Titel
Die Einheit des Wissens.


Autor(en)
Wilson, Edward O.
Erschienen
Berlin 1998: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
442 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido O. Kirner, Berlin

Der biologische Gral des Wissens

"Der menschliche Geist hat sich so entwickelt, dass er an Goetter glaubt, nicht an Biologie." Daraus entsteht das "spirituelle Dilemma der Menschheit, dass unsere genetische Entwicklung dafuer gesorgt hat, dass wir an eine bestimmte Wahrheit glauben, aber eine andere entdeckt haben." Diese Aeusserungen fassen knapp das unterschwellige Grundproblem zusammen, welches das neue Buch des an der Harvard-Universitaet lehrenden Biologen und beruehmten Entomologen (Ameisenforscher) Edward O. Wilsons durchzieht. Der deistische Humanist - so sieht sich Wilosn selbst - glaubt im wahrsten Sinne des Wortes an die Wissenschaft. Sie ist fuer ihn die "kuehnste Metaphysik des modernen Zeitalters" und zugleich die "Basis fuer eine wahrhaft demokratische globale Kultur". Schon dadurch wird deutlich, dass es Wilson weniger um eine optimistische Suche nach der "Weltformel" geht, als um die Kreation eines neuen rationalen Mythos aus der "materialen Geschichte des Universums und der Spezies Mensch". Das Epos von der "natuerlichen Einheit allen Wissens" wird in seiner modernen Variante nunmehr in der Sprache der Evoltionsgenetik erzaehlt.

Man darf Wilson deshalb keine positivistische Religionskritik unterstellen. Sie ist auch kein "Opium fuers Volk". Vielmehr ist nach seiner Ueberzeugung der Mensch sogar genetisch religioes veranlagt, weil er sich im Verlauf der Evolution zu einem Wesen entwickelt hat, dass ohne Mythos nicht leben kann und das Gefuehl haben muss, dass es einen hoeheren Sinn fuer alles gibt. Das empirische Wissen ueber die Religion lege nahe, "dass das Gehirn eine Maschine ist, die nur zu Ueberlebenszwecken konstruiert wurde und nicht, um sich selbst zu verstehen ... Ihre Anpassungsfaehigkeiten [tausender Generationen] fanden sich eher durch Mythen und Selbsttaeuschungen, Stammesidentitaeten und Rituale, als durch die Suche nach objektiver Wahrheit."

Auch moechte er nicht als fortschrittsglaeubig gelten, wenn darunter die Annaeherung an ein festgestecktes Ziel im Sinne einer vom menschlichen Verstand hergestellten Absicht gemeint ist, denn die Evolution kenne keine festgesteckten Ziele. Wenn damit aber die Entwicklung von immer komplexeren und kontrollfaehigeren Organismen und Gesellschaften mit zumindest erkennbaren Abstammungslinien und der staendigen Moeglichkeit von Regressionen verstanden wird, dann ist fuer ihn evolutionaerer Fortschritt eine offensichtliche Realitaet.

Bevor man also das Buch mit dem abfaelligen Stigma der gaengigen Vorstellungen eines szientistischen, fortschrittsglaeubigen und evolutionistischen Biologismus oder gar Rassismus behaftet, sollte man es lesen. Nicht nur, weil Schubladendenken meist zu kurz greift, sondern auch, weil Wilson ungeachtet der Tatsache, ob man seinen Hauptthesen beipflichtet, ein provokantes, mutiges und faszinierendes Buch geschrieben hat.

Provokant wirkt so manche Polemik, die sich wohl auch aus seiner persoenlichen Biographie erklaeren laesst. Seine Auseinandersetzung mit der theistischen Religion, welche sich immernoch mit "Vorstellungen eines Volkswissens aus der Eisenzeit" belaste, sollte vor dem Hintergrund seiner Herkunft aus dem strengglaeubigen baptistischen Milieu der USA gesehen werden. Seine Abneigung gegen die postmoderne Philosophie hingegen - insbesondere gegen die Grammatologie Derridas, die er als fragmetarisches, banales und zugleich phantastisches Gegenteil von Wissenschaft mit der Inkohaerenz von Traeumen brandmarkt - sowie gegen neue Arbeitsbereiche und Denkschulen im Rahmen der postmodernen akademischen Industrie hat wahrscheinlich einerseits etwas mit den Eigenheiten der amerikanischen Universitaetslandschaft zu tun, "wo sie wie Pilze aus dem Boden schossen", andererseits mit ihrer als politisch-ideologisch empfundenen Ignoranz vor den Erkenntnissen der Hirnforschung, Evolutionsbiologie, experimentellen Psychologie sowie Soziobiologie.

