Schon 2003/04 hat sich Valentin Groebner mit Problemen der „Visibilität“ (Erving Goffman) eingehend beschäftigt. In seinem Buch „Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter“ (München 2003) zeichnete er unter anderem frühe Techniken zur machtfundierten Markierung von Personen, ihrer Registrierung und Identifizierung nach und entwickelte schon hier die These, dass die Idee der (körperlichen) Individualität von beglaubigter Identität zu unterscheiden sei. Nicht die Singularität der Person in Raum und Zeit, sondern ihr Name und ihre vielfache dokumentarische Bestätigung erzeuge die Gewissheit von Identität: Das immer Selbige in Bild oder Schrift affirmiert sich gegenseitig, ohne dass damit wirklich eine Person erfasst wäre.
Diesem Dilemma widmete sich Groebner dann auch im Buch „Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters“ (München 2004) – inspiriert durch das „Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit“, unter der Regie von Michael Stolleis am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte. 2004 erschien in dieser Reihe der erste Band zu den „Ordnungen der Reichsstädte“, zuerst zu Frankfurt am Main. Der Prospekt lässt nichts von dem Soupçon erkennen, mit dem Groebner im Gefolge Foucaults die Freunde des Mittelalters das Fürchten lehrt. „Die über 5.000 erfaßten Policeygesetze dokumentieren“, heißt es hier eher bewundernd, „daß sich bereits in den spätmittelalterlichen Reichsstädten ein ausgeprägtes Ordnungsbedürfnis entwickelte, das zunehmend viele Bereiche des städtischen Lebens erfaßte.“ Dagegen attestierte Christian Jaser dem Historiker Groebner den Röntgenblick für Tatbestände der Derealisierung in der Erfassung von Personen; nicht nur der Schein aus Papier, also der Pass, sondern gerade auch das unsichtbare Andere komme im Begriff „Schein“ auf Deutsch zum Ausdruck: die Unwirklichkeit, der Trug, die Dissimilation und Herstellung von Unähnlichkeiten, die das Bestreben der „guten Policey“ gerade konterkarieren wollte.1 Das Auftauchen von Hochstaplern, etwa des von Natalie Zemon Davis beschriebenen, aber doch wohl singulären angeblichen Martin Guerre, könnte als Beleg dienen.
Den in der Schweiz lehrenden Historiker Groebner hat das Thema jedenfalls nicht losgelassen. Dass er heute, rund zehn Jahre später und ausgehend von der Omnipräsenz plakatierter Gesichter im öffentlichen Raum der Gegenwart, erneut über die Frage der visiblen Identität reflektiert, wird mit der Vorgeschichte der fazialen Emotionen zusammenhängen, die ja keineswegs auf das Passfoto oder überhaupt auf Malerei und Fotografie beschränkt ist. Auch die spezifisch schweizerische Tradition des Nachdenkens über das Äußere des Menschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dürfte hier Pate gestanden haben; gemeint ist das physiognomische Apriori unserer sozialen Existenz.
Als der Schweizer Pfarrer Johann Kaspar Lavater 1772 seinen ersten Vortrag über die Physiognomik vor der Naturforschenden Gesellschaft als Sonderdruck veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, welche Lawine er damit und mit dem bald – 1775 bis 1778 – folgenden Hauptwerk der „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenliebe und der Menschenkenntniss“ auslösen würde. Er konnte nicht ahnen, dass Ärzte wie der Österreicher Franz Joseph Gall oder Biologen wie Charles Darwin ein glühendes Interesse an dieser Art von Menschenkenntnis entfalten würden. Unter ärztlicher Ägide und anonym erschien Lavaters frühe Studie; ermuntert hatte ihn dazu der Schweizer Leibarzt des Hannoverschen Königs, Johann Georg Zimmermann, dem die physiognomische Perspektive außerordentlich zupass kam. 1764 war sein bekanntes Kompendium „Von der Erfahrung in der Arzneykunst“ erschienen, mit dem großen Kapitel zum „Genie der Beobachtung“, das dem guten Arzt unerlässlich sei. Dieses Genie fand er in Lavaters Zugang am Werke – wenn schon nicht ärztlich beglaubigt, so doch gedanklich und literarisch inspiriert.
