650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert

Kniefacz, Katharina; Nemeth, Elisabeth; Posch, Herbert; Stadler, Friedrich (Hrsg.): Universität – Forschung – Lehre. Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert. Göttingen 2015 : V&R unipress, ISBN 978-3-8471-0290-8 449 S. € 54,99

Ash, Mitchell G.; Ehmer, Josef (Hrsg.): Universität – Politik – Gesellschaft. . Göttingen 2015 : V&R unipress, ISBN 978-3-8471-0413-1 776 S. € 89,99

Grandner, Margarete; König, Thomas (Hrsg.): Reichweiten und Außensichten. Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche. Göttingen 2015 : V&R unipress, ISBN 978-3-8471-0414-8 259 S. € 39,99

Fröschl, Karl Anton; Müller, Gerd B.; Olechowski, Thomas; Schmidt-Lauber, Brigitta (Hrsg.): Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Göttingen 2015 : V&R unipress, ISBN 978-3-8471-0415-5 644 S. € 79,99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Langewiesche, Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen

Dieses vierbändige Werk, das 106 Artikel von 115 Autorinnen und Autoren umfasst, bietet „das Ergebnis langjähriger Konzeption und Diskussion im Sinne neuer Universitätsgeschichtsschreibung, die sich einem forschungsorientierten und fächerübergreifenden Zugang verpflichtet fühlt“, wie der Gesamtherausgeber schreibt. Entstanden sei „keine repräsentative und vollständige Universitätsgeschichte“, aber doch eine im „Kontrast zu herkömmlichen legitimatorischen Selbstdarstellungen“ (Band 1, S. 19, 21). Was kann damit gemeint sein? Wovon grenzt man sich ab? Das ist schwer zu erkennen. Auch die Titel der vier Bände bieten keine Hilfe. Am ehesten wird man sich einen Zugang zu dem Gesamtwerk verschaffen können, wenn man sich vergewissert, welche Themenbereiche behandelt werden.

In der jüngst erschienenen Geschichte der Universität zu Berlin, die sich nach Größe und Bedeutung der Hochschule und hinsichtlich der Untersuchungszeit als Vergleich anbietet, sind je drei Bände der „Biographie einer Institution“ und der „Praxis ihrer Disziplinen“ gewidmet.1 So werden die komplexen Umwelten und deren Bedeutung für die Entwicklung der Hochschule ebenso erfasst wie die Eigenlogik von Wissenschaft, wie sie sich in den Disziplinen und diese übergreifend entfaltet, wenngleich auch hier immer wieder Einflüsse von außen zu betrachten sind. In der Wiener Geschichte werden diese Bereiche auf alle Bände verteilt. Etliche Fächer werden in mehreren Bänden behandelt, ohne dass die Bandtitel dies zu erkennen geben. Zur Philosophie z.B. gibt es einen ausführlichen Beitrag im Band 1 und einen kurzen, der sich als Zusammenfassung lesen lässt, im Band 4. In diesen beiden Bänden finden sich auch drei Beiträge zur Rechtswissenschaft und ihrer Verbindung zu den Staatswissenschaften, während für die katholische Theologie die Bände 2 und 4, für die „Life Sciences“ und das „Vienna Biocenter“ die Bände 3 und 4 zuständig sind. Auch die Studien, die danach fragen, wie sich die Institution Universität insgesamt im Untersuchungszeitraum verändert hat und welcher Ort ihr in der „Wissensgesellschaft/Wissenschaftsgesellschaft“ zukommt, verteilen sich über mehrere Bände. Das Zitat benennt ein Kapitel mit sieben Beiträgen im Band 1, doch diesem Feld ist auch der Band 3 gewidmet. Nicht einmal die Gruß- und Geleitworte sind alle im ersten Band versammelt. Er bietet ein Autor/innen-Verzeichnis, die anderen Bände nicht. Eine hilfreiche umfängliche Zeittafel findet sich im Band 3. Es ist also nicht einfach, sich in diesem Werk zurecht zu finden. Doch sich hindurchzuarbeiten, lohnen viele der Beiträge.

