Die Beschaeftigung mit der Rolle der Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus ist unuebersehbar en vogue. Der Frankfurter Historikertag markierte unlaengst einen vielbeachteten Hoehepunkt der Auseinandersetzung der Historiker mit der Geschichte der eigenen Disziplin. Doch ist dies eine neue Entwicklung. Lange Zeit war die Vergangenheit des Faches waehrend des Dritten Reiches ein Stiefkind der Forschung und schien geradezu mit einem Tabu belegt. Erst seit einigen Jahren ist durch die Werke von Willi Oberkrome, Karen Schoenwaelder, Goetz Aly oder Peter Schoettler der Historiographie der dreissiger und vierziger Jahre groessere Aufmerksamkeit zuteil geworden. Auch in den Medien haben die Kontroversen ueber die ‘Verstrickungen’ einzelner Fachvertreter ein breites Echo gefunden. Vor dem Hintergrund dieser Konjunktur ist es erstaunlich, dass die 1996 publizierte Frankfurter Dissertation von Ursula Wolf ueber das Verhaeltnis der Historiker zum Nationalsozialismus bislang nur wenig Beachtung gefunden hat.
"Litteris et Patriae" ist eine Studie zum Verhaeltnis von "Objektivitaet und Parteilichkeit" (9) in der Geschichtsschreibung. Ihr Gegenstand ist die deutsche Historiographie zwischen 1933 und 1945, die im Hinblick auf das Verhaeltnis von Wissenschaftlichkeit und politischer Indienstnahme untersucht wird. Die Arbeit konzentriert sich auf die Frage, ob nach 1933 von einer ‘Gleichschaltung’ der Geschichtswissenschaft gesprochen werden kann; oder mit anderen Worten: ob die Mehrzahl der deutschen Historiker das nationalsozialistische Geschichtsbild uebernommen und ihrem wissenschaftlichen Werk zugrunde gelegt haben. Die Autorin verspuert dabei "keinerlei Neigung", die behandelten Historiker "einer Ideologiekritik zu unterziehen". Stattdessen ist ihr Ansatz von einem historistischen "Bemuehen um Verstehen" gekennzeichnet (24).
Die Untersuchung beschraenkt sich nicht auf eine Auseinandersetzung mit den ‘Grossen’ der Zunft, sondern zielt auf eine umfassende, sehr materialreiche ‘Vermessung’ des historiographischen Terrains. Zu diesem Zweck werden saemtliche 183 Ordinarien im Fach Geschichte betrachtet, die waehrend des Dritten Reiches an deutschen Universitaeten lehrten. Die Beschraenkung auf die Ordinarien schliesst allerdings eine Reihe von Historikern aus, die in der oeffentlichen Debatte der letzten Jahre eine zentrale Rolle spielten: Karl Dietrich Erdmann oder Werner Conze etwa erhielten erst nach dem Krieg einen Lehrstuhl und finden in Wolfs Studie daher keine Erwaehnung.
Um den Grad der Politisierung der Universitaetshistoriker einschaetzen zu koennen, unterteilt Ursula Wolf saemtliche Ordinarien in drei Kategorien: in die Klasse der "politisch stark engagierten Historiker" (dazu zaehlt sie etwa Willy Andreas, Otto Westphal oder Theodor Schieder, aber auch Franz Schnabel), die Gruppe der "politisch maessig engagierten" (etwa Gerhard Tellenbach, Carl Hinrichs, Rudolf Koetzschke), und schliesslich der "politisch nicht engagierten Historiker" (etwa Peter Rassow, Martin Goehring, Otto Vossler). Diese Einteilung ist gewiss nicht unproblematisch. Als ‘unpolitisch’ gilt hier bereits, wessen politische Meinung nicht aus seinen wissenschaftlichen Werken ersichtlich war. Darueber hinaus liesse sich ueber einzelne Zuordnungen durchaus diskutieren. Vor allem aber sollen in diesem Koordinatensystem die politischen Absichten und Intentionen, also die persoenlichen Meinungen der einzelnen Historiker abgelesen werden - die wiederum ausschliesslich aus den gedruckten Quellen erschlossen werden. Dass dies ein schwieriges, bisweilen paradoxes Unterfangen bleibt, liegt auf der Hand - und wird von der Autorin auch konzediert (83-85). Die Beschraenkung auf publiziertes Material laesst eben nur begrenzt Aussagen ueber die privaten, ‘wirklichen’ Auffassungen einzelner Historiker zu. Folgt man der Autorin dennoch in ihrer Einteilung, dann ergeben sich nicht uninteressante Kraefteverhaeltnisse: Wolf zaehlt 84 der 183 Ordinarien zu den ‘politischen Historikern’, und 50 unter ihnen bezeichnet sie als ‘Nationalsozialisten’. Allerdings habe die Berufungspolitik seit 1933 nicht zu einer signifikanten Erhoehung des ‘nationalsozialistischen’ Anteils gefuehrt - und insofern koenne "die Wissenschaftspolitik des NS-Regimes nicht als durchschlagender Erfolg gewertet werden."(98)
