Unter dem provokanten Titel "Man riecht bei vielen Blut" erschien bereits im Januar 2010 im "Spiegel" ein Interview mit der ehemaligen Soldatenheimschwester Annette Schücking-Hohmeyer.1 Darin berichtete die spätere Juristin über ihre Tätigkeit in zwei Soldatenheimen in der besetzten Sowjetunion und was sie dabei über die Ermordung der jüdischen Bevölkerung erfahren hat. Von 1941 bis 1942 war sie in Zwiahel in der Ukraine und danach bis 1943 in Krasnodar westlich des Kaukasus eingesetzt. Die nun vorliegende Edition enthält den umfangreichen Briefwechsel von Annette Schücking, Jahrgang 1920, mit ihrer Familie sowie ihre Tagebucheinträge aus dieser Zeit nahezu vollständig.
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) stellte der Wehrmacht nicht nur Personal für den Pflege- und Nachrichtendienst zur Verfügung, sondern auch sogenannte "Betreuungshelferinnen". Zu ihren Aufgaben zählten die wirtschaftliche Leitung von Soldaten- und Übernachtungsheimen, von Verpflegungsstellen an Bahnhöfen und Grenzübergängen sowie von Frontsammel- und Frontleitstellen einschließlich der damit verbundenen Arbeiten. Diese Tätigkeiten wurden DRK-Schwestern und -Helferinnen übertragen. Ende September 1942 gab es insgesamt 832 Soldatenheime (S. 44, Anm. 146). Unterstützt wurden die Schwestern und Helferinnen von "volksdeutschen" Mädchen und Frauen, die von ihnen zugleich angeleitet wurden. So waren im Soldatenheim in Krasnodar Anfang Januar 1943 mehr als hundert Menschen beschäftigt (S. 440). In den Soldatenheimen erhielten die Soldaten in erster Linie Essen; idealerweise sollten auch ein Schreibzimmer für die Korrespondenz der Soldaten, ein Spiel- und Lesezimmer sowie ein Raum für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung stehen (S. 47 f., 269, 389 f.).
Den edierten Briefen, Postkarten und Tagebucheinträgen sind drei diese kontextuell einbettende Beiträge vorangestellt. Ulf Morgenstern gibt in seinen Ausführungen "Briefe als schriftliche Selbstvergewisserung?" (S. 15–29) einen Einblick in die Schücking'sche Familiengeschichte. Er berichtet über die Funktion und die Bedeutung des Schreibens in der Familie, in der es zur Tradition gehörte, erhaltene Briefe laut vorzulesen, über die Inhalte zu diskutieren, sie sogar abzuschreiben und weiterzusenden. Ulf Morgenstern teilt ferner mit, dass Annette Schückings Vater, Rechtsanwalt Lothar Engelbert Schücking, wegen "staatsgefährdender Zusammenarbeit mit Kommunisten" 1933 Berufsverbot erhalten hatte (S. 17). Dies und die Brieftradition der Familie sind in Rechnung zu stellen, denn einerseits wusste Annette Schücking während des Schreibens von der familiären Briefkultur und anderseits wollte sie mit ihren Briefen und den darin enthaltenen Nachrichten niemanden gefährden. Trotz dieser Einschränkung betont Ulf Morgenstern den entscheidenden Wert der Briefe "als ganz seltene, unerschrockene Mitteilung über den Holocaust durch eine 'Front'-Augenzeugin an ihre Angehörigen im Reich" (S. 29). Dem ist zuzustimmen, insbesondere da in den Studien zu anderen Helferinnengruppen immer wieder konstatiert wird, wie selten von den ehemaligen Helferinnen in Interviews und anderen Selbstzeugnissen die Verbrechen und der Vernichtungskrieg erinnert würden.2
Der zweite einleitende Beitrag "Personen, Gegenstände, Ereignisse und ihre Orte" (S. 31–63) der beiden Herausgeberinnen sowie der Beitrag "Annette Schücking als Chronistin und Akteurin" (S. 65–74) von Julia Paulus stellen die Bezugsrahmen vor, in denen Annette Schücking tätig war. Darin werden der Eroberungs- und Vernichtungskrieg der Wehrmacht und der Einsatzgruppen der SS, die Funktionsweise und Aufgabenstellung von Soldatenheimen des DRK sowie Deutungszusammenhänge der Verfasserinnen und Verfasser der edierten Texte im Kontext der Wahrnehmungs- und Handlungsweisen an den Fronten beziehungsweise an der "Heimatfront" des Zweiten Weltkrieges angesprochen.
