In ihrer Habilitationsschrift am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universitaet Marburg, die nun auch gedruckt vorliegt, moechte Marita Metz-Becker "die Kulturgeschichte der Medizin an der Wende zum 19. Jahrhundert in ihrer Auswirkung auf den Frauenkoerper in den Blick nehmen" (S. 317). Sie begreift ihre Arbeit als "regional begrenzte Mikroanalyse mit der zentralen Frage nach den im fruehen 19. Jahrhundert einsetzenden Medikalisierungsprozessen schwangerer Frauen" (S. 13) und will "das kulturelle Phaenomen Accouchiranstalt vorrangig in seiner Bedeutung fuer die in ihr behandelten Frauen [...] dechiffrieren".
Im Zentrum des Bandes steht die Accouchiranstalt in Marburg, die 1792 gegruendet wurde als Entbindungshaus fuer arme, meist unverheiratete Schwangere. Auf einer Quellenbasis, die im wesentlichen aus Bestaenden des Staatsarchivs Marburg besteht, entwirft Metz-Becker tatsaechlich ein weitlaeufiges Netz von Beziehungen, in die die Accouchiranstalt und jene, die sie mehr oder weniger freiwillig aufsuchten, verstrickt waren: In den Blick kommen die ambivalenten Beziehungen zwischen den BewohnerInnen Marburgs, der Klinik und denen, die in der Accouchiranstalt mehr oder weniger freiwillig gebaren. Anhand der Gruendungsgeschichte des Gebaerhauses wird die Angst vieler Frauen, sich in die 'Obsorge' der um ihre Legitimitaet kaempfenden medizinischen Zunft zu begeben, deutlich: Erst der dritte Versuch der Gruendung klappte, zwei vorher scheiterten unter anderem an mangelnder Akzeptanz jener Frauen, die die Klinik aufnehmen sollte. Nachvollziehbar werden auch Aspekte der Konkurrenz innerhalb des sich etablierenden Berufsstandes: Die Streiterei zwischen der ebenfalls um ihre 'Wissenschaftlichkeit' bemuehten Marburger Anatomie und dem Gebaerhaus um die Koerper jener, die in der Accouchiranstalt gestorben waren, zog sich ueber Jahrzehnte.
Was die Medikalisierung der weiblichen Koerper bedeuten konnte, konkretisiert sich durch ausfuehrliche Zitate aus den Krankengeschichten, die die Mediziner verfassten. Von spitzen Werkzeugen und vielerlei unterschiedlichen Zangen, von Hirnloeffeln, Dolchen, Kopfziehern und Haken ist in den Texten der fruehen "Gynaekologen", wie der ueberregional bekannten Dynastie der Steins, die Rede. Wiedergegeben werden die Aufzeichnungen von Johann David Busch, Hebammenlehrer sowie Lehrer fuer Entbindungskunst und Frauenheilkunde an der Philipps-Universitaet Marburg und im Nebenberuf Direktor der "Vieharzneischule", der widerstrebende und veraengstigte Frauen dazu ueberredete, einen Kaiserschnitt ohne Narkose vornehmen zu lassen, der beim damaligen Stand der Medizin nahezu immer mit dem Tod der Patientin endete. Genau beschrieben wird, wie die 'Erfinder' der Gynaekologie mit ihren Werkzeugen Foeten aus den Koerpern von Hochschwangeren zerrten, weil die gerade entstehende Medizin und die, die sie praktizierten, ihre Aktivitaet beweisen mussten und nicht warten konnten, bis Wehen den Saeugling zwar etwas spaeter und ohne die mehr oder weniger ausgefeilten, gerade erst erfundenen Instrumente, aber unzerstueckelt ins Leben befoerderten. Die 'Pioniere' in dem der aufklaererischen Wissenschaft bislang fremden und befremdlichen weiblichen Koerper waren sichtlich auf die von ihnen erfundenen Geraetschaften so stolz, dass sie, sobald sie eine neue Variante entwickelt hatten, diese in Entdeckermanier mit ihrem Namen belegten. Die Medikalisierung machte aus Schwangerschaft und Geburt, bisher integrale Bestandteile menschlichen Lebens, eingebettet in die Alltagswelten der sozialen Netze, eine "gesundheitsgemaesse Krankheit" (S. 59) und damit ein Betaetigungsfeld fuer die (maennlichen) Mediziner-Experten, die den bisher "zustaendigen" Hebammen ihre Kompetenz (historisch betrachtet erfolgreich) streitig machten und sie marginalisierten.