Mutig ist das Buch schon deswegen, weil jemand den viel zu seltenen Versuch gewagt hat, ein ueber sein eigenes Spezialgebiet hinausgehendes und auch fuer den naturwissenschaftlichen Laien verstaendliches Buch zu schreiben, dabei in neueste Forschungsbereiche einfuehrt, ohne dass man den Eindruck gewinnt, mit populaerwissenschaftlichen Plattheiten abgespeist zu werden.

So ist es dann auch faszinierend, in die Welt der Gene, der Nucleinsaeure- und Aminosaeurecodes, der Proteine, der Allele, der Neuronen, Neuriten und Dendriten, der Neurostransmitter, der Pheromone etc. einzutauchen, wenn dabei gleichzeitig von der Funktionsweise unseres Gehirns und damit unseres Verstandes, Bewusstseins, Gedaechtnisses, Traeumens, der Reziprozitaet von Koerper und Geist, der Einheit von Emotion und Vernunft, - letztendlich von unserem 'Ich' die Rede ist. Ihm gelingt es dabei meisterhaft das Gefuehl hervorzurufen, dass es kaum mehr legitim erscheint, eine philosophische Erkenntniskritik oder sozialwissenschaftliche Handlungstheorie ohne Rueckkopplung an die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung zu vertreten. Freilich uebersieht er dabei beflissentlich, dass dies laengst geschieht, sind doch seine Gegner aeusserst einseitig gewaehlt.

Aber auch hier sollte Wilson nicht missverstanden werden, denn er vertritt keinen evolutionsbiologischen Determinismus des menschlichen Denkens. Diesen kann es seiner Ansicht nach gar nicht geben, zumindest nicht im Sinne eines Kausalprinzips analog zu den physikalischen Gesetzen. Was Wilson aber einklagt ist die Beruecksichtigung der materialen bzw. physiologischen Grundlagen unseres Denkens. Nur Verrueckte und eine paar konstruktivistische Philosophen koennten bestreiten, dass ausserhalb des Kopfes eine von uns unabhaengige Welt existiere. Innerhalb des Kopfes exisitiere eine Rekonstruktion dieser Realitaet, basierend auf Sinnesreizen und selbstentworfenen Vorstellungen, die den Verstand formen, und keine unabhaengige Entitaet im Gehirn. Das Gehirn sei aus evolutionsbiologischer Sicht eben "nur zufaelligerweise imstande, die Welt besser zu verstehen, als es fuer das Ueberleben notwendig ist".

Aber gerade in dieser Aussage liesse sich m. E. ein wahres "Wunder" der Evolution erkennen, heisst es doch an anderer Stelle, dass sich die biologische Leistungsfaehigkeit einer Lebensform gemaess der natuerlichen Auslese nur so lange entwickle, bis die Tauglichkeit des Organismus fuer die Niesche, die er ausfuellen soll, maximiert ist, und nicht einen Schritt weiter, so dass er zum Zweck der differenzierten Ueberlebens- und Reproduktionsfaehigkeit nur mit dem dafuer notwendigsten ausgestattet wird. Bleibt also die Frage, wieso die Lebenform homo sapiens, jener schmalnasige Altweltaffe, die Faehigleit entwickelt hat, ueber sich und den Sinn des Lebens nachzudenken? Eine mir einsichtige und schluessige Antwort hat mir Wilsons Buch auf diese Frage nicht geben koennen.

Wilsons eigentliches Anliegen ist jedoch der buchstaebliche "Zusammensprung" des Wissens bzw. die Vernetzung der verschiedenen Wissensbereiche, zumal der sich gegenseitig entfremdeten Natur- und Geisteswissenschaften. Verkuerzt handelt es sich dabei um die Vorstellung, dass auf der methodologischen Basis des naturwissenschaftlichen "Reduktionismus" die verschiedenen Wissenschaftsbereiche in ein "konzentrisches Denken" einmuenden sollen, welches es ermoeglicht, von jedem gedanklichen Standpunkt aus disziplinuebergreifend (sein Kampf gilt dem fragmentierten, atomisierten professionellem Sachverstand) ein einheitliches Weltbild vom Menschen und der Natur zu rekonstruieren. Dazu muessen die verschiedenen Ebenen von Raum, Zeit und Komplexitaet in ihrer kausalen Interaktion miteiander verknuepft werden, so dass hierarchisch strukturiert von den Genen ueber die Zellen zum Gewebe bis schliesslich in das Gehirn und zum Verhalten ihre wechselseitige Bedingtheit und damit Einheit nachvollzogen werden kann. Der Schluessel zum "Gral" dieser "Einheit des Wissens" sind fuer Wilson die neuen, wenn auch noch unzureichenden Entdeckungen der Hirnforschung. Er gibt zu, dass er seinerseits groesstenteils noch "Lueckenforschung" betreibt, doch laegen bereits genug Ergebnisse vor, um die gemeinsame Grenze der zwei Wissenkulturen zu ueberschreiten und auf Basis der emprisch-naturwissenschaftlichen Forschung zu verbinden.