Es folgt die nahezu vollständige Edition der von Annette Schücking und ihren Familienangehörigen verfassten Briefe, Postkarten und der Tagebucheinträge Annette Schückings in chronologischer Folge. Lediglich wenige persönliche Äußerungen zur Privatsphäre der Familie oder zu nahestehenden Personen wurden nicht aufgenommen. Beide Konvolute bilden je ein eigenes Kapitel. Diese Vorgehensweise begründen die Herausgeberinnen damit, dass aufgrund der langen Postwege häufig keine Übermittlung der Briefe und Postkarten in der Chronologie ihrer Abfassung erfolgt sei (S. 78). Belegbare Bezüge sind dankenswerter Weise durch Anmerkungen nachvollziehbar gemacht worden. Überhaupt ist der umfangreiche Anmerkungsapparat lobend hervorzuheben, der durch seine Verweisstruktur die Lektüre erleichtert und durch präzise Erläuterungen und durch Hinweise auf weiterführende Literatur überzeugt. Hilfreich ist zudem das Orts- und Personenregister. Ein zusätzlicher Gewinn wäre gewesen, die Monatsberichte der Wehrmachtsbefehlshaber mit in die Auswertung einzubeziehen, da diese Informationen über die Zahl der Soldatenheime und der eingesetzten Betreuungshelferinnen enthalten.3 Sie geben zudem zu weiteren Aspekten Auskunft, z. B. "über fahrlässige Beihilfe zur Fahnenflucht"4 – die Unterstützung von Deserteuren durch Betreuungshelferinnen.
Erschütternd sind die Briefe und Tagebucheinträge Annette Schückings, in denen der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in der besetzten Sowjetunion fast beiläufig "dokumentiert" wird: So schreibt sie nach dem 3. November 1941 an ihre Mutter, Louise Schücking: "Du musst denken, die Soldaten haben hier weder ein Kino noch ein Theater, noch ein Geschäft. Es gibt keinen Brotladen, keinen Friseur, einfach nichts. Dabei ist es eine grosse Stadt. Aber die Juden, die meist die Geschäfte hatten, sind eben alle tot." (S. 145) Bereits hier zeigt sich die außergewöhnliche Qualität des Briefwechsels: Der Zweite Weltkrieg in seiner Grausamkeit wird parallel zum Alltagsgeschehen mit den abwechslungsreichen Tätigkeiten für die DRK-Schwestern in vielen Facetten beschrieben. In den Briefen teilt Annette Schücking ihrer Familie ihre Kenntnisse über das Kriegsgefangenenwesen und den Umgang der Wehrmacht mit Kriegsgefangenen mit, darin auch, dass es in den Kriegsgefangenenlagern aufgrund der großen Hungersnot teilweise zu Kannibalismus gekommen sei (Ende September 1941, S. 122). Ebenso erwähnt sie die Verteilung der Kleidung der ermordeten Jüdinnen und Juden unter anderem durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt an "Volksdeutsche". Ihre Landschafts- und Städtebeschreibungen, in denen teils propagandistische Stereotype durchscheinen, enthalten gleichfalls Mitteilungen über Partisanen und über die Ausplünderung der besetzten Gebiete und deren Folge für die einheimische Bevölkerung, den Hungertod. Immer wieder spricht Annette Schücking über die positiv erlebte Kameradschaft. Ergänzt wird dies durch weitere Ausführungen zur Geschlechtergemeinschaft. Sie reflektiert in ihren Briefen ihr Frauenbild und die Zusammenarbeit der DRK-Schwestern mit der Zivil- und Militärverwaltung beim "Organisieren" von Lebensmitteln und berichtet dabei von Feiern, Diskussionen und Ausflügen. Deutlich werden der Machtzuwachs und die damit verbundene Machterfahrung für die junge Frau in ihrer Position als Soldatenheimschwester.
