Betrachtet man Horst Möllers umfangreiche und detaillierte Strauß-Biographie, stellt sich fast zwangsläufig die Frage, ob über den langjährigen CSU-Vorsitzenden (1961 bis 1988), den mehrmaligen Bundesminister (für besondere Aufgaben 1953 bis 1955; Atomfragen 1955/56; Verteidigung 1956 bis 1962; Finanzen 1966 bis 1969) sowie über den bayerischen Ministerpräsidenten (1978 bis 1988) und bundesdeutschen Kanzlerkandidaten (1980) nicht schon alles gesagt und geschrieben wurde. Diverse Skandale und finanzielle Ungereimtheiten, ein sehr pragmatischer Umgang mit autoritären Staatssystemen in allen Teilen der Welt sowie nicht zuletzt seine schroffen Äußerungen machten Strauß über Jahrzehnte hinweg zum Feindbild. Sowohl sein Werdegang als auch die heftigen Reaktionen bieten für die zeithistorische Forschung reichhaltigen Stoff – und dieser ist keineswegs allgemein bekannt.
Gerade zum 100. Geburtstag von Strauß am 6. September 2015 sind zahlreiche Artikel veröffentlicht, Veranstaltungen durchgeführt und Ausstellungen organisiert worden. Exemplarisch genannt sei hier die Kabinettausstellung „Franz Josef Strauß – Die Macht der Bilder“ im Münchener Stadtmuseum. Sie zeigte sein politisches Wirken, beginnend mit der Tätigkeit am 1. Juni 1945 als „Assistant Landrat“ von Schongau, in zahlreichen Fotos, Film- und Tonaufnahmen, aber auch in Plakaten, Flugblättern, Karikaturen und Gemälden. Der aufschlussreiche Katalog spiegelt „die Strategien der Imagebildung und Inszenierung eines Politikers, seine mediale Darstellung wie auch die visuelle ‚Demontage‘“ überzeugend wider.1 Anlässlich des 100. Geburtstages wurde andererseits versucht, positive Bilder zu verbreiten: „Die CSU-Werbeabteilung hat FJS-Devotionalien ins Sortiment genommen – von der pechschwarzen FJS-Tasse bis hin zu Briefmarken.“2
Eine umfassende geschichtswissenschaftliche Biographie fehlte bislang. Zwar existieren Strauß‘ eigene „Erinnerungen“ (zuerst 1989 postum veröffentlicht) und zahlreiche populäre Publikationen über „Bayerns allerletzten Herrscher“, vor allem aber gibt es in der Öffentlichkeit ausgeprägte Klischees und zweifelhafte Zuschreibungen. Vor diesem Hintergrund ist die Strauß-Biographie des renommierten Historikers Horst Möller einzuordnen.3 So hat Möller, von 1992 bis 2011 Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, auf fast 730 Seiten (mit Anmerkungen, Bildnachweis, Namensregister 829 Seiten) die 73 Lebensjahre von Strauß nachgezeichnet. Hierfür konnte er den umfangreichen schriftlichen Nachlass auswerten, der in der Hanns-Seidel-Stiftung verwahrt wird und fast 300 Regalmeter umfasst. Wichtige Archivmaterialien bildeten die noch unveröffentlichten Protokolle der CSU-Landesgruppe und des CSU-Landesvorstands sowie der Briefwechsel zwischen Helmut Kohl und Franz Josef Strauß. Darüber hinaus wurden Gespräche mit Weggefährten geführt, unter anderem mit Helmut Kohl, Edmund Stoiber, Gerold Tandler, Theo Waigel und Bernhard Vogel.
Ausgehend von der breiten Quellenlage möchte der Verfasser das „Wechselspiel von Persönlichkeit und Wirkungsraum“ erfassen, wobei insbesondere „unter sachthematischen und systematischen Fragen das politische Wirken von Strauß als dialektischer Prozess von zeittypischen Herausforderungen und persönlicher Prägung“ verstanden werden soll (S. 13, S. 19). Bei der quellenkritischen Auseinandersetzung sollen nicht zuletzt Klischees und Mythen ausgeräumt und das politische Denken und Handeln von Strauß analysiert werden. In diesem Kontext stellt sich eine weitere Frage: Wenn ein Ziel der Biographie darin besteht, zu dokumentieren, dass man Strauß mit den meisten Beschuldigungen Unrecht getan habe, muss man dann nicht auch erklären, warum dies Strauß immer wieder passiert ist? Das macht Möller nicht hinreichend deutlich.