Dieser ‘quantitative’ Befund Wolfs soll im folgenden durch die inhaltliche Analyse untermauert werden. In einem ersten Schritt praesentiert Ursula Wolf eine Synopse repraesentativer Aussagen von fuehrenden Nationalsozialisten, die sie zu einem "Geschichtsbild des Nationalsozialismus" montiert. Vor diesem Hintergrund wird dann das Geschichtsbild der Universitaetshistoriker in der Weimarer Republik und im Dritten Reich vorgestellt. Die Behandlung der Historiographie der 30er und 40er Jahre ist sehr ausfuehrlich: die Alte Geschichte, die Mediaevistik, die Lehrstuehle fuer Mittlere und Neuere Geschichte und schliesslich die Neuzeitgeschichtsschreibung werden gesondert behandelt. Dabei kommen zahlreiche Historiker zu Wort; zugleich wird aber auch das historiographische Werk repraesentativer Vertreter detaillierter behandelt. Vor allem die Arbeiten des Althistorikers Fritz Taeger, des Mediaevisten Hermann Heimpel, der Landeshistoriker Aubin, Petri, Maschke und Roerig, und schliesslich des Heidelberger Neuzeithistorikers Willy Andreas werden ausfuehrlicher untersucht.
Das Ergebnis, zu dem Ursula Wolf auf der Basis dieses Materials gelangt, ist eindeutig: Fuer die Geschichtsschreibung stellte das Jahr 1933 keine Zaesur dar. Vielmehr koenne von einer "Konstanz des politischen Denkens in den zwanziger und dreissiger Jahren" gesprochen werden (235). Das Weltbild der meisten Historiker habe sich im Uebergang von Weimarer Republik zu Drittem Reich nicht veraendert. Hoffnungen auf ein Wiedererstarken des Deutschen Reiches, antiwestliche Ressentiments, Skepsis gegenueber der Moderne und der Traum von einer neuen ‘voelkischen’ Gemeinschaft gehoerten bereits in der Weimarer Republik zu der ideologischen Matrix der Historikerschaft. Insofern koenne zwar durchaus von einer gewissen Affinitaet der national gesinnten, bisweilen nationalistischen deutschen Historiker zu wichtigen Aspekten des nationalsozialistischen Geschichtsbildes gesprochen werden; "dieses Weltbild ist jedoch vor 1933 entwickelt worden und nicht das Ergebnis einer Adaption der nationalsozialistischen Weltanschauung."(385)
Eine ‘nationalsozialistische Historiographie’ hingegen, wie sie von Partei und Staat eingefordert und in diversen Richtlinien vorgeschrieben wurde, "hat es ... im Dritten Reich nicht gegeben" (389). Ungeachtet aller Gemeinsamkeiten habe "eine prinzipielle Differenz zwischen Universitaetsprofessoren und Nationalsozialisten" (392) fortbestanden. Vor allem an zwei Punkten habe sich der "Widerstand gegenueber dem nationalsozialistischen Geschichtsverstaendnis" (401) entzuendet: die Historiker seien zum einen nicht bereit gewesen, die wissenschaftliche Autonomie zugunsten einer Unterordnung unter die Legitimationsbeduerfnisse des Staates preiszugeben; zum anderen habe sich das Projekt einer rassischen Geschichtsbetrachtung nicht durchsetzen koennen: "trotz intensiver Bemuehungen seitens des Staates hat die Rassentheorie und die rassische Geschichtsauslegung nur wenige Befuerworter in den Universitaeten und noch weniger Eingang in die historiographische Praxis gefunden" (389). Die Geschichtsschreibung sei somit gegenueber den politischen Versuchungen weitgehend immun geblieben: "den Eintritt in das ‘Allerheiligste’ haben die Historiker dem Nationalsozialismus versagt" (405).