Die Briefe bilden die individuelle Wahrnehmung einer gebildeten, tatkräftigen Frau ab, ihre Strategien im Umgang mit dem, was sie erlebt, sieht und hört. Die Lektüre macht erneut fassungslos durch den Kontrast des Berichteten zu den Aussagen der deutschen Bevölkerung nach Kriegsende über ihr angebliches Nichtwissen hinsichtlich der Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Es ist eine Vielzahl von Fragestellungen denkbar, unter denen der Briefwechsel gelesen werden kann. Zudem ist er beeindruckend in der Widersprüchlichkeit der Aussagen, oder in den Worten Annette Schückings in einem Brief an ihren Vater aus Zwiahel vom 26. März 1942: "Das ist sicher, ich bin Pazifistin geblieben. Der Krieg ist grausig, ein Verbrechen ihn anzuzetteln, das schlimmste, was es auf der Welt gibt, aber ich 'liebe' den Krieg. Verzeih, ich weiss nicht, wie ich mich ausdrücken soll um des Begriffes der Kameradschaft willen." (S. 255 f.)
Dem Buch sind 60 Abbildungen beigegeben, die überwiegend aus dem Privatarchiv Schücking-Homeyer stammen. Abschließend nimmt Annette Schücking-Homeyer in einem Epilog selbst zu den Inhalten aus ihrer heutigen Sicht Stellung (S. 583–594).
Die Edition ist bisher einzigartig und wertvoll als historische Quelle zu einer Helferinnengruppe, zu der noch wenig bekannt ist, da ebenfalls das Briefkonvolut der Familie überliefert ist und so der enge inhaltliche Austausch zwischen den Soldatenheimen in Frontnähe und der "Heimatfront" dokumentiert ist.
Anmerkungen:
1 Man riecht bei vielen Blut. Die Juristin und frühere Rot-Kreuz-Helferin Annette Schücking-Homeyer, 89, über den Russlandfeldzug 1941 und das Wissen der deutschen Soldaten um den Holocaust, Interview: Martin Doerry und Klaus Wiegrefe, in: Der Spiegel, Nr. 4, 25.1.2010, S. 42–44. In der Edition findet sich das Zitat im Brief von Annette Schücking aus Zwiahel vom 5. November 1941, S. 146–149, hier S. 148.
2 Siehe z. B. Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009, S. 156; Gudrun Schwarz, "During Total War, We Girls Want to Be Where We Can Really Accomplish Something". What Women Do in Wartime, in: Omer Bartov / Atina Grossmann / Molly Nolan (Hrsg.), Crimes of War. Guilt and Denial in the Twentieth Century, New York 2002, S. 121–137.
3 Vgl. den Bestand "Territoriale Befehlshaber in der Sowjetunion", Bundesarchiv, RW 41.
4 Siehe z. B. den Bericht Nr. 8 über den Zeitraum vom 5. Juni 1943 bis 10. Januar 1944 des Kommandeurs Wehrmachtstreifendienst beim Wehrmachtbefehlshaber Ostland, Riga, vom 11. Januar 1944, Bundesarchiv, RW 41/57, o. Bl. Eine Auswertung der Berichte hinsichtlich des Einsatzes "reichsdeutscher" Frauen in den besetzen Gebieten ist meines Wissens bisher nicht erfolgt.