Die Biographie ist chronologisch aufgebaut und besteht aus fünf Teilen mit insgesamt 21 Kapiteln. Während sich der erste Teil auf Strauß‘ Herkunft und Jugend, seine Zeit im Zweiten Weltkrieg, Lehrjahre in der Parteipolitik und seine Erfahrungen im Frankfurter Wirtschaftsrat im Jahre 1948/49 konzentriert, geht es im zweiten Teil um seine politische Arbeit als CSU-Generalsekretär in München, seinen Aufstieg zum Atom- sowie zum Verteidigungsminister und um seine „Fehlschläge, Beschaffungsprobleme, Skandale oder Skandalisierungen“ (vom Autor mit einem Fragezeichen versehen). Die nächsten Teile beschäftigen sich zum einen mit Strauß‘ Familienleben, mit seiner Zeit als Abgeordneter, Landesgruppenchef und Parteivorsitzender 1963 bis 1966. Danach folgen die Zeit als Finanzminister in der Großen Koalition von 1966 bis 1969, die Debatten um die Ostpolitik und Finanzreform sowie vor allem seine Zeit als Oppositionsführer im Bundestag von 1969 bis 1978. Ausführlich behandelt Möller die Phasen von Strauß als „bayerischer Ministerpräsident, Deutschlandpolitiker, Weltpolitiker“ (1978–1983), um dann spezifische Themenfelder genauer betrachten zu können: Strauß und das Geld, sein politisches Denken und Auftreten als Redner oder auch die Landes- und Bundespolitik im Zeitraum von 1982/83 bis 1988. Themen wie Kernenergie, Umweltschutz, Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf und die Wirkungen von Tschernobyl, ebenso „Bayern marschiert an der Spitze des technischen Fortschritts“, werden in Unterkapiteln aufgegriffen. Der Tod von Marianne Strauß, die letzten Jahre 1986 bis 1988 und das Ende sind ebenfalls Gegenstand des fünften Teils.
Eine Legende – selbst wenn es sich um eine negative Legende handelt – stellt als Gegenstand der historischen Forschung immer ein schwieriges Unterfangen dar. Genauso steht es außer Frage, dass Empathie für den Biographen eine wichtige Rolle spielt, vielleicht sogar eine unverzichtbare Voraussetzung ist. Aber wie weit kann dies reichen? Franziska Augstein hat konstatiert, dass schon viele Autoren den verstorbenen Strauß gegen das verteidigt hätten, was dieser den ‚Mob der Linkspresse‘ genannt habe. Aber keine Apologie sei so lang geraten wie Möllers Biographie. Der wirkliche Strauß sei viel destruktiver und viel interessanter gewesen, als er aus Möllers Buch hervortrete.4 Selbst mit dem Hinweis auf ihre mögliche Befangenheit als Tochter von Rudolf Augstein kann dieser Einwand nicht einfach weggeschoben werden. So wurde auch in der Zeitung „Mittelbayerische“ formuliert: „[…] über allem liegt ein Weichzeichner. Gebührend herausgestrichen wird der große Staatsmann, der stets am Gemeinwohl orientierte Politiker aus Leidenschaft. Das gipfelt in der Behauptung, ein großer ‚Intellektueller‘ sei da von den bösen Linken als Watschenmann instrumentalisiert worden“.5 In der Tat zählt Möller zu den großen Bewunderern und Verehrern von Strauß.
Dieser Eindruck wird unterstrichen, wenn man sich intensiver mit brisanten Phasen seiner politischen Laufbahn – auch in der Wahrnehmung der bundesdeutschen Gesellschaft – beschäftigt, etwa mit Strauß‘ Ernennung zum Verteidigungsminister 1956. Dass er damit eines der wichtigsten Bundesministerien übernahm und mit großer Verve den Aufbau der Bundeswehr mit seinen nuklearen Ambitionen betrieb, wird von Möller treffend beschrieben. Aber ob allein die massiven gesellschaftlichen Debatten und die Ablehnung der Wiederbewaffnung den wachsenden Hass erklären, „der ihm später von linksintellektuellen Kreisen und ihnen verbundenen Journalisten entgegenschlug“ (S. 165), ist kritisch zu hinterfragen. Vielmehr scheint die „Spiegel-Affäre“, die Ende 1962 zum Amtsverzicht von Strauß führte, eine kaum absehbare Komplexität und Eigendynamik entwickelt zu haben, die sämtliche Vorbehalte gegen Strauß bündelte. Der von den „Spiegel“-Redakteuren Conrad Ahlers und Hans Mette am 10. Oktober 1962 veröffentlichte Artikel „Bedingt abwehrbereit“ hatte nicht nur die Verhaftung Ahlers‘ und des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein wegen angeblichen Landesverrats zur Folge, sondern auch die Besetzung und Durchsuchung der Redaktionsräume. Zwar ging die Verhaftung von Augstein nicht auf Strauß zurück, wie Möller hervorhebt (S. 244), doch hat er durch einen nächtlichen Anruf (26./27. Oktober 1962) beim deutschen Militärattaché in Madrid die Festnahme Ahlers‘ veranlasst. Nur am Rand sei vermerkt, dass dabei der für die Botschaften verantwortliche Bundesaußenminister hätte aktiv werden müssen. Als äußerst belastend sind aber vor allem die Tatsachen zu bewerten, dass zum einen der zuständige Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger (FDP) nicht informiert wurde und zum anderen Strauß im Rahmen einer dreitägigen Fragestunde des Deutschen Bundestags im November 1962 jegliche Mitwirkung bestritt (S. 265). In einem solchen Fall lediglich von einer „Kompetenzüberschreitung“ zu sprechen (S. 255), erscheint unzureichend, zumal der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 13. Mai 1965 hervorhob, dass es keine Beweise für einen wissentlichen Verrat von Staatsgeheimnissen durch „Spiegel“-Redakteure gegeben habe. Weiter wurde festgestellt, dass etliche Teilinformationen des fraglichen Artikels bereits in anderen Medien publiziert worden waren.
