangeführt und erhalten zunächst vornehmlich quantitative Ergebnisse vorgestellt, zum Beispiel die inhaltliche Gliederung und epochale Schwerpunktsetzung von Atlanten. Die empirische Durchdringung und Aufbereitung seiner Quellenbasis liegt Bode besonders am Herzen, was sich am Umfang dieses Teils ablesen lässt. Bisweilen verliert die Studie den roten Faden in der schieren Fülle von Unterkapiteln, deren Relevanz sich den Leserinnen und Lesern nicht immer sofort erschließt. Zur besseren Veranschaulichung finden sich aber viele Statistiken und Diagramme.
Für die eigentliche Betrachtung des „Zeitalters der Extreme“2 orientiert sich der Autor an den vier Schwerpunkten, die sich aus dem Epochenzuschnitt des Samples ergeben: Erster Weltkrieg, Zwischenkriegszeit, Zweiter Weltkrieg und Holocaust. Die Ergebnisse sind bisweilen ernüchternd. So werden Produktionen, die den Ersten Weltkrieg visualisieren, wenige Innovationen bescheinigt. Die „Westfront“ gilt nach wie vor als Dreh- und Angelpunkt – demnach fokussieren die Karten den europäischen Kriegsschauplatz, während der „globale Raum als Anhängsel“ (S. 285) fungiert. Das mag allerdings weniger verwunderlich sein, als Bode es darstellt, sind globalgeschichtliche Ansätze zur Untersuchung des Ersten Weltkrieges doch nach wie vor eher selten, auch wenn sie in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung erlebt haben.
Die Zwischenkriegszeit erhält die Rolle als „Schlüssel zur Zeit der Weltkriege“ (S. 221), da Atlasautoren durch die dortige inhaltliche Auswahl die Bilanz der gesamten Epoche bestimmen. Generell konstatiert Bode für diese Phase ein „Defizitnarrativ“ (S. 268): Vornehmlich dargestellt werde die europäische Krisengeschichte (etwa der Aufstieg des Faschismus). Gerade hinsichtlich der Friedenserziehung sei es wichtig, dieses Narrativ zu überwinden – durch die Abkehr vom historischen Determinismus und das Aufzeigen von Alternativen.
Auch für den Zweiten Weltkrieg bildet die Europakarte das Hauptelement. Über Kartenfolgen etablieren sich aber auch die Schauplätze des japanisch-amerikanischen Krieges, der Ostfront und Nordafrikas. Es fehlt jedoch wie beim Ersten Weltkrieg an Perspektiven, die konkret Asien oder Afrika in den Blick nehmen. Darüber hinaus erkennt Bode einen „Erinnerungsfokus“ (S. 326) auf Stalingrad und der Landung in der Normandie, worin sowohl Aspekte der Erinnerungskultur einzelner Länder als auch eines transnationalen Gedächtnisses aufgehen. Vor allem in Ländern der ehemaligen „West-Alliierten“ wird an die Landung in der Normandie erinnert, während dies für Stalingrad besonders in Russland der Fall ist. Darüber hinaus tauchen beide Orte in mehr als 20 europäischen Atlas-Produktionen auf, wo in erster Linie die Normandie mit der Befreiung Europas assoziiert wird. Diskussionswürdig ist Bodes Schlussfolgerung, gerade Stalingrad verweise durch seine internationale Rezeption und Bekanntheit auf das globale Moment des Zweiten Weltkrieges.
Die Visualisierung des Holocaust in den Atlanten wird schließlich in zweifacher Hinsicht untersucht – erstens werden „Optionen und Muster“ (S. 334) der Darstellung herausgearbeitet, zweitens geht es um den „Raum des Holocaust“ (S. 355) innerhalb und außerhalb der Kriegsdarstellungen. Bode kann zwei häufig genutzte Methoden feststellen – die Europakarte oder den Ausschnitt von Mitteleuropa, wobei er zu Recht darauf hinweist, dass nur auf der Europakarte das ganze Ausmaß deutlich wird. Die Versuche, den Völkermord an die Weltkriegsdarstellung zu koppeln, scheitern dagegen an mangelnder Übersichtlichkeit. Zudem filtert der Autor verschiedene Visualisierungsbedürfnisse heraus, die von intensiver Auseinandersetzung bis hin zur Marginalisierung reichen.