Sichtbar wird durch die Arbeit Metz-Beckers, dass die Entwicklung der neuen Medizin auf den toten oder lebendigen Koerpern sozial Stigmatisierter von statten ging. Der Versuch der Autorin, einen strengen Gegensatz zwischen 'maennlicher' medizinischer Wissenschaft und 'weiblichen' Objekten zu konstruieren, ueberzeugt hingegen nicht, laesst sich aus den von ihr zitierten Texten doch schliessen, dass auch 'maennliche' Koerper zu derartigen Objekten wurden: die Koerper von Strafgefangenen und Selbstmoerdern beispielsweise; dass andererseits Frauen aus hoeheren sozialen Schichten ein Aufenthalt in einer solchen 'Klinik' nie zugemutet worden waere. Wenn also die Subjekt-Objekt-Relation der sich etablierenden Medizin nicht so einfach mit maennlich-weiblich parallelisiert werden kann, wie Metz-Becker nahelegt, so zeigt sie doch eindrucksvoll, wie die Grenze zwischen lebenden und unbelebten Objekt dem grenzenlosen Forscherdrang verschwamm. Die Mediziner des fruehen 19. Jahrhunderts redeten von "lebenden Fantomen", an denen die akademischen Groessen ihr Koennen demonstrierten und die Studenten ihre ersten Erkundungen vornahmen. Daneben gab es auch 'richtige' Fantome: praeparierte Beckenknochen mit einer Gebaermutter aus Leder, ein mit Leder ueberzogener Kopf eines toten Foetus, um die zukuenftigen Mediziner moeglichst anschaulich ausbilden zu koennen.
Metz-Becker identifiziert gerade diesen Ausbildungszweck als zentrale Funktion des Gebaerhauses: Die Unterstuetzung der unehelich Schwangeren und ihres Nachwuchses, die Bekaempfung des Kindsmordes, der im fruehen 19. Jahrhundert Ziel aufklaererischer Paedagogik wurde, wurden zur Legitimation der Accouchiranstalt zwar ebenfalls immer wieder genannt, die Praxis konterkarierte aber die oeffentlichen Appelle und Bekundungen.
Die Arbeit Metz-Beckers zeichnet besonders aus, dass der Autorin ueber ihr eigentliches Thema hinaus auf der Basis von Gerichtsakten, die Prozessen wegen Kindsmords (im heutigen Wortsinn) entstammten, einige spannende exemplarische Rekonstruktionen der Lebensumstaende von Frauen gelingen, die im fruehen 19. Jahrhundert in ihrem Untersuchungsraum, Hessen um Marburg, Kassel und Giessen, den sozialen Unterschichten angehoerten.
Gerade anhand dieser Rekonstruktionsversuche wird aber auch eine Schwaeche der Arbeit deutlich: Marita Metz-Becker geht nicht immer sorgfaeltig mit ihren Quellen um, fragt nicht mit der noetigen Genauigkeit nach ihren Entstehungsbedingungen und den daraus folgenden Konsequenzen fuer die historische Interpretation, sie entwickelt ihre Fragestellung nicht ausreichend. Metz-Becker beginnt z. B. das entsprechende Kapitel mit Hinweisen auf die Diskurse ueber Kindsmoerderinnen, die mithalfen, die "Sonderpathologie des Weibes" (Claudia Honegger) zu begruenden: Konstruiert wurde eine weibliche Unzurechnungsfaehigkeit nach der Geburt, Kindsmord wurde daher mit einer geringeren Strafe belegt als "Verwandtenmord". Es stellt sich allerdings dann heraus, dass nahezu alle "Kindsmordakten", auf die sich die Autorin stuetzt, eigentlich in Prozessen wegen "Verwandtenmordes" produziert wurden. Der Unterschied zwischen "Kindsmord" und "Verwandtenmord" lag aber in dieser 'weiblichen' Unzurechnungsfaehigkeit: Wenn zwischen "Kindsmord" und Geburt ein zu langer Zeitraum lag, wurde aus dem "Kinds-" ein mit haerterer Strafe bedrohter 'normaler' "Verwandtenmord". Offen bleibt die Frage, welche Beweiskraft und welchen Zusammenhang Quellenmaterial und generelle Hinweise zum Diskurs haben.
