Zum hundertsten Todestag Jacob Burckhardts ist eine Vielzahl von Studien erschienen, die sich dem Leben und Werk des Basler Kunst- und Kulturhistorikers widmen. Fern davon, als verstaubter Klassiker auf eine Wiederentdeckung zu warten, war das Interesse der Historikerzunft insbesondere am methodischen und geschichtstheoretischen Gehalt des Burckhardtschen Werkes auch in den letzten Jahren ungebrochen. Wichtige Arbeiten von Wolfgang Hardtwig, Joern Ruesen, Ernst Schulin, Friedrich Jaeger u.a. haben gezeigt, dass Burckhardt auch heute noch als Anregung und Ausgangspunkt fuer Theoriedebatten in der Historiographie dienen kann. Wahlweise wird Burckhardt zum Paten der Historischen Anthropologie gemacht, als Ahnherr der wieder auflebenden Kulturgeschichte bemueht oder zum Wegbereiter einer komparatistischen Methodik in der Geschichtswissenschaft erklaert. Sein vielschichtiges Werk kann als ergiebiger Steinbruch dazu dienen, fast jeden erdenklichen theoretischen Ansatz zu veredeln, und es scheint einigen seiner Interpreten zur Hauptaufgabe geworden zu sein, aus den groesstenteils nachgelassenen und fragmentarischen Schriften die Gestalt einer Theorie zu retten. Wenn auch die Burckhardt-Biographik nach dem in sieben Baenden noch unvollendet gebliebenen Werk Werner Kaegis vor einer unueberwindlichen Schwelle zu stehen scheint, reisst der Strom der Interpretationsversuche nicht ab. Zwei neue Bemuehungen mit vergleichbar monumentalem Umfang, aber von unterschiedlicher Qualitaet, liegen nun vor.
Der Goettinger Kunsthistoriker Thomas Noll, der ueber das Werk A. Paul Webers promovierte, eine Monographie ueber Van Gogh verfasste und nun an seiner Habilitation ueber Albrecht Altdorfer arbeitet, fand die Musse - etwas abseits der Kunstgeschichte - "vom Glueck des Gelehrten" Jacob Burckhardt zu handeln. Einleitend bekennt der Verfasser, dass angesichts der extensiven Burckhardt-Forschung "kein literarisches Vorhaben, das Burckhardt gewidmet ist, seine Rechtfertigung herleiten" duerfte. Vielmehr seien "eine subjektive Notwendigkeit und persoenlicher Antrieb" des Autors fuer sein Machwerk konstitutiv gewesen. Beruhigt registriert der Leser, dass von seiten Nolls kein Anspruch bestehe, auf der Hoehe der Spezialforschung zu stehen, dass nicht in die Historismus-Diskussion der Geschichtswissenschaft eingegriffen werden soll und auch keine Intervention in aktuelle Debatten der Kunstgeschichte zu befuerchten ist. Selbstgestellte Aufgabe ist vielmehr, "eine Gesamtschilderung von Burckhardts Geschichts- und Kunstauffassung" zu geben und "eine verschiedentlich andere Beleuchtung von Burckhardts Standpunkt". Weiterhin wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, "einem breiteren Kreis von Interessierten die Bekanntschaft mit Burckhardt als lohnend und beglueckend darzustellen" (S.11f.) und somit das Schicksal des Autors zu teilen. Konform zu diesen Vorgaben ist die Arbeit Nolls nach den klassischen Topoi gegliedert, die sich in sechs Abschnitten nahe am Burckhardtschen Werk bewegen: Neben der "religioesen Krisis" geht es um "Gott in der Geschichte", die "Kontinuitaet des Geistes" und die "Bilanz des Lebens", waehrend die Ausfuehrungen ueber das "griechische Ideal" und die "Unbedingtheit der Kunst" als kunsthistorische Schwerpunkte knapp ein Drittel des Raumes beanspruchen.