Als Hauptpfeiler des Gesamtwerkes wird man Band 2 bezeichnen dürfen. Wer sich einen Überblick über die Wiener Universitätsgeschichte seit 1848 verschaffen will, sollte mit dem umfangreichen Eröffnungsbeitrag dieses Bandes über die Universität in den politischen Umbrüchen bis zur Zweiten Republik beginnen und dann den Schlussartikel „Wandel und Kontinuitäten im Übergang zur ‚Massenuniversität‘“ anschließen. Die Eingangsstudie fragt nach der „Universitätsinnenpolitik“ (S. 31), nach den lokalen, inter- und transnationalen Dimensionen der Universitätsgeschichte, und sie lässt den Regimewechseln (1848, 1918, 1934, 1938, 1945) ihr Eigengewicht, um nicht retrospektiv den Eindruck einer kontinuierlichen Wirkungslinie zu erzeugen. Stets wird präzise dargelegt, was die Umbrüche für die Personen (Dozenten und Studierende) und für die Organisation bedeuteten, wann aus der Universität Initiativen ausgingen und wo sie auf die politische und gesellschaftliche Umwelt reagierte. So wird deutlich, wie sich die stets asymmetrischen Beziehungen zwischen der Universität und der staatlichen Macht veränderten und was jeweils „Autonomie“ – immer „eine Chiffre für die reale Ordinarienherrschaft“ (S. 171) – konkret bedeutet hat. Um sich über den weiteren Verlauf der Außensteuerung von 1975 – Implantation des „Firnbergschen Universitätsmodells“ (Band 4, S. 26) – bis zum Universitätsgesetz von 2002, das die „Vollrechtsfähigkeit“ brachte und die Medizin abspaltete, zu informieren, muss man zum Band 4 wechseln. Dass dieser vorläufig letzte Eingriffsakt, der erneut dem Begriff „Autonomie“ eine veränderte Bedeutung gab, in den Beiträgen, die darauf eingehen, kontrovers beurteilt wird, kann nicht verwundern. Er kennt Gewinner und Verlierer, und die längerfristigen Folgen sind noch nicht bekannt.

In einem weiteren Hauptteil des Bandes 2 werden die Studierenden und die Gruppe der Lehrenden und Forschenden in sechs Beiträgen differenziert analysiert. Für die Studierenden werden soziale und regionale Herkunft, Sprache, Religion und Geschlecht ermittelt und die Veränderungen bis in die Gegenwart verfolgt. Die Daten werden in Tabellen und Schaubildern präsentiert. Vergleiche im deutschen Sprachraum zeigen, dass schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die unteren Mittelschichten an der Wiener Universität ungewöhnlich stark vertreten waren und in diesen Sozialkreisen insbesondere auch Juden die Universität als Aufstiegskanal nutzten. Für die Studentinnen gilt dies in gesteigertem Maße. Ende 1918 waren ca. 52 % aller an der Philosophischen Fakultät eingeschriebenen Studentinnen jüdischen Glaubens und ca. 70 % an der Medizinischen. Da viele von ihnen aus Galizien kamen, hat man in der Wiener Bevölkerung „galizisch und jüdisch gleichgesetzt“, so dass bei der Zimmersuche die Frage nach dem Herkunftsort verdecken konnte, dass man die Religion wissen wollte (S. 551). Obgleich dies bereits für die Zeit der Monarchie gilt, brachte doch die Erste Republik einen Umbruch im universitären Antisemitismus. Nun wurde die Universität Wien zur „antisemitischen Kampfzone“ (Band 3, S. 98) unter den Studierenden und auch in der Hochschullehrerschaft. Dies wird in zahlreichen Beiträgen thematisiert und im Band 3 anhand der Tageszeitungen nachgezeichnet. Die Universität wurde zum „Bürgerkriegsschauplatz“ (S. 111).

