O. Leingang: Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg

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Title
Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur


Author(s)
Leingang, Oxane
Series
Beiträge zur slavischen Philologie 18
Published
Extent
X, 324 S.
Price
€ 48,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Elisa Satjukow, Historisches Seminar, Universität Leipzig

„Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen“ – die berühmte Losung der Dichterin Olga Bergholz erinnert seit dem Jahr 1960 auf dem Petersburger Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof an die Überlebenden der Leningrader Blockade. Doch es sollte noch drei Jahrzehnte dauern, bis ihre Forderung auch politisch umgesetzt wurde. Erst Gorbatschows Politik der Glasnost und Perestroika ermöglichte eine Öffnung der stagnierten sowjetischen Heldenerinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in der nun auch die Erfahrungen der Gulag-Häftlinge oder Rotarmistinnen ihren Platz erhielten. Auch diejenigen, deren Kindheit maßgeblich von den Erfahrungen des Krieges geprägt wurde, fanden nach langer Zeit Worte sowie Gehör. Hierzulande sind die Erinnerungen der Kriegskindergeneration erstmals durch Swetlana Alexijewitsch Interviewcollagen „Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg“1 bekannt geworden. Nun legt die Slawistin Oxane Leingang in ihrer 2014 erschienenen literaturwissenschaftlichen Dissertationsschrift „Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur“ eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit autobiographischen Erzählungen dieser Zeitzeugengruppe vor. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung kindlicher Erfahrungsräume im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion.

„Ich gehöre zu der letzten Generation, für die der ‚Große Vaterländische Krieg‘ keine Seite im Geschichtsbuch des Landes ist, sondern die Realität: Er durchlief meine ganze Kindheit.“ (S. 2) Mit diesem Zitat der Moskauer Schriftstellerin Atalija Belenkaja eröffnet Leingang ihre Studie und verweist damit gleich auf zwei Aspekte, die für ihre Analyse zum Verständnis der biographischen Kindheitsgeschichten leitend sind: Die Kriegserfahrung der jüngsten Alterskohorten, die die Jahre 1941 bis 1945 noch aktiv miterlebten, werden einerseits im Sinne von Karl Mannheim als ein Erlebnis begriffen, das Generationen konstituiert. Andererseits ist für die Autorin von Interesse, welcher Konnex zwischen den Selbstzeugnissen der Kriegskinder und dem, was sie als „nationale Erinnerungskultur“ beschreibt, besteht.

Die Quellengrundlage für Leingangs Arbeit bilden insgesamt zwanzig autobiographische Werke, die in sieben thematisch untergliederten Kapiteln vorgestellt und vergleichend analysiert werden. Beginnend mit Waisenkindern, den so genannten „besprizorniki“, die bereits vor Kriegsausbruch ein hartes Leben auf sowjetischen Straßen oder in Heimen zu fristen hatten, und deren Zahl im Verlaufe der verlustreichen Kampfhandlungen dramatisch zunahm, geht Leingang zunächst auf Kindheit und Jugend während der Leningrader Blockade ein. In den darauffolgenden Kapiteln werden junge Soldaten sowie Kinder und Jugendliche, die als „Ostarbeiter“ nach Deutschland verschleppt wurden, vorgestellt. Die letzten Kapitel beschäftigen sich schließlich mit der Kindheit im sowjetischen Hinterland, dem Überleben in der Stalingrader Schlacht und dessen Folgen sowie im letzten Abschnitt mit den Erinnerungen jüdisch-sowjetischer Kinder an die Shoah. Jedes Kapitel folgt dabei im Aufbau demselben Schema: Beginnend mit einer historischen Einordnung des Themas, folgen zunächst kurze inhaltliche Abrisse und Hintergrundinformationen zu den Autorinnen und Autoren sowie zur Entstehungsgeschichte des jeweiligen Werkes. In einem zweiten analytischen Part diskutiert Leingang dann Narrative und Deutungsmuster, die den Texten zu Grunde liegen.