Ohne dem Autor die Vertrautheit mit dem Burckhardtschen Werk (auch dem zehn Baende umfassenden Briefwerk), seine kunsthistorischen Kenntnisse und seine Einarbeitung in die Historiographie des 19. Jahrhunderts absprechen zu wollen, ist die Bemuehung Nolls aus mehreren Gruenden zu kritisieren. Eine allgemeine Einfuehrung in das Werk Burckhardts verfehlt m.E. ohne besondere Fragestellung oder These ihren Zweck, wenn sie wie im vorliegenden Fall derart deskriptiv und raumgreifend verfaehrt, dass sie ueberwiegend aus Zitaten oder - noch aergerlicher - aus indirekter Rede und Paraphrasierungen Burckhardts besteht. Es ist nicht notwendig, den Inhalt der "Kultur der Renaissance" oder der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" ein weiteres Mal zu referieren, wenn dies nicht mit einer eigenstaendigen Interpretationsanstrengung verknuepft werden kann. Auch ist einen 80seitigen Abriss ueber historistische Geschichtsphilosophie, in dem nacheinander allseits Bekanntes ueber Ranke, Hegel, Droysen usw. abgehandelt wird, ohne wirklich mit Burckhardt in Beziehung gesetzt zu werden, ueberfluessig (S. 48-128) - ebenso wie eine extensiv geratene Behandlung des Winckelmannschen Kunstbegriffs (S. 270-299). Dass "bei Gemeinsamkeiten zwischen Hegel und Droysen wiederum abweichende Auffassungen zu beobachten" seien und das "Verhaeltnis zur Vorsehung jeweils unterschiedlich sei" (S. 105) oder dass Winckelmann wie Burckhardt "zur Bestimmung und Vermittlung des Kunstschoenen" beitragen wollte (S. 298f.), liest sich auf weite Strecken eher banal und hat keinen grossen Neuigkeitswert, zumal, wenn der Autor selbst in die Diktion des vorigen Jahrhunderts abgleitet und jeglichen begrifflichen Distanzierungs- oder Klaerungsversuch vermissen laesst. Jenseits der hermeneutischen Probleme, die damit aufgeworfen werden, geht dies vor allem auf Kosten der Lesbarkeit. Diese wird durch haeufige Querverweise und Erklaerungen, was alles nicht vom Autor behandelt werden soll, ausserdem nicht beguenstigt, ja ueberschreitet die Grenze der Zumutbarkeit.
Gerade das im Rahmen der Vorlesung "Ueber das Studium der Geschichte", die als "Weltgeschichtliche Betrachtungen" bekannt wurden, eingefuehrte Krisenschema und die Lehre von den drei Potenzen Staat, Religion und Kultur haetten - bei aller Wertschaetzung fuer ihren innovativen Gehalt - auch kritisch auf inhaerente Widersprueche ueberprueft werden koennen, wie dies in der zwar von Noll zitierten, aber anscheinend nicht zur Kenntnis genommenen Spezialforschung seit Jahren geschieht. Wie vertraegt sich beispielsweise der von Burckhardt betonte Prozesscharakter der Krise mit seiner Negation jeder Entwicklung in der Geschichte insgesamt? Warum kommt Burckhardt trotz seiner Krisenphaenomenologie nie zu einem kausalen Erklaerungsversuch ihrer Faktoren und scheitert an einer fruchtbringenden Verbindung zu seiner Lehre von den drei Potenzen? Wie steht es mit der Vergleichbarkeit, wenn neben der franzoesischen Revolution als Vorbildkrise nur noch die Zeit der Voelkerwanderung und die Reformation als wirkliche Krisen empfunden werden? Das sind nur wenige von vielen offenen Fragen, die immer noch Eroerterung verdienen.
Wenn die kulturkritische und sozialkonservative Sicht des Baslers auch in duesteren und grollenden Sentenzen die zivilisatorische Endkrise ankuendigt und damit ex post faszinierende Einsichten in die Risiken des industriellen Zeitalters ermoeglicht, wird die einseitige Wuerdigung seiner weltabgewandten Gelehrtenperspektive Jacob Burckhardt niemals vollstaendig gerecht. Der biographische Ansatz, Burckhardts praegende Erfahrungen (frueher Tod der Mutter, Zeugenschaft der 1848er Revolution, religioese Skepsis und Hinwendung vom Theologie- zum Geschichtsstudium, die akademischen Lehrer Ranke, Boeckh und Droysen) mit dem Werk in Verbindung zu bringen und seinen geradlinigen Weg zu einem gegen den Positivismus gewendetem humanistischen Wissenschaftsverstaendnis zu rekonstruieren, ist zwar schluessig, wirft aber auch weitere Probleme auf. Anstelle einer einseitigen Idealisierung einer individualisierten Gelehrtenexistenz, die nicht zuletzt der betraechtlichen Selbststilisierung Burckhardts geschuldet ist, waere es angebrachter, auch die problematischen Aspekte der Geisteshaltung Burckhardts zu untersuchen: seine antisemitischen Neigungen, die Anfaelligkeit fuer vitalistisch-biologistische Theorien, Burckhardts antimoderne Kultur- und Demokratiekritik gepaart mit einem elitaeren Aristokratismus - diese Elemente zwingen dazu, das Bild des Ausnahmegelehrten kritisch zu korrigieren. Doch davon findet sich in Nolls uebertrieben harmonisierender Arbeit keine Spur.