Die Hochschullehrerschaft wird ebenso differenziert untersucht, seit mit dem Thun’schen Universitätsgesetz von 1849 die Reformierung der österreichischen Universitäten eingeleitet wurde. Nun waren Berufungen aus dem Ausland erlaubt, Lehr- und Lernfreiheit wurde gewährt, die Institution des Privatdozenten geschaffen, ohne die auch in Wien der schnelle Ausbau der Universität nicht möglich gewesen wäre, die Philosophische Fakultät wurde neu gestaltet. Schon damals begann die „‚Nationalisierung‘ der Universitätslandschaft“ (S. 629). Sie zeigte sich in der Einführung der jeweiligen Landessprache im Unterricht an den Universitäten und am Bedeutungsgewinn deutschnationaler Gruppen, verbunden mit Antisemitismus. Gesetzliche Hürden gab es für jüdische Gelehrte nicht mehr, doch die vermeintliche „‚Verjudung‘ der Universitäten, vor allem in Wien und Prag, wurde zum Leitthema“ (S. 631). Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Karrierechancen für Wissenschaftler jüdischer Herkunft bereits aus der Universität heraus eingeschränkt – einige Professorencliquen spielten dabei über die Steuerung von Habilitationen und Berufungen eine wichtige Rolle, bevor die politischen Regimewechsel eingriffen. Was dies für die Zusammensetzung der Hochschullehrerschaft bedeutete, wird auch statistisch belegt. Hier sollte man in der Lektüre den Artikel „Die verletzte Autonomie“ aus Band 1 anschließen, der in einer Langzeitperspektive die Wirkungen des Antisemitismus als Glied in einer Kette von unterschiedlichen Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit aus der Universität heraus thematisiert.

Band 2 bietet neben diesen Studien eine „Portraitgalerie“ zu 25 Professoren und vier Professorinnen, an denen im Detail die Verflechtungen von Wissenschaft und Politik sichtbar werden. Ob die große Zahl von Professoren in hohen politischen Ämtern eine Wiener Besonderheit im deutschen Sprachraum war, wäre eine Vergleichsstudie wert. Die Portraits zu den Professorinnen geben einen Einblick in die schwierigen Wege, die Frauen in die Universität führten und immer noch führen. Sie werden in dieser Wiener Universitätsgeschichte eingehend analysiert, doch auch hier verteilt auf die Bände. Der Artikel „Gender-Dimensionen“ im Band 1 vermittelt einen ersten Überblick, der auch die lange vergessenen jüdischen Wissenschaftlerinnen einbezieht. Wie spät Frauen in die Erinnerungskultur der Wiener Universität Eingang fanden, zeigt der Artikel „Selbstdarstellung mit Geschichte“, ebenfalls in Band 1. Ein präziser, auch methodologisch vorzüglicher Beitrag zu den Karrierewegen von Projektleitern und -leiterinnen, die durch den österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanziert wurden, zeigt die hohe Bedeutung der Drittmittelförderungen für Wissenschaftlerinnen (Band 2). Ergänzend sollte der Artikel „Akademische Wanderlust im Wandel“ – unter diesem Titel verbirgt sich eine Analyse des Stipendienprogramms der „Rockefeller Foundation“ – im Band 3 gelesen werden. Im Band 4 schließlich werden in zwei weiteren Artikeln die „Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität“ und die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung („Modernisierung der Universität Wien?“) analysiert.

Zur „Portraitgalerie“ gehören drei Interviews, an denen biographisch nachzuvollziehen ist, wie unterschiedlich Frauen und Männer Wissenschaftsinstitutionen wahrnehmen können. Es geht um die Österreichische Akademie der Wissenschaften. Als „größte außeruniversitäre Forschungseinrichtung des Landes“2 nimmt sie eine ganze andere Machtposition in der österreichischen Wissenschaftslandschaft ein als die Akademien in Deutschland. In dem Interview mit dem Biochemiker Hans Tuppy wird sie als „Trägerinstitution von exzellenten Forschungsinstitutionen“ (S. 380) gewürdigt. Tuppy verkörpert als Multifunktionär die Verflechtung von Wissenschaft und Staat. Er war zeitweise Rektor der Universität Wien, Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz und des Universitätsrates der Universität für Bodenkultur Wien, Präsident des FWF und der Akademie sowie Bundesminister für Wissenschaft und Forschung.3 Seine Fachkollegin, die Biochemikerin Renée Schroeder, war 2003, in ihrem „annus mirabilis“ (S. 369), nachdem sie unter anderem den Wittgenstein-Preis (vergleichbar dem deutschen Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis) erhalten hatte, in die Akademie aufgenommen worden. 2012 trat sie wieder aus. Die Diskussionen und Entscheidungen in ihr empfand sie als zu sehr auf Macht bezogen, zu intransparent und zu stark vom Einfluss der CV-Mitglieder (Österreichischer Cartellverband) bestimmt. Eine andere Wittgenstein-Preisträgerin, die Soziolinguistin Ruth Wodak, wurde trotz dieser hohen Ehrung, über die eine international besetzte Jury entscheidet, nicht in die Akademie gewählt, wohl aber dort mit ihrem Preisgeld als Forschungsprofessorin aufgenommen. Sie hatte die Akademie als Fluchtort vor dem „Neid im universitären Umfeld“ gesehen. Seit sie den Preis erhalten hatte, haben, so berichtet sie, Kollegen „aufgehört mit mir zu reden“ (S. 360). 2002 lehnte dann jedoch die zuständige Klasse der Akademie es ab, ihren Forschungsschwerpunkt zu verlängern. Sie empfand dies als die Endstation eines „großen Mobbings“, in dem die „CV-Brigade“ federführend gewesen sei (S. 361). Ein Ruf an die Universität Lancaster 2004 brachte ihr „eine große Befreiung“ (S. 362). Sie blieb aber der Universität Wien verbunden.