Dabei macht Leingang die topographische Dimension von Gedächtnis als zentralem Motiv in den Erzählungen der Kriegskinder stark. Sie vertritt die These, dass die von ihr ausgewählten literarischen Werke, „den dargestellten Raum nicht nur als Handlungsschauplatz, sondern auch als räumliche ‚Erinnerungskrücken’, als visuell fassbare Koordinaten zum Medium des kollektiven Gedächtnisses werden lassen“ (S. 17). Wiederholt stellt sie dabei die Funktion von Erinnerungsorten als „therapeutische Stütze(n)“ (S. 78) für die Generation der Kriegskinder heraus. So widmet sie dem Memorialkomplex um die Mutter-Heimat-Statue in Wolgograd ein Unterkapitel in den „Stalingrader Kriegskindheiten“, verweist aber auch auf die Bedeutung weniger ikonographischer Orte wie dem Dorf Lytschkowo, wo zu Beginn der Belagerung Leningrads ein Zug mit evakuierten Kindern zerbombt wurde.

Als Ergebnis ihrer Analyse arbeitet Leingang unterschiedliche Modi der Kommunikation heraus, durch die eine generationale Zugehörigkeit in den Aufzeichnungen der sowjetischen Kriegskinder postuliert wird. Als Argument dient die Generationserzählung dazu, den Anspruch auf Opferstatus und Repräsentanz im öffentlichen Gedächtnisraum zu markieren. Dies geschieht nicht nur durch die Veröffentlichung der eigenen, oftmals fiktionalisierten Geschichten, sondern darüber hinaus auch durch die Organisation in Selbsterfahrungs- und Selbsthilfegruppen sowie in Verbänden, die sich für Privilegien, öffentliche Anerkennung und die Errichtung von Denkmälern einsetzen. Als Mythos wird der Krieg gleichsam als tiefste Zäsur und Ursprungserlebnis der eigenen Biographie beschrieben, wie Anatolij Pristawkin als wohl bekanntester literarischer Vertreter der Generation schrieb: „Mich erschuf der Krieg.“2 Nicht zuletzt begreifen die Kriegskinder das Niederschreiben ihrer Erfahrungen auch als historiographischen Auftrag und Friedensbotschaft für künftige Generationen. Eine abschließende kritische Auseinandersetzung mit dem, was die Autorin als „politics of self-generationalization“ (Bernd Weisbrod) bezeichnet, findet leider lediglich in einer Fußnote statt, in der sie die „inflationäre Applizierung der Formel Generation“ (S. 283) problematisiert.

Wie Leingang abschließend noch einmal deutlich macht, sind viele der Autorinnen und Autoren, die sie untersucht hat, „Gedächtnisaktivsten“ (S. 286), deren Schreiben maßgeblich auf intensiver Recherche und Auseinandersetzung mit der eigenen Identität fußt. Der ständige Hunger sowie die Alltäglichkeit des Sterbens sind dabei die beiden zentralen Kategorien, die ihre Erinnerungen prägen. In ihren Deutungen des Vergangenen nehmen sie oftmals eine patriotische Haltung ein, wie es bis heute das Deutungsmonopol im staatlichen Gedenken an den Zweiten Weltkrieg ist, oder treten als Korrektiv zu den hegemonialen Narrativen des sowjetischen Heldenvolkes durch Betonung der stalinistischen Verbrechen auf. Nicht zuletzt finden sich auch entpolitisierte Haltungen lokalpatriotischer Couleur, die vor allem das Leid der Zivilbevölkerung betonen.

Für ihre Analyse, so lässt sich abschließend zusammenfassen, ist es Oxane Leingang gelungen, zahlreiche, bisher noch nicht ins Deutsche übersetzte Erinnerungstexte zu erschließen. Ihre Arbeit stellt damit eine große Bereicherung für eine literaturwissenschaftlich, wie auch geschichtswissenschaftlich interessierte Leserschaft zur weiteren Erschließung des Topos Kriegskindheiten im Zweiten Weltkrieg dar.

Anmerkungen:
1 Swetlana Alexijewitsch, Die letzten Zeugen, Berlin 1989.
2 Anatolij Pristawkin, Ein Waggon geht auf Reisen, Zürich 2012.

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