In der Tat besteht in der juengeren Debatte bisweilen die Gefahr, die Kontinuitaeten im historisch-politischen Denken zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich zu vernachlaessigen. In Wolfs Studie wird hingegen sehr deutlich, dass ein bestimmtes Wissenschaftsverstaendnis, aber auch die Diskreditierung des demokratischen Systems und die aussenpolitischen Ambitionen vieler Historiker kein Zugestaendnis an die neuen Machthaber, sondern Bestandteil einer laengerfristigen Tradition waren. Wolf schliesst nun daraus, dass "in der Regel ... die Priester der Klio ihrer Muse treu" geblieben seien (405). Die Kontinuitaet des Weltbildes seit der Weimarer Republik ist ihr Beweis dafuer, dass auch in den dreissiger Jahren eine historiographische Normalitaet fortbestand. Dieses Urteil scheint jedoch ein wenig nachsichtig und zu sehr vom Bemuehen um verstehenden Einfuehlnahme gepraegt. Denn das ausgebreitete Material koennte auch weniger exkulpierend gedeutet werden: die Persistenz ideologischer Grundmuster ueber das Jahr 1933 hinaus demonstriert vielmehr, dass bereits vor der ‘Machtergreifung’ nationalistische und bisweilen sogar totalitaere Denkfiguren den gesellschaftlichen Diskurs bestimmten. Dabei zeigt sich auch, dass schon vor dem Dritten Reich Wissenschaft und Politik nicht so ohne weiteres zu trennen waren, wie Wolf dies vorschwebt; dass also eine Trennung in ‘politische’ und ‘unpolitische’ Historiker, oder auch eine "Decodierung" einzelner Texte in politische und wissenschaftliche Passagen (z.B. Seite 264) eine Fiktion bleibt. Schon vor 1933 - und uebrigens auch nach 1945 - waren politisch-ideologische und historisch-wissenschaftliche Fragen zumeist in einer konstitutiven Weise verschmolzen. Der Begriff der "Verfaelschung der Geschichte" (200) hingegen reicht zur Beschreibung dieses Phaenomens nicht aus.
Diese Formulierung deutet zudem auf ein zentrales Problem hin, das sich grundsaetzlich bei der Bewertung des Verhaeltnisses von Geschichtsschreibung und Nationalsozialismus stellt. Denn die bewusste "Verfaelschung" der Geschichte und die instrumentelle Deutung nach politischem Massstab, die Wolf untersucht, war nur eine unter mehreren moeglichen Formen der Kollaboration. Der intentionalistische Ansatz greift bei der Analyse des komplexen Verhaeltnisses zwischen Wissenschaft und Politik zu kurz. Eine Interpretation, die sich auf die ausdruecklichen Absichten und politischen Motive der Historiker beschraenkt, reduziert die Problematik der ‘Verstrickung’ auf ein schmales Segment. Auch wenn beispielsweise fuer den Koelner Historiker Franz Petri "die Suche nach ‘Wahrheit’ ... nach eigener Aussage die condition sine qua non" (311) blieb, darf die Analyse doch an diesem Punkte nicht stehenbleiben, um nicht lediglich die Selbsteinschaetzungen einzelner Historiker zu reproduzieren. Vielmehr scheint es noetig, ueber die Beschaeftigung mit ihren individuellen Absichten und Intentionen hinauszugehen.
Erst dann geraet die subtile Komplizitaet bestimmter theoretischer Positionen mit zentralen Elementen nationalsozialistischer Politik in den Blick. Denn selbst wenn zahlreiche Historiker "der Gefahr, das Wahrheitspostulat ... weniger ernst zu nehmen" (9), entrannen, konnte das historiographische Produkt mitunter dennoch in einer engen Affinitaet zur politischen Praxis der Zeit stehen. Dabei ist es (jedenfalls jenseits des rein biographischen Interesses) nicht entscheidend, ob diese Affinitaet vom Historiker so auch beabsichtigt war. So haben einige kritische Detailstudien (etwa von Oberkrome, Schoettler oder Aly) in den letzten Jahren nachgewiesen, dass akademische Geschichtsschreibung sogar mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik mitunter ein Symbioseverhaeltnis eingehen konnte. In der Interpretation dieser Beziehungen liegt die eigentliche Herausforderung an eine analytische Geschichtswissenschaft, zumal diese Wechselwirkungen zwischen Universitaet und Politik zum Teil jenseits der persoenlichen Intentionen der betreffenden Historiker lagen. Erst eine Auseinandersetzung mit dieser Form der Verquickung von Wissenschaft und Macht verspricht, das im Untertitel angesprochene "Janusgesicht der Historie" deutlich werden zu lassen.