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass trotz aller Gegnerschaft der überlieferte Briefwechsel zwischen Augstein und Strauß einen überraschend freundlich-ironischen Ton widerspiegelt. So schrieb Augstein am 4. September 1975 anlässlich des bevorstehenden 60. Geburtstags von Strauß: „Sehr geehrter Herr Strauß, sicherlich öfter, als es Ihnen lieb gewesen sein mag, haben wir Sie in einen SPIEGEL blicken lassen, über dessen vermeintliche Blendwirkung wir mit Ihnen streiten mußten. Die Situation ist da, diesen Streit für diesmal hintenanzustellen. […] Zum Zeichen unserer Dankbarkeit gegenüber einem unserer häufigsten – übrigens auflageträchtigsten – Titelhelden überreichen wir Ihnen das Exemplar eines Spiegels, in dem Sie sich, ein wenig barockverschnörkelt, so reflektiert sehen können, wie Sie es vielleicht eher mögen.“6
Dass Strauß selbst auf CDU-Mitglieder kaum Rücksicht nahm und auch diesen gegenüber heftig austeilte, belegt seine Gegnerschaft zum „Parteifreund“ Kohl. So klagte er 1976 vor Mitgliedern der Jungen Union Bayern über die „politischen Pygmäen“ bei der CDU, „diese Zwerge im Westentaschenformat“. Der „Oberpygmäe“ sei Kohl, „total unfähig“ für die Kanzlerschaft, weil ihm dafür „die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen“ fehlten.7
Wenn man sich mit dem komplexen Leben von Strauß auseinandersetzen will, muss auch die politische Geschichte der Bundesrepublik erzählt werden. Folglich ist Horst Möllers Anliegen, das Wechselspiel von Persönlichkeit und Wirkungsraum, überhaupt den zeithistorischen Kontext zu erfassen, berechtigt und wichtig. Dabei darf aber weder ausgeklammert werden, dass etliche Positionen von Strauß durch die weitere Entwicklung widerlegt wurden, noch die Frage unbeantwortet bleiben, was Strauß selbst dazu beitrug, dass das Feindbild „FJS“ überhaupt in diesem Ausmaß entstehen konnte.
Anmerkungen:
1 Renate Höpfinger / Henning Rader / Rudolf Scheutle (Hrsg.), Franz Josef Strauß – Die Macht der Bilder, München 2015, S. 5.
2 Aus dem redaktionellen Vorwort zu einem vierteiligen Vorabdruck aus Möllers Biographie: Münchner Merkur, 05.06.2015, <http://www.merkur.de/bayern/100-geburtstag-franz-josef-strauss-gewinnen-neue-biographie-5073381.html> (23.12.2015).
3 Fast zeitgleich erschienen zwei Strauß-Biographien von Journalisten, die ebenfalls auf langjähriger Recherche basieren: Peter Siebenmorgen, Franz Josef Strauß. Ein Leben im Übermaß, München 2015; Werner Biermann, Strauß. Aufstieg und Fall einer Familie, Berlin 2015 (überarbeitete und erweiterte Fassung der Ausgabe von 2006).
4 Franziska Augstein, Ein Mann wie ein Kraftwerk. Horst Möllers Strauß-Biografie macht den CSU-Politiker langweiliger als er war, in: Süddeutsche Zeitung, 23.06.2015, S. 15.
5 Harald Raab, Strauß war „weder Heiliger noch Dämon“, in: Mittelbayerische, 16.07.2015, <http://www.mittelbayerische.de/bayern-nachrichten/strauss-war-weder-heiliger-noch-daemon-21705-art1258513.html> (23.12.2015).
6 „Anhänglicher Widersacher“, in: Spiegel, 5.9.2015, S. 48f., hier S. 48.
7 Zit. nach Jan Fleischhauer, Bayerns zerrissener König, in: Spiegel, 22.8.2015, S. 18–25, hier S. 24.