Von diesem insgesamt anachronistischen und trotz des Umfanges oft oberflaechlichen "Versuch" hebt sich die in Berlin bei Wolfgang Hardtwig entstandene Dissertation von Juergen Grosse deutlich ab. Seiner Studie "Typus und Geschichte" liegt ein weitaus fruchtbarerer Ansatz zugrunde. Die "allseits zugestandene Inkomparabilitaet Burckhardts" soll gerade durch die Suche nach Exemplarischen bzw. Paradigmatischen destruiert und das Lebenswerk in den umfassenderen Rahmen der europaeischen Praesenz-Metaphysik eingeordnet werden. Grosses umfassende philosophische Fragestellung, die weit ueber die kunst- und kulturgeschichtliche Methodik Burckhardts bzw. dessen Einordnung in die Epoche des Historismus hinausgeht, kann auf vielfaeltige Weise interpretatorisches Neuland betreten. Der Verfasser nimmt die Burckhardtsche Praemisse, keine Methode zu haben ("jedenfalls nicht die der andern") insofern ernst, als dass er sich nicht allein auf dem Weg eines wortgeschichtlichen und eines rein problemorientierten Ansatz seinem Gegenstand naehert. Zu vielfaeltig und insbesondere zu uebergangslos ist dafuer die Begrifflichkeit Burckhardts. Sie kreist um Kernbegriffe wie "Geist", "Gestalt", "Kultur", "Welt", "Prozess", "Typus" etc., die sich alle schwerlich auf eine klare Definition reduzieren lassen und groesstenteils mit idealistischem und romantischem Bedeutungsgehalt aufgeladen sind. Die wesentlichen Begriffe des Burckhardtschen Werkes werden unter Beruecksichtigung bestimmter Funktionsanalogien zwischen Leben und Werk diskutiert und im Kontext der Ausformung des Geschichtsbewusstseins bei Burckhardt verdeutlicht.
Im Mittelpunkt steht aber die Beschreibung der spezifischen Methodik, die Burckhardt in seinem "okularen Modell historischer Erkenntnis" (S. 25) entwickelt. Da Burckhardt vor allem nach typischen Phaenomenen und Gestaltungen in der Geschichte sucht, die das "Geistige", i.e. das "Geschichtliche", offenbaren und in ihren Erscheinungsformen vergleichbar sind, loest er sich vom prozessuralen, fortschrittsorientierten Geschichtsdenken seiner Zeit. Grosse analysiert diesen phaenomenologischen Zugriff, indem er vor allem Parallelen zur Burckhardtschen Kunstbetrachtung herausstellt (Kap. 2) und die historische Perspektive Burckhardts im Hinblick auf Gestalt (Kap. 3), Struktur (Kap. 4) und Prozess (Kap. 5) durchleuchtet. Der Autor erkennt eine methodische Eigenart Burckhardts darin, "Gestalt" nicht nur als formale Seinsbeschreibung aufzufassen, sondern im Benennen eines Gestalthaften bereits einen kreativen Akt zu vollbringen. Die eigentliche Auswahl einer Gestalt wird zu einem Hineinsehen: "Gestaltschau via Typologie bedeutet Burckhardt beides: Typenbildung und Typisierung." (S. 317) Von dieser Grundlage aus gesehen und aufbauend auf den unveraenderlichen anthropologischen Konstanten, die den Menschen und die Geschichte bei Burckhardt ausmachen, koennen "Gedankenbilder" aus allen Zeiten vergleichend und zeitindifferent betrachtet werden.
Konstitutiv fuer Burckhardts Erfassung von Strukturen ist das Erleben von Technisierung, Entindividualisierung und Unifikation aller Lebensbereiche im 19. Jahrhundert. Diese Erfahrungen der Moderne, gepraegt durch Militarisierung und Buerokratisierung, fuehren in kulturpessimistischer Sicht Burckhardts zur eskapistischen "Einrichtung eines Lebens im Konjunktiv" (S. 403). Auch fuer Grosse bleibt implizit der unaufloesliche Widerspruch zwischen Burckhardts Wahrnehmung der weit zurueckliegenden Epochen und der strukturellen Andersartigkeit seiner Gegenwart, des "Revolutionszeitalters". Kann die Antike noch in aesthetisierender Sicht in ihrer Gestalthaftigkeit betrachtet werden, so wird die Gegenwart fuer Burckhardt nur noch in komplexen Strukturen fassbar. An dieser Stelle bleibt die Frage, ob ein Auseinanderdividieren der Unterschiede zwischen Gestalt und Struktur, wiewohl beide das "Typische" zu eruieren suchen, nicht lediglich an Burckhardts Verstehensvermoegen orientiert bleibt und letztlich nur inhaerente Widersprueche in seinem Geschichtsdenken offen legt. Wenn der Verfasser Burckhardt darin folgt, dass der "napoleonische Caesar nicht mehr sultanisch selbstherrlich waltender Despot im alten Sinne, sondern bloss personifizierte Struktur" sei und somit Funktion Gestalt ersetze (S. 419), erklaert das m.E. noch nicht, warum z.B. das roemische Kaiserreich weniger von Strukturen gepraegt gewesen sein koennte.