Im Fazit gelingt es Bode, die ausführlichen Ergebnisse der Kapitel sinnvoll zu bündeln sowie Empirie und Analyse zusammenzuführen. Seine Studie legt beträchtliche inhaltliche und konzeptionelle Unterschiede der europäischen Produktionen frei und sieht die Atlanten als „Grenzgänger zwischen inner- und außerschulischen Bildungsbedürfnissen“ (S. 444). Daraus ergeben sich für den Ausblick verschiedene Konsequenzen. Besonders erwähnenswert ist etwa, dass alternative kartographische Optionen aufgezeigt werden, um die militär- und staatsgeschichtliche Zentrierung aufzubrechen. Bode kann hierbei selten genutzte Darstellungsformen wie beispielsweise „Antikriegsbewegungen in Europa 1914–17“ anführen, die zweifelsohne zu den bemerkenswerten Ausnahmen der Samples gehören. Eher praxisorientiert ist dagegen die Forderung nach einer grundlegenden Kartenkompetenz der Nutzenden. Gerade die alltägliche Präsenz von Raummedien außerhalb der Bildungsanstalten macht dies unabdingbar, und es muss immer wieder betont werden, dass Karten Geschichte nicht objektiv darstellen, sondern sie deuten.
Das Buch „Die Kartierung der Extreme“ wird dank der vielfältigen Untersuchungsaspekte dem eigenen Anspruch gerecht, „[e]ine umfassende Analyse [zu bieten], die über die Betrachtung der methodischen Einsatzmöglichkeiten von Geschichtskarten im historischen Lernen hinausreicht“ (S. 15). Mit dem gezielten Hinterfragen von Kolorierung und Kartensignaturen, Projektionen und Ausschnitten, Titeln und Generalisierungen bedient sich Bode einer ganzen Bandbreite von Instrumenten zur Kartendekonstruktion; damit beweist er den Mehrwert seiner Studie sowohl für die kritische Kartographie als auch für die Geschichtsdidaktik. Die Bewertung der „multimodale[n] Ergänzungen“ (Kap. 8.2.) durch Bildquellen und Illustrationen verdient ebenfalls Aufmerksamkeit. Gerade beim Holocaust liefert der Autor dadurch eine feinfühlige Analyse und Spurensuche, die kritisch nach „Silences“, Banalisierungen und Emotionalisierungen im Kartenbild fragt. Bei der Visualisierung der Weltkriege nennt Bode Verzerrungen durch die Farbgebung, die in manchen Produktionen scheinbar monolithische Bündniskonstellationen suggerieren. Atlanten aus Frankreich fallen durch Verschweigen und einseitiges Hervorheben auf, etwa die vage Darstellung des Vichy-Regimes und die gleichzeitige Betonung positiver Themen wie der Résistance. Und osteuropäische Produktionen zeigen gar Tendenzen zur militärpatriotischen Erziehung durch Visualisierungen von Waffentechnik in Form von Panzern, Flugzeugen usw.
Ein wenig Potenzial verschenkt der Autor durch den weit gefassten „offenen“ Europabegriff (S. 158). Einerseits werden damit zu Recht die Schwankungen des Begriffs unterstrichen3, andererseits ist dieser als Analysekategorie schwer handhabbar. Die „europäischen Dimensionen“ der Weltkriege, auf die die Studie stets den Finger legt, können somit nur als bloße Unterscheidung zu „national“ und „global“ gelesen werden. Zudem würde man sich am Ende Vorschläge in Richtung einer transnational-europäischen Geschichte wünschen, für die ein eher unterreflektierter Europabegriff freilich ebenfalls nicht hilfreich ist. Und schließlich muss sich Sebastian Bode die Frage gefallen lassen, ob sich seine Arbeit durch die klare zeitliche Eingrenzung 1914–1945 genug vom Duktus ihrer Untersuchungsgegenstände löst. Ungeachtet dieser Einwände ist das Buch aber eine sorgfältig aufbereitete und gut strukturierte Informationsquelle, die als Kompendium für weitere Forschungen genutzt werden kann und sollte. Darüber hinaus handelt es sich um eine sensibilisierende Darstellung, die nicht zuletzt den Gestalterinnen und Gestaltern künftiger Geschichtsatlanten zur Lektüre empfohlen sei.
Anmerkungen:
1 Sylvia Schraut, Kartierte Nationalgeschichte. Geschichtsatlanten im internationalen Vergleich 1860–1960, Frankfurt am Main 2011, S. 515.
2 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995 (und öfter).
3 Hans-Dietrich Schultz, Welches Europa soll es denn sein? Anregungen für den Geographieunterricht, in: Internationale Schulbuchforschung 25 (2003), S. 223–256, hier S. 247.