Es ehrt die Verantwortlichen für diese Universitätsgeschichte, dass sie solche Einblicke in das Innenleben der österreichischen Wissenschaftslandschaft ermöglicht. Man wird generell sagen dürften, dass die Autorinnen und Autoren durchweg mit kritischem Blick die Institution und ihre Akteure betrachten. Allerdings haben die langjährigen Diskussionen, von denen der Gesamtherausgeber berichtet, nicht verhindert, dass es nicht wenige konträre Einschätzungen gibt, ohne dass dies in den betreffenden Beiträgen thematisiert würde. So heißt es in dem Artikel über die Philosophische Fakultät um 1900, offener Antisemitismus sei im Professorenkollegium nicht „salonfähig“ gewesen (Band 1, S. 143), während an anderer Stelle für diese Zeit von einer „gläsernen Decke“ für jüdische Wissenschaftler gesprochen und zustimmend die Meinung eines Zeitgenossen zitiert wird, der von „unsichtbaren Ghettomauern“ sprach (Band 2, S. 631). Auch die Einschätzung, dass Ende des 19. Jahrhunderts in der Philosophen Fakultät über die Leistungen einzelner Fachkoryphäen hinaus „wenig Raum für Neuerung und Entwicklung“ vorhanden gewesen sei (Band 1, S. 147), wird von etlichen Fachgeschichten nicht gedeckt. Wie immer man die „spezifische Ausrichtung der Wiener Kunstgeschichte“ mit ihrer Konzentration auf „Quellenschriften und Werkanalyse“ beurteilen mag (Band 4, S. 127), sie bot eine auf bestimmte Berufsfelder bezogene Ausbildung, die wohl doch erfolgreich war. Im Fach Germanistik, so ist zu lesen, „beherrschten“ Wilhelm Scherers Wiener Schüler „ab den 1870er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg“ die „Lehrstühle im deutschsprachigen Raum“ (Band 4, S. 298), und auch an der Neuorientierung des Fachs zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei die Universität Wien beteiligt gewesen. In der Philosophie schließlich, als letztes Beispiel, setzte 1895 mit der Berufung Ernst Machs eine Entwicklung ein, die zum Logischen Empirismus und in den Wiener Kreis führte. Und mit der Berufung Ernst Jodls 1896 auf eine Philosophie-Lehrkanzel wurde die Wiener Volksbildung verstärkt (Band 1, S.89), deren erfolgreiches Wirken in einem eigenen Beitrag (Band 1, S. 293–316) vorgestellt wird. Gänzlich disparat wird das Etikett Humboldtsche Universität verwendet. Da ist zum einen von der „Humboldt’schen Idylle einer voll autonomen Forschung und Lehre“ (Band 1, S. 34, ähnlich S. 133) die Rede. Doch andererseits wird zu Recht konstatiert, dass im Umfeld der Thun’schen Reformen der Name Humboldt in den Quellen nicht auftaucht und sie „eher ein Gemisch aus Übernahmen deutscher Strukturen und einer Modifizierung derselben nach österreichischem Modus“ waren (Band 2, S. 55). Wie verwirrend „Humboldt“ verwendet wird, verdeutlicht eine innovative Studie, welche die Universität, wie sie im 19. Jahrhundert entsteht, im Ineinander von „Autonomie und Ökonomie“ verankert sieht. Als Bindeglied identifiziert sie die Kollegienhonorare, die als „ökonomisch fundiertes Anreiz- und Konkurrenzsystem“ die neue „Lehr- und Lernfreiheit“ ermöglichen sollten (Band 1, S. 232). Doch auch dieser Beitrag, der die Reformierung der österreichischen Universitäten seit 1849 am „Vorbild der aufklärerischen Universität Göttingen“ – „ein ökonomisch ausgerichtetes Autonomiemodell“ – orientiert sieht (S. 239), hält daran fest, das deutsche Universitätsmodell, das sich im 19. Jahrhundert föderativ-dezentral ohne Berliner Blaupause entwickelt hatte, als das Humboldtsche zu benennen. So wird das alte Etikett verfestigt, auch wenn dagegen angeschrieben wird.