Um die Bruecke von der Natur zur Kultur zu schlagen, vertritt Wilson das Konzept der "genetisch-kulturellen-Koevolution" und der "epigenetischen Regeln". Es beruht auf der Ueberzeugung, dass der genetischen Evolution durch das Menschengeschlecht das Parallelgleis einer kulturellen Evolution hinzugefuegt wurde und beide Evolutionsformen miteinander verbunden sind, wobei die "Kultur vom kollektiven Verstand erschaffen wird und jeder einzelne Verstand seinerseits das Produkt des genetisch strukturierten menschlichen Gehirns ist. Gene und Kultur sind daher untrennbar, jedoch flexibel und bis zu einem gewissen Grad unbestimmt, miteinander verbunden. Die Gene legen die sogenannten "epigenetischen Regeln" fest, d.h. "die Regelmaessigkeiten bei der Aufnahme von Sinnesreizen und bei der geistigen Entwicklung, welche zum Erwerb von Kultur animieren und diese kanalisieren. Kultur traegt zur Bestimmung bei, welche dieser praeskriptiven Gene ueberleben und sich von einer Generation zu naechsten vermehren. Erfolgreiche neue Gene veraendern die epigenetischen Regeln von Populationen und die veraenderten epigenetischen Regeln wirken sich wiederum auf die Richtung und die Effektivitaet der zum Erwerb von Kultur noetigen Kanaele aus."

Auf Grundlage dieses Konzeptes betreibt Wilson nach einer Einfuehrung in die Soziobiologie, d.h. der genetischen Grundlagen menschlichen Verhaltens (kulturelle Universalien), eine "Archaeologie der epigenetischen Regeln" in den Gebieten der Sozialwissenschaft, Kunst/Interpretation und schliesslich Religion/Ethik.

Dabei stoesst der fachfremde Leser auf allerlei Interessantes, dass zu weiterer Vertiefung anregt, wenn auch zugegebenermassen mit skeptischen Vorbehalten, wenn etwa z.B. von einem genetisch fundierten Hang zur Vertragsbildung, von "aestethische Universalien" in der Kunstinterpretation, noch erstaunlicher vom "Moralisntinkt" oder den "Altruismusgenen" als Reproduktionsvorteil die Rede ist. Nachvollziehbarer ist die Aufforderung, dass es einmal Zeit waere oekonomische Theorien auf die Grundlage des "primitiven Denkens" (C. R. Hallpike) zu stellen als von einem rational choice Ansatz auszugehen. Ich werde aber das Gefuehl nicht los, dass mit der Hyothese von den "epigentischen Regeln", wenn auch auf faszinierende Weise und mit zahlreichen interessanten Ausfuehrungen und Exkursen, nichts anderes erzaehlt wird, als dass der Mensch in seiner kulturellen Interaktion auch ein biologisches, auf physiologischen Prozessen basierendes Wesen ist. Wer damit keine Probleme hat, wird sich von der teilweise pointierten Rhetorik nicht beeindruckt lassen.

Uebrigens scheint Wilson selbst vom Einheitsprinzip in den Naturwissenschaften ueberzeugt zu sein, wobei sich doch zumindest seit Einsteins Relativitaetstheorie, Bohrs Begriff der Komplementaritaet und Heisenbergs Unschaerferelation die umstuerzende Wende zum relationalen Charakter der physikalischen Erkenntnis vollzogen hat. Auch in den Naturwissenschaften existieren heute anscheinend unterschiedliche "Weltbilder".

Zum Schluss koennen wir aber getrost noch einige Lehren mit auf den Weg nehmen: Der "ideale Wissenschaftler denkt wie ein Dichter, arbeitet wie ein Buchhalter und schreibt ... wie ein Journalist; Er "muss gescheit genug sein, um erkennen zu koennen, was getan werden muss, darf aber nicht so gescheit sein, dass er sich dabei langweilt."; Ein "exakter Beweis ist das, was einen uneinsichtigen Menschen ueberzeugt."; "Wir ertrinken in Information und duersten nach Einsicht. Die Welt der Zukunft wird von Synthetisierern beherrscht werden."

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