Die Zeit bleibt schon im Burckhardtschen Gestaltbegriff ausgegrenzt und in den "Strukturen" gleichsam stillgestellt. Realgeschichtlichen Kontinuitaeten oder evolutionaeren Ideen bringt Burckhardt - wie weithin bekannt - Misstrauen entgegen, doch Grosse weist ueberzeugend nach, dass Burckhardt sich von einem Telos nicht loesen kann und die Sinnhaftigkeit von Geschichte auf anderer Ebene sucht: Da das "Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten" und damit das "Wiederholende" und "Typische" betrachtet werde soll, ist Geschichte dann eine "Geschichte des Sinns". Dieses gegenwartsorientierte Erkenntnisinteresse kann zurecht als eine "Praesenz-Metaphysik der Zeit" bezeichnet werden (S. 488) und birgt bei gleichzeitiger Absage an jeden aeusseren Entwicklungsgedanken bei Burckhardt die Gefahr, dass jeder Prozess und jede Krise nur als zyklische Erscheinung isolierter Selbstreinigungsprozesse wahrgenommen werden kann. Dass neben dieser Verlagerung des Telos auf die Perzeptionsebene Burckhardt auch in der Geschichtsbetrachtung nicht vollstaendig auf teleologische Elemente verzichtet, verschweigt Grosse nicht. Sowohl die "historische Weltbewegung" insgesamt wie auch die zweckgerichtete Entwicklung innerhalb einer "geschichtlichen Krise" bleiben erklaerungsbeduerftig. Ein "vitalistisch getoente Historismus" mit einer auf das eigentliche "Centrum", auf den Menschen, konzentrierten Fragestellung sieht sich zudem vor dem Problem, dass nicht immer Gestalt annimmt, "was anthropologisch immer da ist". Darum ist Grosses Kritik vorbehaltlos zuzustimmen, wenn er fuer Burckhardt feststellt: "Je weniger realgeschichtlicher Zeitsinn, desto mehr Gestalt- und Mittelpunktsmetaphorik." (S. 346f.)
Das vorliegende Werk beeindruckt nicht nur durch seine Vielseitigkeit, seine originelle Herangehensweise und sein hohes Reflexionsniveau. Grosse praesentiert uns aus dem Briefwerk und aus archivalischen Quellen vieles Neue, was das Profil Burckhardts ueber die extensiv zitierten "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" hinaus schaerft.
Der geistesgeschichtliche Horizont Burckhardts, seine Einfluesse und Anregungen, werden nicht wie in der Arbeit Nolls einfach referiert, sondern jeweils in den werkgeschichtlichen Kontext eingepasst. Dabei bleibt dem Leser auch nicht vorenthalten, dass im Burckhardtschen Werk "die brachialen Ess- und Verdauungsmetaphern Hegels" fehlen (S. 136) und Burckhardt ("hilflos im maritimen Handlungsfeld") statt dessen "fast gleichlautende Formulierungen" mit den "historistischen Gewaesser-Metaphorikern" Gervinus und Ranke teilt sowie marxistische "Larven- und Maskenmetaphorik" verwendet (S. 463ff.). Waehrend dies zwar nicht unbedingt erkenntnisnotwendig, aber wenigstens amuesant ist, treibt Grosses wissenschaftssprachliche Anstrengung allerdings zu oft zweifelhafte Blueten: Wenn "der leibhaftige Typus seine Ueberzeugungskraft einer physiognomischen Praesenz im Physischen" verdankt (S. 341), dient dies nicht unbedingt der Aussagegenauigkeit. Trotz dieser sprachlichen Umstaendlichkeiten, die die Frage stellen, ob wissenschaftliche Arbeiten nicht auch allgemeinverstaendlich abgefasst werden sollten, und einiger Redundanzen (auch was doppelte Zitationen betrifft) liest sich Grosses Studie mit grossem Gewinn und zeigt sich durchweg auf der Hoehe des Forschungsstandes. Bedauerlicherweise ist allerdings der im Manuskript der Dissertationsschrift enthaltene allgemeine Ueberblick zur Literatur ueber Burckhardt entfallen und Biographisches - vom Autor an einigen Stellen mit viel Einfuehlungsvermoegen und sehr kenntnisreich eingearbeitet - kommt insgesamt zu kurz. Eine handliche Einfuehrung in das Werk Burckhardts bleibt demnach immer noch ein Desiderat, das die allzu spezialisierte Burckhardt-Forschung bis jetzt noch nicht zu erfuellen in der Lage gewesen ist.