Beobachtende „Menschenkenntnis“, phänotypische Psychologie, wurde um 1800 zum Schibboleth sozialer Umbrüche durch Revolution, Krieg und wachsende Großstädte. Regelrechte physiognomische Curricula gelangten bis in die pädagogischen Statuten der aufklärenden Freimaurer, vor allem der Illuminaten. Dass der Hannoveraner Illuminat Knigge in seinem revolutionären Bestseller „Vom Umgang mit Menschen“ (1788) keine physiognomischen Lehren erteilte, war der unmittelbaren Konkurrenz zu Lavater geschuldet: Knigge verfuhr eben nicht deskriptiv, sondern präskriptiv.
Deskriptiv dagegen argumentierten die Schriftsteller seit und neben Lavater. Die europäische Romankunst zwischen 1800 und 1945 ist ohne physiognomische Perspektiven nicht zu denken. Peter von Matt, Schweizer Literaturhistoriker, brach vor rund 30 Jahren mit seiner Studie zur „Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts“ (München 1983) dieser Erkenntnis breite Bahn. Dass im Roman des „Jahrhunderts der Fotografie“, sei er symbolisch, realistisch oder naturalistisch, das physiognomische Apriori, also vor allem das Gesicht als Seismograph nahezu sämtlicher Konflikte agiert (Liebe, Lüge, Trauer, Hass, Schönheit, Fremdheit usw.), ist mittlerweile akademischer Konsens – auch wenn neuerdings genau diese Schlüsselrolle lieber als Zeichen größter Unsicherheit definiert wird. Dabei zeigt ein Blick auf die hintere Umschlagklappe von Groebners Buch (mit einer Zeichnung seiner kleinen Tochter als „Autorenporträt“): Frühe Kinderzeichnungen mit ihrer Vorliebe für „Kopffüßler“ belegen, dass Gesichter das Deep Learning der sozialen Interaktion fundieren und sicher auch immer fundieren werden.
Inzwischen gibt es kaum noch eine humanwissenschaftliche Fakultät ohne Tagungen zur vergleichenden Physiognomik: zu attraktiv ist die Fülle der visuellen Medien mit ihren jeweiligen Gesichtsentwürfen, zu abschüssig aber auch die Bahn ins rein Dekorative der Emoticons und Smileys, die heute fast jede Ware affizieren. Und hier, beim Übergang des Gesichts in Ware, setzt Groebners faszinierendes drittes Buch zum Thema ein. Es ist ein Buch über artefaktische Gesichter, ähnlich wie kürzlich bereits von Sigrid Weigel vorgelegt2; aber anders als sie will Groebner jeden Kontakt zur Physiognomik streichen. Die These lautet: Nichts Lebendiges wird anhand eines Bildes erkannt. Schärfer als Hans Belting, der vor zwei Jahren eine generelle Maskenhaftigkeit aller Gesichter konstatierte3, fragt Groebner nun im Subtext: Sind nicht alle Porträts einfach nur Münzprägungen mit Ewigkeitsgarantie, eine geldförmig mystische Ware, deren Golddeckung das Gesicht Jesu Christi ist? Wie Belting und auch Horst Bredekamp4 handelt Groebner ausführlich von dieser Golddeckung, der vera icon.5 Von dieser rein christlichen Prägung leitet sich der faziale Furor des Westens seit dem byzantinischen Bilderstreit ab; sie schlägt die Brücke zwischen der antiken und der nachchristlichen Bildniswut.
Vier Kapitel widmet Groebner der westlichen Gesichtsgeschichte, geschrieben in leichter, egohistorischer Narration, die abwechslungsreich zwischen Theorie und historischer Vignette, forschungskritischen Kommentaren und höchst persönlichen Erfahrungen wechselt. Zwischen „Gotischen Charakterköpfen“ und der „Sehnsucht nach dem Supergesicht“ bewegt sich der Diskurs über das Mittelalter, dessen ausgewiesener Historiograph Groebner eigentlich ist. Wenn er sich in den Folgekapiteln als Kunsthistoriker, Fotohistoriker und schließlich Screen-Fachmann erweist, kann sich der Leser glücklich schätzen. Denn die einleitende Frage: „Woher kommen die sprechenden, lächelnden und zwinkernden Gesichter auf den Plakaten des 21. Jahrhunderts?“ (S. 12) lässt sich nicht anders als mit Rekurs auf die artefaktische Fazialgeschichte beantworten, die für Groebner aus der vera icon hervorgeht. Und mit der Präzisierung dieser Frage rührt er letztlich an ein seltsames Tabu unserer Mediengeschichte: „Mir geht es um Bilder von Gesichtern als Instrumente für simulierte Ähnlichkeiten, um Identifikationsfiktionen – Bilder, in denen die Betrachter sich selbst wiedererkennen sollen, oder die ihnen suggerieren, dass sie einem echten Akteur gegenüberstehen, der sie anspricht.“ (ebd.)