Der zuletzt genannte, höchst anregende Beitrag leitet im Band 1 den Teil „Wissensgesellschaft/Wissenschaftsgesellschaft“ ein. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum der Einführungsbeitrag zu Band 3 („Figurationen der Wissenschaft und Universität. Annäherung an die Frage: Welche Bedeutung hat die Universität Wien?“) davon keine Notiz nimmt, wenn er fordert, die Universitätsgeschichtsschreibung möge endlich ihre Abkoppelung von der Wissensgeschichte aufgeben. Heute sei zwar die frühere Apologetik vorbei, doch bislang stehe weiterhin die Frage im Zentrum, wie sich die Institution Universität immanent entwickelt und wie sie aus der Gesellschaft beeinflusst werde. „Die komplementäre Sicht der Dinge – jener der Bedeutung einer Universität für die Gesellschaft – fehlt jedoch weitgehend.“ (Band 3, S. 11) Der Autor und Mitherausgeber definiert deshalb zunächst, was unter Universität und unter Wissenschaft zu verstehen sei – im Band 3! Ohne Rückgriff auf die anderen Bände –, um eine Forschungskonzeption zu entwerfen, von der „mehr zu erwarten ist als nur die apologetische oder kritische Binnensicht“ (S. 19). „Heureka!“ möchte man ausrufen und sich voller Erwartung diesem Band zuwenden. Er bietet lesenswerte Aufsätze, doch eine neue wissen(schafts)geschichtliche Universitätsgeschichte zeichnet sich nicht ab. Es geht um die Universität Wien in „Textbildern“, um das Stipendienprogramm der „Rockefeller Foundation“ und um Presseberichte über die antisemitischen Kämpfe – beides wurde oben schon erwähnt – und um zwei fächerübergreifende Forschungsbereiche (Balkanforschung und den Campus „Vienna Biocenter“). Dass die vier Autorinnen und Autoren dieser Beiträge das Programm, das in der Band-Einleitung dargelegt wird, nicht bedienen, liegt nicht an ihnen.

Es wäre unfair, mit diesen kritischen Bemerkungen zu einem der vier Bände die Besprechung zu beenden. Diese Geschichte der Universität Wien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ist ungewöhnlich aufgebaut. Es gibt keine Konzeption, der das Gesamtwerk folgt. Die Einleitung zu Band 1 nennt zwar die Wissenschaft „ein Funktionssystem der modernen Gesellschaft“ (S. 27), doch daraus wird keine Gliederung entwickelt, die davon ausgeht, dass „Wissenschaft“ als Handlungsfeld nicht nur in Universitäten organisiert wird und diese als eine Institution ausweist, in der unterschiedliche Interessen und Wertvorstellungen aufeinander treffen, die jeweils eigenen Rationalitätskriterien folgen. Das alles macht diese Universitätsgeschichte durchaus sichtbar, wenn etwa die wirkungsreiche außeruniversitäre Psychologie im „roten Wien“ untersucht wird. Doch daraus wird kein Konzept entwickelt, das den Aufbau des Gesamtwerkes ordnet. Vielleicht charakterisiert eine Formulierung, die im Titel des Beitrags zur Physik gewählt wurde, auch das Gesamtwerk: „eine kaleidoskopische Annäherung“ (Band 1, S. 149).

Anmerkungen:
1 Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden. 6 Bände, Berlin 2010–2012.
2 Homepage der Akademie: <http://www.oeaw.ac.at/die-oeaw/die-oesterreichische-akademie-der-wissenschaften/geschichte-der-oeaw/> (21.11.2015).
3 Die Angaben erfolgen nach dem Eintrag zu Tuppy in Wikipedia. Auf ihn wird in dem Interviewartikel verwiesen, so dass man diese Angaben als zuverlässig ansehen darf; <https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Tuppy> (30.11.2015).

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