Wie schon erwaehnt versteht Metz-Becker ihre Arbeit als "Mikroanalyse": Sie moechte historische Konkretheit durch "dichte Beschreibung" nach Clifford Geertz herstellen. Es mutet dann etwas seltsam an, wenn sie zwar ausfuehrlich aus den Marburger Akten zitiert, aber dazwischen, ohne darauf hinzuweisen, Literatur zu den von ihr angesprochenen Themen anfuehrt, die sich meist weder auf die Marburger Gegend, noch auf Hessen, noch auf das fruehe 19. Jahrhundert beziehen. Erst bei genauer Durchsicht der Literatur- und Quellenverweise stellt die Leserin fest, dass es sich keinesfalls um Ergebnisse der Forschung am konkreten Ort, sondern um Literaturzitate handelt. Es scheint mir nicht zulaessig, Luecken im Quellenkorpus so zu schliessen. Das Fragmentarische sollte als solches erkennbar bleiben und nicht mit generellen Aussagen ueber die Fruehe Neuzeit, die "weibliche Ehre" usw. oberflaechlich gefuellt, "Allwissenheit" hergestellt werden, die es nicht gibt oder eigene Vorurteile und Erwartungshaltungen in historisch-wissenschaftlicher Trope versteckt: Es ist zum Beispiel nicht aus sich heraus evident, dass Geburten, die von Hebammen begleitet werden, komplikationsloser verlaufen als solche mit maennlichen Geburtshelfern, das bedarf einer naeheren, die Hebammen nicht idealisierenden Erklaerung. Es ist auch nicht hilfreich, hoehere Sterblichkeitsraten in Gebaerhaeusern des fruehen 19. Jahrhunderts mit Zahlen aus dem Schweizer Loetschenthal zu belegen, die in einer Publikation aus 1969 angefuehrt werden, von denen aber unklar ist, von wann sie stammen. Dass es Kindsmord tatsaechlich geben kann, dass also die dann offensichtlich als "anthropologische Konstante" gedachte Mutterliebe unter Umstaenden zu Kindsmord fuehren kann, muss nicht durch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse aus suedamerikanischen Barrios aus der zweiten Haelfte des 20. Jahrhunderts belegt werden. Und ich bin mir nicht sicher, ob ein Zitat des oesterreichischen Gegenwartsschriftstellers Franz Innerhofer (S. 182) etwas ueber die Stigmatisierung unehelich Schwangerer im Hessen des fruehen 19. Jahrhunderts aussagen kann. Solche Vergleiche in eineinhalb Saetzen setzen verschiedene, komplexe soziale Zustaende phaenomenologisch gleich und geben ihnen eher den Anschein des Universellen, als dass sie zur Erklaerung konkreter sozialer Zusammenhaenge beitragen.
Dass es nicht immer ueberzeugend gelungen ist, den Anspruch, eine "Mikroanalyse" zu erstellen, auch einzuloesen, zeigt sich fuer mich am deutlichsten an der von Metz-Becker breit diskutierten Frage der "weiblichen Ehre" und ob diese durch die Geburt unehelicher Kinder beschaedigt worden sei. Die Quellen sprechen dazu keine eindeutige Sprache: Immer wieder wird Frauen mit einem oder mehreren unehelichen Kindern von den lokalen Behoerden ein guter Leumund bescheinigt (S. 179f). Es heisst auch, dass es - jedenfalls in den Augen der Dienstherrschaften - "eher eine Schande [gewesen sei], als arbeitsscheu zu gelten, denn ein uneheliches Kind zu haben" (S. 172). Andererseits durften DienstgeberInnen ihre Maegde entlassen, wenn diese ledig schwanger wurden. Metz-Becker scheint der Annahme zuzuneigen, dass uneheliche Schwangerschaften generell ein Grund fuer soziale Stigmatisierung waren, ohne auf die Widersprueche in den Quellen naeher einzugehen. Damit vergibt sie aus meiner Sicht die Chance, Wertesystemen in den Gesellschaften ihres Untersuchungsraumes naeher zu kommen. Koennte es nicht sein, dass nicht nur der Personenstand der Betroffenen, sondern auch andere Parameter wie soziale Position im Ort, die Person des mutmasslichen Schwaengerers etc. fuer Stigmatisierung oder Akzeptanz von Verhalten ausschlaggebend waren? Metz-Becker erwaehnt zwar z. B. auch oefter kirchliche Behoerden und Wuerdentraeger, die Konfession ist fuer sie aber kein Thema. Macht es wirklich gar keinen Unterschied, ja, ist es nicht einmal erwaehnenswert, ob ein Ort katholisch oder protestantisch gepraegt war? Offen muss bleiben, ob eine naehere Betrachtung zu klaren Ergebnissen fuehren wuerde, gestellt werden muss die Frage aber auf jeden Fall. Und Ergebnis einer Mikroanalyse koennte z. B. auch sein, dass generelle Aussagen nicht zu treffen sind, sondern dass die jeweils spezifischen Umstaende ausschlaggebend waren.
Trotz mancher Maengel, die angesichts der Fuelle des verarbeiteten Materials, der Breite der angesprochenen Themen, die die Arbeit manchmal etwas unkonzentriert scheinen lassen, vielleicht aber gar nicht vermeidbar sind, hat Marita Metz-Becker einleuchtend gezeigt, was denn die Medikalisierung der Schwangeren konkret bedeuten konnte. Lebenswelten von Frauen aus den Unterschichten im Hessen des fruehen 19. Jahrhunderts werden auf Basis der Quellenbestaende plausibel rekonstruiert. Das Buch ist zudem spannend zu lesen, wenngleich die plastische Schilderung der Grausamkeiten der sich etablierenden Medizin, Hinweis auf die "Januskoepfigkeit der Aufklaerung", wie Metz-Becker zutreffend formuliert, durchaus unangenehm, wenn auch eindrucksvoll ist. Eine Kritik kann man vor allem dem Verlag aber nicht ersparen: Abgesehen von der etwas eigenwilligen Interpunktion haette ich mir ein etwas aufmerksameres Lektorat gewuenscht, das unmotivierte Wiederholungen, zu langatmige Zitate und kleinere Ungereimtheiten aus dem Text eliminiert haette: Die Arbeit von Marita Metz-Becker haette derartige Aufmerksamkeit jedenfalls verdient.