Dass Groebner genau dieses für seine Fragestellung wichtigste Format in der Vorrede unerwähnt lässt – nämlich das Spiegelbild –, erweist sich im Lauf des Buches als raffinierte Leerstellendidaktik. Denn fast alle hier behandelten säkularen Bilder, vor allem die fotografischen, können in diese Leerstelle eintreten, können von den Betrachtern als Bilder ihrer selbst erlebt werden und finden sich von den Herstellern auch in diese Leerstelle platziert. Plakate wie jenes berühmte „I WANT YOU“ von Lord Kitchener alias Uncle Sam, der Kriegsfreiwillige mit Zeigefinger und glühend blauem Blick in einen Dialog verwickelte, simulieren zwar noch kein Spiegelbild, sind aber unterwegs zu diesem. So gewinnt das einzige von Groebner (auf S. 149) wirklich gezeigte Plakat des 21. Jahrhunderts eine wuchtige Effizienz. Nicht mehr ein Dialog zwischen Ich und Du, sondern das reine Spiegelbild erscheint. Das doppelt angelegte Plakat zeigt zwei junge Leute, lässig gekleidet, mit einem Ausweis in der Hand und Blick auf den Betrachter, neben dem Satz: „Ich entscheide. Mit Herz und Hirn.“ Oder „Ich entscheide. Aus Verantwortung.“ Beides sind Plakatmotive der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (<http://www.organspende-info.de>), Teile einer Kampagne, die sich selber mit einem kleingedruckten „Das trägt man heute: den Organspendeausweis“ ausweist. Die Pointe dieser Plakataktion notiert Groebner fast erschrocken: Das Ich, mit dem man sich identifizieren soll, ist schließlich im Erlebensfall tot.
Die Zielgerade des Buches, in Gestalt dieser Plakate, berührt ein Grundproblem der Porträtgeschichte. Denn tatsächlich beschreibt Groebner ja unfreiwillig die vampirische Subgeschichte aller Porträts, seitdem es einen Mythos von Narziss gibt. Schon Kitcheners Plakat verlangte eigentlich den potentiellen Tod des Betrachters – nämlich des jungen Mannes, der sich in den Krieg ziehen ließ. Das physiognomische Apriori, dass ein lebendiger Mensch mit seinem ganzen Körper in einen phänotypischen Dialog mit einem anderen lebendigen und ganzen Körper tritt, sich mit diesem interaktiv definiert, wird ja genaugenommen zuerst mit Betrachtung einer Leiche, dann mit der Erfindung des Porträts und den medialen Fortschritten immer asymmetrischer gestört. Ein Bild kann weder sprechen noch jemanden sehen, ein Bild ist zweidimensional, hat keinen Körper und wird nicht sterben, höchstens zerfallen. Wer das im Akt der Betrachtung vergisst, hat sich selbst vergessen. Die Lebensillusion, die das Bild mit wachsender Größe, Farbigkeit und Genauigkeit verbreitet, ist eine narzisstisch vampirische Kategorie; je lebendiger das Bild, desto untoter der Betrachter. Diese Geschichte haben zahlreiche Bücher seit Max Picards Rede vom „Ende des Menschengesichts“ (1929) angepeilt, aber nicht vollendet. Groebner kommt ihr am nächsten, und zwar zu einem Zeitpunkt, da die Übergabe der Lebensstaffel an Roboter vor der Tür steht. Schon taucht eine „Maschine“ hier im Buch auf, im Untertitel.
Anmerkungen:
1 Rezension von Christian Jaser über Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004, in: H-Soz-Kult, 07.06.2005, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-6107> (16.11.2015).
2 Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder, Berlin 2015.
3 Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013.
4 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Frankfurt am Main 2010.
5 Vgl. Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002 (Buchfassung der Habilitationsschrift „Vera icon und verum corpus“, Freie Universität Berlin 1995).